Kapitel 26

Der alte graue Stein der Burg verfinsterte sich im schwindenden Tageslicht zu schwarz, als Cate in den Parkbereich einbog. Über den rissigen Asphalt pulsierte Blaulicht, und als sie die Tür öffnete, hörte sie Stimmen, leise und gehetzt. Das Geräusch schien unvereinbar mit dem friedlichen, stillen Himmel und der uralten Präsenz des Ortes. Die Burgmauern bildeten eine zerklüftete Linie, die von den emporragenden Fingern der verfallenen Türme gekrönt wurde. Die Luft erwies sich als kühl, aber unerwartet feucht, als könnte in der frühlingshaften Abenddämmerung jeden Moment ein Schauer losbrechen.

Cate schaute zurück zur Zufahrtsstraße. Auf der anderen Seite der Manygates Lane reihten sich dem Burggelände zugewandte Häuser aneinander. Hinter den meisten Fenstern herrschte Dunkelheit, und es ließ sich unmöglich erkennen, wer das Geschehen vielleicht beobachtete. Nahe der Stelle, an der sie stand, führte ein Weg zum Besucherzentrum.

Cate erklomm die kurze Böschung, die den Parkplatz vom Burggelände trennte. Alice folgte ihr. Gestalten wuselten umher, riegelten den Ort flott ab, und Cate erkannte Dan, der ihr zum Gruß zunickte, bevor er Alice erblickte und die Stirn runzelte. Er sah Cate an.

»Was geht hier vor sich?«, fragte sie.

Er deutete aufs Gelände. »Sie ist da drüben«, antwortete er. »Tot. War sie schon, als wir eingetroffen sind.«

»Was? Sie haben doch gesagt, es ginge ihr gut.«

»Nein, ich habe gesagt, sie sei noch am Leben. Das wurde uns mitgeteilt, als das hier gemeldet wurde, aber als wir eingetroffen sind, war sie bereits tot. Der Arzt hat es bestätigt.« Seine Stimme senkte sich eine Oktave. »Sieht so aus, als wäre den Leuten, die sie gefunden haben, ein Irrtum unterlaufen. Allerdings hat sie lebendig ausgesehen. Ich bezweifle, dass sie schon lange tot ist.«

»Großer Gott.« Cate starrte zur Burg.

»Das wird Heath nicht gefallen«, raunte Dan mit leiser Stimme und einem Blick zu Alice. »Hat er nicht gesagt …«

»Ich weiß, was er gesagt hat.« Cate schluckte. »Ich übernehme die volle Verantwortung. Ich dachte …«

»Corbin.« Die heisere, müde klingende Stimme schnitt ihr das Wort ab. Heath kam auf sie zu. »Dan – sorgen Sie dafür, dass hier alles ordentlich abgeriegelt wird, bevor der verfluchte Medienzirkus eintrudelt.« Er schaute zum Besucherzentrum, dann zurück zu Cate. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, bevor er über die Schulter sagte: »Bleiben Sie hier. Sie auch, wenn Sie so nett wären, Ms Hyland.«

Cate stand bei Alice, als der Abend dunkler wurde und ein gelblicher Mond über den Burgmauern aufging. Alice sprach kein Wort und beobachtete nur alles. Cate fragte sich, wie die Dozentin so ruhig bleiben konnte, aber vielleicht verhielt es sich bei ihr genau so wie bei ihr selbst: äußerlich gefasst, während in ihr die Fragen brannten. Sie standen den zerbröckelten Überresten der Ringmauer gegenüber, jenen erodierten Türmen, die den Schauplatz umrahmten. Vor ihnen erstreckte sich das Gelände wellenförmig über längst zugeschüttete Bauwerke. Cate wusste, dass es näher bei der eigentlichen Burg steil zu einem ausgetrockneten Graben abfiel. Im Augenblick konnte sie die Ruine nur anhand des Scheins von Strahlern ausmachen. Ungeachtet der plötzlichen Helligkeit nahm sich das kurz geschnittene Gras ringsum beinah schwarz aus. Tatorttechniker kamen und gingen, und ihre Kapuzengestalten verwandelten sich zwischen den Schatten in Geister.

