Kapitel 6

Cate hatte nicht damit gerechnet, Mrs Farrell noch einmal wiederzusehen, und der Ermittler, den sie begleitete, glaubte seiner Miene nach zu urteilen wohl auch nicht, dass sie gebraucht wurde. Aber anscheinend hatte sich Angela Farrell an Cate erinnert und gefragt, ob sie dabei sein könne. Aus Respekt vor Mrs Farrells Zustand hatte Ermittlungsleiter Heath ihrer Anwesenheit zugestimmt – nein, er hatte sogar darauf bestanden.

Mrs Farrells Gesicht wirkte regelrecht wund. Die Augen waren wässrig und sahen irgendwie ungeschützt aus, die verquollene Haut betonte die Schatten darunter. Sie hatte dennoch Make-up aufgetragen, schwarze Linien, die zittrig über ihren Lidern verliefen und darunter fast zur Unkenntlichkeit verschmiert waren. Sie saß im Wohnzimmer an derselben Stelle, wo Cate sie zuletzt gesehen hatte, und umklammerte mit abgekauten Fingernägeln ein feuchtes Taschentuch. Cate fand, dass sie über Nacht gealtert war.

Der Kriminalbeamte Dan Thacker stand mitten im Raum, wo Mrs Farrell einst ihre Ausgehschuhe abgestreift hatte. Er sah Cate nicht an, nahm ihre Gegenwart kaum zur Kenntnis. Stattdessen hatte er den Blick starr auf die trauernde Mutter gerichtet. Der Mann war groß und stand leicht gebückt, wodurch Cate vom Rasieren gerötete Haut seitlich am Hals erkennen konnte. Seine Kieferpartie wirkte angespannt.

Cate sah sich im Zimmer um. Es hatte sich wenig verändert. Die Vorhänge waren immer noch zugezogen, und sie fragte sich, ob Mrs Farrell sie seit dem Tag, an dem ihre Tochter nicht nach Hause gekommen war, überhaupt je geöffnet hatte. Ihr Blick wanderte zu dem über dem Kamin hängenden Spiegel. Die Worte »Spieglein, Spieglein …« gingen ihr flüchtig durch den Kopf und verschwanden wieder.

Es war ihr nach wie vor nicht gelungen, Heaths verächtlichen Blick aus ihrer Erinnerung zu verbannen.

»Sie haben also die Tanzveranstaltung verlassen«, sagte Thacker mit leiser, weicher Stimme. »Wissen Sie noch, wie spät es war?«

Mrs Farrell schaute zu ihm auf und anschließend weg, als hätte sie die Worte kaum begriffen und lediglich ihren Klang wahrgenommen. Sie murmelte etwas, das Cate nicht verstehen konnte.

»Mrs Farrell? Es könnte hilfreich sein, wenn Sie sich daran erinnern.«

Ihre Hände bewegten sich unruhig auf ihrem Schoß. »Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß es nicht mehr.«

Als Dan Thacker wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme sanfter. »Haben Sie Ihre Tochter noch einmal gesehen, bevor Sie gegangen sind?«

Sie schüttelte den Kopf und seufzte.

Cate verließ ihren Sitzplatz, kniete sich neben Mrs Farrell und ergriff die Hand der Frau. »Es tut mir leid, dass wir diese Dinge durchkauen müssen«, sagte sie. »Ehrlich, wenn wir nicht der Meinung wären, es könnte helfen, würden wir das nicht von Ihnen verlangen. Was ist passiert, als Sie Chrissie zuletzt gesehen haben? Erinnern Sie sich vielleicht noch daran, was sie zu Ihnen gesagt hat?«

Die Frau schaute zu ihr auf. »Sie … sie wollte, dass ich aufhöre, sie wie ein Kind zu behandeln.« Kurz schwieg sie und biss sich auf die Unterlippe. »Sie war mit ihren Freundinnen zusammen. Sie verhält sich immer so, wenn sie …« Unvermittelt verstummte sie.

»Schon gut. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Sie wissen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden.« Cate verspürte einen leichten Stich, als sie das aussprach. Die, dachte sie. Die werden alles tun, was sie können.

Mrs Farrell hob eine Hand ans Gesicht. »Sie hat mich geküsst«, sagte sie. »Chrissie hat mich auf die Wange geküsst.« Ihre Finger kneteten die Stelle, als könne sie dadurch die Berührung ihrer Tochter zurückholen.

