Kapitel 30
Alice stand da und starrte ins Leere, während ihr die Warteschleifenmusik ins Ohr dudelte. Sie konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen – zwar wusste sie, was sie sagen wollte, nicht jedoch, wie sie es sagen sollte. Der Gedanke entglitt ihr dabei immer wieder, als wäre er noch unvollständig. Ein Bild ging ihr nicht aus dem Sinn: Cates Gesichtsausdruck, als sie die Polizistin zuvor gesehen hatte. Irgendetwas hatte damit nicht gestimmt. Worüber hatten sie geredet? Sie konnte sich nicht richtig erinnern. Der Beamtin hatte nicht gefallen, wie Alice mit Heath gesprochen hatte, und dann war da diese seltsame Sache … Ist einfacher für mich, selbst zu fahren, hatte Alice gesagt, das war es, und Cate hatte ausgesehen, als hätte sie ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt.
Alice kaute auf der Unterlippe. Sie war sich nicht sicher, was das bedeutete, nur dass sich in ihrem Verstand ein wachsendes Unbehagen einnistete, ein unterschwelliges Nagen.
Die Warteschleifenmusik verstummte, und eine stete, ruhige Stimme erklang: Cate. Alice holte tief Luft und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie sagen wollte. »Ich hatte eine Idee zu dem Fall.«
»Wunderbar.« Cates Tonfall klang unbeschwert, enthusiastisch: schon besser.
»Ich habe mir überlegt, nicht mehr allein darüber nachzudenken, was die Morde mit den Geschichten gemeinsam haben. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, was sie unterscheidet.«
»Wirklich? Und das wäre?« Plötzlich klang sie abwesend.
»Sie sind tot. Alle jungen Frauen sind tot.«
Kurze Stille, dann: »Das ist es? Das ist ja wohl irgendwie selbstverständlich.« Ungeachtet der Worte blieb Cates Tonfall freundlich. »Ich meine, keine Todesfälle heißt keine Morde; keine Morde heißt kein Fall. Natürlich würde das unsere Aufgabe erheblich einfacher gestalten, aber …«
»Nein, hören Sie mir zu. Alle Figuren, die ausgewählt worden sind – Schneewittchen, Rotkäppchen, Dornröschen –, werden in den Geschichten für tot gehalten, oder es sieht zumindest so aus, dass es eigentlich keinen Unterschied macht. Und dann werden sie ins Leben zurückgeholt, aber in diesen Versionen – bei diesen Morden – trifft das natürlich nicht zu. Schauen Sie: Schneewittchen wird für tot gehalten, sodass sie schon in einem Sarg liegt. Trotzdem erwacht sie, als der vergiftete Apfel nach einem Ruck aus ihrer Kehle springt. Rotkäppchen wurde schon gefressen, wird dann vom Jäger aus dem Bauch des Wolfs geschnitten. Dornröschen wird durch einen Kuss aufgeweckt. Es ist, als sollten die drei die Macht des Lebens besitzen, aber genau das nimmt unser Mörder seinen Opfern: Im Augenblick der Wiederbelebung oder Verwandlung werden sie stattdessen zum Tod verdammt. Und der Täter? Vielleicht betrachtet er sich irgendwie als Prinzen oder als Jäger, als denjenigen mit der Macht, der Heldin am Ende der Geschichte das Leben zu schenken. Nur entscheidet er sich, es nicht zu tun.«
»Hatten Sie nicht angenommen, der Mörder sei eine Frau?«
»Ich … ja.« Alice verstummte kurz. »Nein, Sie haben recht, das ergibt auch keinen Sinn. Es gibt immer eine böse Stiefmutter oder Königin oder so. Verdammt, man kann das auf so viele Arten lesen.« Wieder verstummte sie für einige Augenblicke. »Wissen Sie, es ist nur so, dass ich das Gefühl habe, ich hätte etwas gesehen. Und ich habe angefangen, darüber nachzudenken, wie er die Geschichten zu unterwandern scheint, und dieser Punkt ging mir dabei nicht aus dem Kopf: die Tode. Das ist so endgültig. In Märchen gibt es immer Magie – das Happy End. Jedenfalls meistens. Ich glaube, das habe ich daran geliebt, als ich klein war.«
»Und dennoch sind sie auch rot an Zahn und Klaue.«
Langsam bestätigte Alice: »Ja. Ja, das sind sie.«
Cate erwiderte nichts.