Es gab noch ein weiteres Licht, irgendwo höher und weiter entfernt, und es strahlte fast so über den Himmel, als schwebe es. Cate wusste, dass es von der Holzplattform stammen musste, die an der einst höchsten Stelle der Burg errichtet worden war.

Sie hatte diesen Ort mit ihren Eltern besucht, als sie jung war, und gelegentlich verirrte sie sich immer noch hierher, wenn sie die entsprechende Stimmung überkam. Wenngleich von der ursprünglichen Festung kaum noch etwas übrig war, standen die Reste auf einer mächtigen Erhebung – dem Turmhügel. Der Hügel war vermutlich mit Erde aus dem Burggraben angelegt worden. In den letzten Jahren hatte man jene Holzplattform gebaut, damit Touristen hinaufgehen und die Aussicht genießen konnten, ohne dafür über raue Steine klettern zu müssen und dabei noch unter ihren Füßen Geschichte zu zerstören.

Auf den Feldern rings um das Gelände waren Schlachten geschlagen und verloren worden. Irgendwo befand sich ein Gedenkstein, der an den Tod von Richard von York bei der Schlacht von Wakefield erinnerte. Im Augenblick jedoch konnte man nur ein Feld erkennen.

Jemand schritt auf sie zu. Heath bewegte sich mit leisen Schritten über das Gras, doch seine Gegenwart gebot dennoch Aufmerksamkeit. »Ms Hyland«, sagte der leitende Ermittler. »Kommen Sie mit.«

Mit Alice an der Seite marschierte er davon, und Cate folgte ihnen. Sie blieb dicht bei ihnen, um alles zu hören, was gesagt wurde; doch er sprach kein Wort, verriet nichts. Sie hielten nur einmal an, um Schutzkleidung anzulegen, bevor er die Dozentin zum Burggraben führte. Allmählich konnte Cate Einzelheiten ausmachen. Ein Stück entfernt befand sich eine der neueren Holzbauten in Form einer Brücke über die uralten Verteidigungsanlagen – allerdings hielten sie an, bevor sie die Konstruktion erreichten. Sie standen jetzt in der Nähe des Schimmers, den Cate zuvor gesehen hatte und aus dem sich nun mehrere einzelne Lichtpunkte herauskristallisierten. Dort unten bewegten sich Gestalten und gerieten dabei abwechselnd in Helligkeit und Schatten.

Heath trat einen Schritt auf die Böschung zu. »Einen Moment«, sagte er, wobei er sich neuerlich an Alice wandte; mit Cate hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Halb ging, halb rutschte er von ihnen weg und verschwand mit einem gedämpften Fluch in dem Graben. Alice schaute Cate an, dann folgte sie ihm und ergriff Heaths Hand, als er zurückkam, um ihr hinunterzuhelfen. Cate eilte hinterher. Heath marschierte bereits weiter den Burggraben entlang und nahm Alice mit.

Die junge Frau lag ein kurzes Stück entfernt, umgeben von weiteren Lichtern und den hellen Overalls der Tatorttechniker, die zurücktraten, als Heath auftauchte. Der Ermittlungsleiter und Alice blieben stehen und schauten vor sich, ohne zu sprechen. Cate spähte zwischen ihnen hindurch und erblickte die Leiche.

Sie lag mit dem Gesicht nach oben. Die ausdruckslosen Augen starrten in den leeren Himmel. Man hatte sie mit einem großen Mantel bedeckt, aber ihr Kleid lugte darunter hervor. Der weiße Stoff der üppigen Röcke schimmerte im Licht der Scheinwerfer. Sie sah ein wenig älter als Chrissie Farrell und Teresa King aus; ihr Gesicht war blass, die Züge wirkten ruhig, fast gelassen. Zuerst dachte Cate, ihr dunkelblondes Haar weise gefärbte Strähnchen auf, dann erkannte sie, dass es sich um Schlammschlieren handelte.

Heath sagte mit leiser Stimme etwas, und ein Tatorttechniker trat vor, um den Mantel wegzunehmen. Darunter war nun zu erkennen, dass auch das Kleid der jungen Frau vor Schlamm strotzte. Es sah aus, als wäre sie den Hang heruntergerollt worden. Wer immer sie hier abgelegt hatte, dürfte Mühe gehabt haben, sie zu transportieren. Cate schaute auf die Böschung neben der Leiche und bemerkte, dass der Bereich frei gehalten wurde; wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb sie weiter vorne im Burggraben heruntergestiegen waren. So vermieden sie, etwaige Fußabdrücke zu zertrampeln, die der Mörder hinterlassen haben mochte.

