Kapitel 28

Alice saß in ihren Kursen, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder umher. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Eine ihrer Studentinnen erläuterte gerade die Idee für ihre Dissertation und rezitierte eine feministische Lehrbuchtheorie zu Aschenputtel. Einen Moment lang fühlte sich Alice orientierungslos, als befände sie sich wieder in Heaths Büro und versuche, Theorien darüber aufzustellen, wie jemand eine junge Frau entführt und getötet hatte. Seufzend holte sie Luft, dann bemerkte sie, dass ihre Studentin verstummt war und auf eine Reaktion wartete.

»Gute Arbeit«, lobte sie automatisch. »Du bist auf dem richtigen Weg. Jetzt möchte ich, dass du die Theorie auf verschiedene Geschichten anwendest und um deine eigenen Ideen und Ansichten ergänzt. Ich möchte, dass du dich dabei nicht auf ein Lehrbuch beziehst. Denk einfach ausgiebig darüber nach, wo sich die Theorie einsetzen lässt und wo nicht.«

Das Mädchen nickte und sammelte seine Unterlagen ein. Alice presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich würde die Studentin ins Internet gehen, sobald sie den Raum verließ, Websites nach den Ideen anderer durchforsten und überlegen, wie sie diese benutzen konnte.

Alice verspürte einen plötzlichen Schmerz in der Stirn und kniff sich mit Zeigefinger und Daumen in den Nasenrücken. Sie versuchte, an eine Zeit zurückzudenken, zu der sie diese Arbeit noch gemocht hatte, zu der sie es genossen hatte, ihr Wissen über die von ihr geliebten Geschichten mit anderen zu teilen. Und sie hatte sie geliebt, seit sie sich zusammen mit ihrer Mutter daran erfreut hatte. Alice runzelte die Stirn. Der Gedanke half nicht.

Klammerte sie sich deshalb so sehr an diese Geschichten? Weil sie einen Weg zurück in ihre Kindheit darstellten, in eine Zeit, die besser gewesen war? Aber die Wahrheit lautete: Es gab keine Happy Ends. Je mehr Zeit verstrich, desto einfacher verflog alles; das war ihrer Mutter widerfahren. Alles verließ sie Wort für Wort, verraten von ihrem eigenen Geist. Und dabei hatte es keine böse Hexe, keinen Wolf, keinen Drachen gegeben. Jedenfalls bis jetzt nicht.

Alice schüttelte sich. Sie konnte nicht länger darüber nachgrübeln. Es war beinahe Zeit für den nächsten Kurs, und sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren und eine gute Lehrerin sein. Sie musste ihre Studenten weiter dazu ermutigen, diese Geschichten selbst zu erkunden und eigene Theorien zu entwickeln; sie musste sie dazu bringen, zu verstehen.

Dann dachte Alice daran, was sie zu ihrer letzten Studentin gesagt hatte, um sie genau dazu zu bewegen. Da fiel es ihr wieder ein, und sie erkannte, wie blind sie gewesen war.