Nach einer Weile ergriff Alice wieder das Wort. »Tut mir leid. Als ich Sie anrief, schien es sinnvoll zu sein. Vielleicht lasse ich mich zu sehr auf diese Sache ein. Diese Angelegenheit macht mir zu schaffen, das ist alles.«
»Nein, schon gut«, beschwichtigte Cate. »Wir wissen Ihre Hilfe natürlich zu schätzen. Ich möchte, dass Sie mich immer anrufen, wenn Sie das Gefühl haben, es tun zu müssen – auch wenn Sie nur reden wollen. Ich weiß, dass diese Angelegenheit schwierig ist.« Eine Pause entstand. »Wissen Sie, da ist noch etwas, das ich Sie fragen wollte. Auch an diesem Fundort ist Gift entdeckt worden, das nicht in den von Ihnen erwähnten Lesarten der Geschichte vorkommt. Fällt Ihnen ein Grund ein, warum der Fisch vergiftet gewesen sein könnte?«
Alice schüttelte den Kopf, dann wurde ihr klar, dass die Polizistin sie ja nicht sehen konnte. »Nein. Keiner.«
»Sind Sie sicher? Sie haben nichts unerwähnt gelassen – halten nichts zurück?«
Diesmal war es Alice, die schwieg.
»Das ist eine weitere Abweichung von den Geschichten, nicht wahr? Das vergiftete Brot bei der zweiten Szene, der vergiftete Apfel bei der ersten.«
»Nein«, widersprach Alice matt. »In Schneewittchen kommt sehr wohl ein vergifteter Apfel vor.« Sie rührte sich und betrachtete das über ihren Tisch verstreute Papier. Die Zettel bedeuteten ihr nichts mehr. Sie murmelte etwas, als sie sich von Cate verabschiedete, Geräusche, die keine richtigen Worte waren. Alice wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Etwas zurückhalten? Warum sollte sie? Sie hatte bei diesem Fall geholfen, hatte ihre Zeit geopfert und ihr Wissen bereitgestellt. Und nun … Sie kehrte zu dem vagen Gedanken zurück, der ihr während der Unterhaltung gekommen war. Cates Tonfall war freundlich gewesen, wenngleich er gezwungen freundlich geklungen hatte. Außerdem hatte die Polizistin sie durch ihr Schweigen zum Reden gedrängt und Alice ihre eigenen Worte an den Kopf geworfen: rot an Zahn und Klaue. Aber so arbeitete die Polizei, nicht wahr? Polizisten versuchten, Menschen mit deren eigenen Worten Fallen zu stellen, und stocherten in ihren Aussagen herum, bis irgendetwas nicht zusammenpasste. Das machte die Polizei, wenn eine Person verhört wurde, die als verdächtig galt.
Alice legte den Hörer auf die Gabel und kehrte dem Apparat den Rücken zu. Heiße, zornige Tränen brannten in ihren Augen, und sie war nicht sicher, wie sie dorthin gelangt waren. Bestimmt irrte sie sich – sie war wohl nur überreizt, mehr nicht. Alice hob die Hand ans Gesicht. Sie hatte geglaubt zu wissen, was sie tat – dass sie diejenige mit den Fachkenntnissen sei und die Kontrolle habe. Nun fühlte es sich so an, als sei sie vor geraumer Zeit vom Weg abgekommen und in den Wald gewandert, ohne das überhaupt zu bemerken.
Dabei musste sie an etwas denken, und sie schob die Hand in die Tasche. Dort wartete das Geschenk, das ihr der blaue Vogel hinterlassen hatte. Sie holte die Feder nicht hervor, aber vor ihrem geistigen Auge konnte sie den genauen Farbton sehen, und sie fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Schlagartig wurde sie ruhiger. Es war, als wäre der Vogel ihr Führer geworden, ihr Anker, eine Erinnerung an bessere Zeiten. Sie brauchte ihn; durch ihn fühlte sie sich besser.
Alice holte tief Luft. Sie sollte ihre Mitte suchen und zu den Dingen zurückkehren, die sie wirklich ausmachten. Sie musste diese Geschichte eine Zeit lang vergessen, musste den Tod und seine Hässlichkeit vergessen. Sie würde sich ihren Aufgaben widmen und etwas lesen. Vielleicht würde sie sogar die Geschichte vom blauen Vogel lesen, um dessen Verwandlung in sein wahres Ich noch einmal zu erleben. Sich daran erfreuen, wie er zum Märchenprinzen wurde, der Juwelen, eine Ehe und Glück bis ans Lebensende brachte.
Sie lächelte, und ihr Blick wanderte in die Ferne. Wenn die Dinge nur im Leben so einfach wären. In Geschichten erfuhren Menschen Abenteuer, das Leben, den Tod und alles dazwischen, aber am Ende wurde immer alles gut. Und sie schienen sich selten so allein zu fühlen wie Alice im Augenblick.