Da war noch etwas. Wie das Mädchen auf dem Boden lag … es schien nicht richtig zu sein, nicht organisiert genug. Ein Arm ruhte abgespreizt an der Seite, der andere lag unter dem Körper eingeklemmt. Einen Moment lang fragte sich Cate, ob dieser Todesfall überhaupt etwas mit den anderen zu tun hatte oder etwas völlig anderes darstellte; dann erst sah sie, was noch unter dem Mantel zum Vorschein gekommen war. Eine weiße Rose war auf den Körper der jungen Frau gelegt worden, und vor Cates geistigem Auge stieg das Bild auf, wie die Hände des Mädchens darauflagen, um die Blume im Tod festzuhalten. War sie ursprünglich so zurückgelassen worden? Sie war von jemandem entdeckt worden, der vermutet hatte, sie lebe noch; vielleicht hatte derjenige das getan und die Inszenierung der Leiche bei dem Versuch durcheinandergebracht, sie wiederzubeleben.

Cate kniff die Augen zusammen und erblickte ein schmales, um das Kleid der jungen Frau gewickeltes Band, das den Stoff eng an den Körper presste. Zuerst hielt sie es für einen Gürtel, doch dafür schien es zu dünn zu sein, beinah wie eine Schnur; dann erkannte sie, dass es sich um eine grüne, drahtartige Ranke handelte, von der Dornen abstanden.

Auch neben dem Kopf lag etwas. Cate bewegte sich langsam ein Stück vor; nein, es befand sich nicht neben dem Kopf, es war daran befestigt. Es handelte sich um einen kleinen Hut, wie ihn vielleicht ein Kind aus Papier basteln würde. In den Schatten hätte sie ihn beinah übersehen, weil er vollkommen schwarz war.

Heath rührte sich und richtete einen verkniffenen Blick auf Cate, als hätte er sie gerade erst bemerkt. »Wachtmeister Corbin«, sagte er. »Sie werden genügen. Ich will Sie wieder da oben haben. Die Leute, die das Opfer gefunden haben, warten dort, begleiten Sie die beiden von hier weg, ja?«

Cate murmelte eine Zustimmung. Sie spürte, wie die Kälte der Nacht sie erfasste, als sie der Szene – und Alice – den Rücken zukehrte. Warum behielt er ihre Expertin hier, während er Cate wegschickte? Aber es gab Arbeit zu erledigen, und dafür wurde sie gebraucht; über etwas anderes durfte sie vorerst nicht nachdenken. Sie konzentrierte sich auf ihre Schritte und erklomm in der Dunkelheit die steile Böschung des Burggrabens.

Das Paar, das die Leiche entdeckt hatte, war mittleren Alters. Die beiden hatten blasse Gesichter und stellten keine Fragen. Sie sprachen überhaupt nicht und warteten lediglich auf Anweisungen. Die Frau zog ihre Jacke enger um sich und sah Cate mit einem Flehen in den Augen an. Wir gehören hier nicht her, besagte dieser Blick.

Einen Moment lang fühlte sich Cate verloren, so hilflos wie die junge Frau, die im Burggraben zurückgelassen worden war; dann führte sie die beiden zurück zum Rand des Parkplatzes neben dem Besucherzentrum. Dan befand sich noch dort, bemerkte ihren Blick und kam herüber.

»Wenn Sie bitte mitkommen würden«, sagte er zu dem Mann und begleitete ihn ein Stück von seiner Frau weg.

Cate schaute den beiden nach und begriff, dass er das Richtige tat, indem er das Paar trennte. So konnten der Mann und die Frau eine Erstaussage darüber tätigen, was sie bezeugt hatten, ohne darüber diskutiert zu haben, was geschehen war. Dabei würden sie sich unter Umständen gegenseitig beeinflussen. Dennoch wünschte Cate, sie könnte hören, was der Mann Dan erzählte.

Sie wandte sich der Frau zu, die beobachtete, wie Cate ihren Notizblock hervorholte und aufklappte. Cate sprach mit sanfter Stimme und nahm für das Protokoll die Personalien auf, damit etwaige Hintergrundüberprüfungen durchgeführt werden konnten, die Heath für notwendig halten würde. Obwohl Cate ihre Instinkte verrieten, dass diese beiden genau das verkörperten, was sie zu sein schienen – unschuldige Passanten, denen hier mehr begegnet war, als man bei einem abendlichen Spaziergang je sehen will.

Sie waren verheiratet, teilte ihr die Frau – Sandra – mit, und sie hatten einen Spaziergang unternommen, wie sie es häufig um diese Tageszeit zu tun pflegten. Geparkt hatten sie am See am Fuß des Hügels, danach waren sie heraufgeschlendert, um die Aussicht von der Kuppe aus zu genießen. Dabei warf die Frau einen besorgten Blick in die Richtung des Sees, und Cate war klar, dass ihr durch den Kopf ging, dass die Tore dort unten mittlerweile geschlossen sein würden und ihr Auto eingesperrt wäre. Dann dachte Cate an das zurück, was sie im Burggraben gesehen hatte, und zuckte im Geiste mit den Schultern: Es gab Schlimmeres.

»Also haben Sie die Polizei gerufen?«

»Und den Krankenwagen, meine Liebe. Ich meine, wir haben ja die Geschichten gehört. Ich war zuerst für die Polizei, aber Gerry meinte, wir sollten besser nachsehen. Ich meinte, nein, es ist wie bei den anderen, denen in der Zeitung. Er hat trotzdem nachgesehen – er war mutig, mutiger als ich. Und es war so, wie wir gesagt haben, sie hat noch gelebt.«

Cate schaute zu Gerry hinüber, der mit Dan redete, ohne ihn anzusehen, den Blick starr zu Boden gerichtet. Er trug nur ein dünnes Hemd und schlang mittlerweile die Arme um sich. Da wurde Cate klar, woher der Mantel stammte, der das Opfer bedeckt hatte.

»Woher wussten Sie, dass sie noch gelebt hat? War sie bei Bewusstsein – hat sie etwas gesagt?«

Sandra verzog das Gesicht. »Sie hat nicht tot ausgesehen, das ist alles. Gerry hat ihr Handgelenk gefühlt und gedacht, er könnte einen Puls spüren, nur schien sie nicht zu atmen. Ich … er war nicht sicher.« Ihre Stimme kippte.

»Also hat er ihre Hände berührt. Hat er …«

»Er hat es mit Beatmung versucht«, fiel Sandra ihr ins Wort. »Aber danach hat er noch einmal ihr Handgelenk überprüft und überhaupt keinen Puls gespürt.« Mit einem wilden Ausdruck in den Augen schaute sie zu ihrem Ehemann.

»Und was ist dann passiert?«

»Nichts, meine Liebe. Wir haben einen Krankenwagen gerufen. Das hab ich gemacht. Doch der kam und ist wieder gefahren, weil der dort drüben« – sie deutete zum Turmhügel – »gemeint hat, sie sei doch tot und es wäre sinnlos. Aber Gerry hat das nicht geglaubt. Sie hatte einen Puls. Er dachte, sie hätte einen Puls. Das hat er gesagt.« Sandra schauderte. »Ich hätte sie nicht anfassen können, nein, ich nicht. Aber er schon, mein Gerry. So mutig war er. Und er hat ihr seinen Mantel überlassen.« Sie begegnete Cates Blick. »Ich vermute, er wird ihn nicht mehr zurückhaben wollen. Und geholfen hat es nicht, oder?«

Nein, dachte Cate, es hatte nicht geholfen. Sie waren zu spät gekommen. Immer zu spät. Wenn vielleicht jemand das Mädchen früher entdeckt hätte … Sie dachte an die auf dem Boden zurückgelassene Gestalt zurück, an das helle Kleid, das durchscheinende Material, zu dünn, um jemanden gegen die Kälte der Nacht dieses dunklen Hügels zu schützen.

Nachdem die Zeugen gegangen waren, suchte Cate nach Dan. Er befand sich nach wie vor am Rand des Schauplatzes und sorgte dafür, dass keine unbefugten Personen die Absperrungslinie der Polizei überquerten. »Ist Ihre Freundin weg?«, fragte er.

Cate schüttelte den Kopf. »Alice sieht sich immer noch mit Heath den Fundort an.«

»Ah – tatsächlich? Welchen?«

»Welchen was?«

Er deutete geradeaus und ein wenig nach rechts, dort hinauf, wo unverändert das andere Licht leuchtete. Das hatte Cate verdrängt; sie war zu abgelenkt gewesen. Aber nun, da sie darüber nachdachte: Sie hatte auch dort oben Schritte gehört, oder? Harte, widerhallende Schritte auf einer Holzplattform, deutlich über dem Burggraben.

»Man hat dort oben etwas gefunden. Ich weiß nicht genau, was.«

»Ein weiteres Opfer?«

Er schüttelte den Kopf.

Cate holte tief Luft. »Na schön. Ich bin bald zurück.«

Sie spürte Dans Blick im Rücken, aber er sagte nichts, als sie wieder in die Dunkelheit davonging. Heath hatte ihr nicht befohlen, den Schauplatz zu verlassen. Jedenfalls nicht ausdrücklich, oder? Er hatte sie aufgefordert, sich um die Zeugen zu kümmern, und das hatte sie getan; sie hatte sich die Geschichte der Frau angehört und ihre Daten aufgenommen. Nun sah sie sich lediglich danach um, was sie sonst noch tun konnte.

Sobald Sie das Licht vom ersten Fundort passiert hatte, wurde es einfacher, den zweiten zu erkennen. Cate fühlte sich ungeschützt, als sie den Graben über die Holzbrücke überquerte. Ihre Schritte klopften laut über die Oberfläche. Sie erhaschte flüchtige Eindrücke von Licht und Schatten im Graben unter ihr, dann wandte sie sich davon ab und wandte sich den Stufen zu, die sie den Turmhügel hinaufführen würden. Sie erwiesen sich als steil und ragten in der Dunkelheit hoch über ihr auf. Oben befanden sich weitere Lichter und Stimmen; von unten konnte sie weder den Ursprung der Lichter ausmachen noch die gesprochenen Worte verstehen.

Das Geräusch ihrer Schritte kündigte sie an, lange bevor sie den Gipfel erreichte.

Die Plattform präsentierte sich weitläufig und flach, kalt und größer, als Cate sie in Erinnerung hatte. Ein heftiger Wind fegte über sie hinweg. Darin schwang ein eigenartiger Mief mit, und einen Moment lang dachte sie nicht an Tod, sondern an etwas aus ihrer Kindheit – den Kastenwagen, der die Häuser entlangzufahren pflegte, als sie jung war, und seine Waren an all die Mütter entlang der Straße verkaufte. Dann verpuffte der Gedanke.

Eine Gruppe von Tatorttechnikern scharte sich um etwas auf dem Boden. Einer kniete auf den Holzbrettern und beugte sich über einen kleinen, im Licht glitzernden Gegenstand. Er war golden, hellgolden. Cate trat vor und erkannte, dass es sich um eine Schale handelte, und als sie einatmete, bekam sie Gestank in den Mund, ein beißendes Aroma, das sich an ihrem Gaumen festsetzte. In der Schale befand sich etwas, das sie nicht erkennen konnte. Vielleicht ein Körperteil? Sie konnte lediglich sehen, dass es dunkel war, eine stinkende, zähflüssige Substanz, in der kleine Dinge trieben. Das war alles; nichts sonst verriet, wer die junge Frau gewesen sein mochte oder wen sie darstellen sollte, zu welcher Geschichte sie geworden war.

Cate ließ den Blick über die Landschaft wandern, über die Straßen, die zwischen orangefarbigen, stecknadelkopfgroßen Lichtern hinter gelben Fenstern verliefen, während die Felder sich lediglich in Form von Finsternis abzeichneten. Sie konnte kilometerweit sehen, und ihr kam der Gedanke, dass alle hier oben ungeschützt waren; jeder in der Umgebung könnte zu ihnen heraufschauen. Sogar der Mörder war vielleicht irgendwo da draußen und beobachtete sie. Cate schauderte, dann überließ sie die Tatorttechniker ihrer Arbeit und ging. Die junge Frau und die bei ihr zurückgelassenen Gegenstände fielen in andere Hände, ihre Geschichte wurde Bestandteil der Geschichte von jemand anderem, jedenfalls eine Zeit lang.

Dan war noch da, als Cate zurückkehrte, aber Alice war nicht zurückgekommen. Cate spähte mit zusammengekniffenen Augen über das Gelände und vermeinte, ihre Expertin neben einer größeren Gestalt – Heath – auszumachen, wie sie aus dem Burggraben stiegen und auf die Brücke zusteuerten. Wäre sie etwas länger auf der Plattform geblieben, hätte sie den beiden dort oben begegnen können; allerdings war sie nicht sicher, ob das gut gewesen wäre. Sie lauschte auf ihre Schritte auf der Holztreppe, konnte jedoch nicht mit Gewissheit sagen, ob sie tatsächlich etwas hörte.

Cate runzelte die Stirn. Wenn Alice und Heath dasselbe betrachteten, das sie gesehen hatte, würden sie auch dasselbe wahrgenommen haben? Es war, wie Alice gesagt hatte: Alles kam einer Lesart gleich, bei der man unterschiedliche Dinge bemerkte oder auf unterschiedliche Weise interpretierte. Wieso um alles in der Welt war die Schale dort oben platziert worden und nicht bei der jungen Frau?

Was ihr jedoch in den Sinn kam, war keine goldene Schale, sondern eine Zeichnung, eine Illustration aus einem Bilderbuch, das sie als Kind besessen hatte. Das Bild zeigte ein wunderschönes Mädchen mit goldenem Haar, das sich eine Rose an die Brust drückte. Es stammte aus Die Schöne und das Biest, oder? Die Tochter eines Händlers – die jüngste Tochter, immer die jüngste – hatte ihn gebeten, ihr von seinen Reisen eine Rose mitzubringen. Nur eine Rose, während ihre Schwestern teure Kleider und Juwelen verlangt hatten. Als der Händler eine solche Blume sah, wuchs sie im Garten des Biests, und indem er sie pflückte, handelte er sich leider mehr Ärger ein, als es mit den Forderungen der Schwestern je möglich gewesen wäre.

Das Opfer hatte eine Rose, und die Dornen waren um den Körper gewickelt worden.

Cate versuchte, sich den Rest der Geschichte ins Gedächtnis zu rufen: Die Schöne musste los, um beim Biest zu leben. In dessen prunkvollem Schloss gab es Festmahle. Wurden diese Festmahle in goldenen Schalen serviert? Möglich … wahrscheinlich. Aber warum dann hier in dieser Nacht die stinkende Masse in der Schale? Wollte der Mörder damit zum Ausdruck bringen, dass die Festmahle verdorben waren?

Sie trat von einem Bein aufs andere, während sie ungeduldig auf die Rückkehr der beiden wartete. Warum hatte Heath die Dozentin bei sich behalten und Cate nicht? Sie wünschte, sie könnte hören, was gesprochen wurde. Vielleicht war er wütend, weil sie ihre Expertin hierher mitgebracht hatte – und das konnte sie nachvollziehen. Offensichtlich akzeptierte er die Notwendigkeit, sich Alices Erkenntnisse anzuhören, doch das änderte nichts an den Tatsachen: Er hatte Cate aufgefordert, die Frau im Auge zu behalten. Vielleicht wollte er nun Alices Verhalten beobachten, ohne dass Cate dabei war, um es irgendwie zu beeinflussen. Stirnrunzelnd zog sie ihre Jacke enger um sich. Was immer der Grund sein mochte, es fühlte sich an, als vertraue Heath ihnen beiden nicht gänzlich. Und warum sollte er auch? Er hatte Alice an keinen weiteren Fundorten sehen wollen, und das war Cate bewusst gewesen. Dennoch hatte sie Alice mitgebracht, ohne mit ihm Rücksprache zu halten.

Sie schaute auf und erblickte zwei Gestalten, die auf sie zukamen: Alice und Heath, es wirkte, als erschienen sie aus dem Nichts der Dunkelheit.

Heath nahm keine Notiz von Cate; stattdessen sagte er mit leiser Stimme zu Alice: »Danke, Ms Hyland.« Er streckte die Hand aus, und die Dozentin schüttelte sie. Dann ging er in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.

Cate stellte fest, dass sie zögerte, etwas zu sagen.

»Ein weiterer Klassiker«, ergriff Alice das Wort. Sie klang traurig, aber ruhig.

»Die Schöne und das Biest

»Nein.« Alice hörte sich überrascht an. »Das ist es nicht. Dornröschen. Wenn man die Geschichte kennt, ist es offensichtlich. Sie ist von Dornen umgeben – außerdem sind da der Hut und die Schale. Sie hat sogar eine Rose. Deutliche Hinweise auf ihren Namen – Dornröschen.«

Diese junge Frau hatte einen eigenen Namen, dachte Cate. Sie alle hatten Namen. Rasch verdrängte sie den Gedanken. Sobald die Polizei ihren Namen wusste, konnten sie anfangen, sie anders zu nennen. Bis dahin würde sie als Dornröschen bezeichnet werden, wie Schneewittchen und Rotkäppchen auf eine Märchenfigur reduziert. Dafür konnte Alice nichts.

»Er will morgen früh eine umfassende Präsentation«, fuhr Alice fort. »Ich komme zum Revier und sage meine Morgenvorlesung ab.«

Cate schluckte ihre Fragen und ihren Stolz hinunter. »In Ordnung«, erwiderte sie. »Danke, das wissen wir zu schätzen. Ich bringe Sie jetzt nach Hause und hole Sie morgen früh ab.«

Alice starrte noch eine Weile auf die Burg hoch, versunken in eigene Gedanken. Schließlich atmete sie durch und drehte sich Cate zu. »Okay.« Ihre Stimme klang matt, als habe die Erschöpfung sie letztlich eingeholt. »Oder nein – Sie brauchen mich nicht abzuholen. Ich komme selbst hin.«

»Sind Sie sicher?«

»Ist einfacher für mich, selbst zu fahren. Dann kann ich anschließend direkt nach Leeds und vielleicht noch meine restlichen Vormittagskurse halten.«

Cate starrte sie an. »Aber Sie haben doch kein Auto.« Ihr Tonfall klang halb überrascht, halb anklagend, und sie schwächte ihn rasch ab. »Oder?«

Alice runzelte die Stirn, dann lächelte sie, als hätte sie ein Kind vor sich. »Natürlich habe ich eines«, erklärte sie. »Mit dem Zug ist es in der Regel einfacher. Aber wissen Sie, ich lebe nicht im neunzehnten Jahrhundert, sosehr ich auch den Eindruck vermitteln mag. Ich stelle es nur nicht beim Haus ab; das sieht so unordentlich aus, und die Straße ist ziemlich schmal. Die Leute beschweren sich darüber.«

Cate holte Luft. »Na ja, wenn Sie darauf bestehen …« Warum überraschte es sie so sehr, dass Alice ein Auto besaß? Das konnte man schließlich nicht gerade als ungewöhnlich bezeichnen. Dennoch ging es ihr nicht aus dem Kopf, auch wenn ihr klar war, dass ihr bloß der Gedanke vorher nie gekommen war. Glaubte sie etwa, Alice sei einem ihrer Märchen entsprungen und lebe außerhalb der realen Welt? Natürlich hatte sie ein Auto, und es spielte ohnehin keine Rolle. Ja, es schien wahrscheinlich, dass die Opfer in irgendjemandes Fahrzeug gelockt worden waren, aber Millionen Menschen besaßen Fahrzeuge; die Vorstellung war lächerlich. Ohne Cate würde Alice in diesem Augenblick zu Hause sitzen und nichts von den Geschehnissen in der Burg oder im Wald oder sonst irgendwo wissen. Sie wäre nie in die Nähe dieses Falles gelangt, wenn Cate sie nicht hineingezogen hätte, sodass sie sich von jemandem, der beim Anblick eines Tatortfotos bleich wurde, in jemanden verwandelt hatte, der sich über eine Leiche beugte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Und Cate hatte dafür gesorgt, dass der Name der Dozentin nicht in der Liste der Besucher des Sees auftauchte.

Sie im Auge behalten, hatte Heath gesagt. Hatte sie das gemacht? Behielt sie die Frau im Auge? Und behielt Heath auch Cate im Auge?

Alice wandte sich ab und ergriff ihren Arm. »Wir sollten gehen«, meinte sie und deutete in Richtung des Parkplatzes. »Ich glaube, man braucht uns nicht mehr, oder?«