»Und wer war dabei?«

»Niemand, nicht zu dem Zeitpunkt. Chrissie wollte nicht, dass ihre Freundinnen sehen, wie sie mit mir redet. Sie wissen ja, wie Mädchen so sind in dem …«

In dem Alter, beendete Cate den Satz in Gedanken. Das hatte die Frau sagen wollen, doch dann war ihr klar geworden, dass ihre Tochter nie erwachsen, nie älter werden würde.

Dan Thacker schaltete sich ein. »Wir verstehen schon, Mrs Farrell. Sie hat also gesagt, dass sie die Nacht bei Kirsty Gill verbringen will. Wir haben mit Ms Gill gesprochen. Anscheinend kam es zu einer Meinungsverschiedenheit mit Ihrer Tochter. Ms Gill scheint zu dem Zeitpunkt den Eindruck gehabt zu haben, dass Ihre Tochter auf unfaire Weise zur Königin der Veranstaltung gekürt wurde.«

Mrs Farrell begegnete seinem Blick, als wäre er letztlich zu ihr durchgedrungen und hätte sie aus ihrem Versteck hervorgeschleift. »Sie war die Königin der Veranstaltung«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Chrissie war wunderschön. Natürlich hat sie gewonnen. Sie hätte immer wieder gewonnen.«

»Und es scheint Neid gegeben zu haben. Nicht ungewöhnlich in dem Alter, aber wissen Sie, ob Chrissie in der Schule irgendwelche besonderen Feinde hatte? Gab es jemanden, der den Wunsch gehabt haben könnte, sie zu verletzen?«

Mrs Farrells Züge fielen in sich zusammen. Sie setzte zum Sprechen an und presste die Lippen aufeinander. Langsam nickte sie, dann schüttelte sie den Kopf.

»Mrs Farrell?«

»Neid hat es immer gegeben.« Stockend sog sie die abgestandene Luft ein. »Einige Mädchen mochten Chrissie nicht. Sie hat von jemandem namens Sarah erzählt. Und Deborah Wainwright. Tanya Smith. Mehrere. Aber das hat sich ständig geändert. Chrissie war so hübsch – natürlich waren die anderen neidisch. Jeder wäre neidisch gewesen.«

»Und Kirsty Gill?«

Bedächtig schüttelte sie den Kopf.

»Also muss Chrissies Streit mit ihrer Freundin etwas Spontanes gewesen sein. Etwas, das aus dem Nichts aufgetaucht sein könnte.«

Mrs Farrell traten Tränen in die Augen. Sie sah erst Ermittler Thacker, dann Cate an. Es war, als versuche sie, in beiden zu lesen, und musste feststellen, dass es ihr nicht gelang. Sie verengte die Augen. »Wollen Sie damit sagen …«

»Ich will damit gar nichts sagen, Mrs Farrell«, fiel Dan Thacker ihr ins Wort. »Ich versuche lediglich, herauszufinden, was ihr widerfahren sein könnte.« Er wechselte die Taktik. »Als sie nicht nach Hause kam …«

Mrs Farrell hob die Hände ans Gesicht und drückte sich das feuchte Taschentuch auf die Haut. Ohne die Hände zu senken, schüttelte sie den Kopf. »Ich dachte, sie wäre in Sicherheit und bei den anderen. Ich hätte nie vermutet … Ich habe geglaubt, sie wäre mit Kirsty gegangen. Das hat sie zu mir gesagt. Ich hätte bleiben sollen. Ich weiß, dass ich hätte bleiben sollen.« Sie hob den Blick, ergriff Cates Arm und drehte sich ihr zu. »Es tut mir leid«, sagte sie und stieß die Worte hervor, als handle es sich um etwas, das sie zum Ausdruck bringen musste – als würde es ihre Tochter zurückbringen. »Es tut mir so leid

Cate wartete, bis sich Mrs Farrell gesammelt hatte. Nach einer Weile ließ die Frau auf ihrem Sitz die Schultern hängen, warf das Taschentuch beiseite und tupfte sich stattdessen mit den Fingern die Augen ab.

»Gibt es sonst noch jemanden, der ihr feindlich gesinnt sein könnte?«, fragte Cate. »Und was ist mit dem Vater des Mädchens – wo ist er?«

Mrs Farrell schüttelte den Kopf. »Er lebt seit Jahren in Spanien. Chrissie hat ihn ein paar Mal besucht. Aber schon länger nicht mehr. Jetzt kommt er zurück zur …« Ihr Blick wurde abwesend.

»Fällt Ihnen irgendjemand ein, der sie beobachtet oder verfolgt haben könnte? Gab es Online-Bekanntschaften, von denen sie erzählt hat?«, wollte Dan wissen.

»Ich weiß es nicht. Chrissie hielt es für jämmerlich, Freundschaften online zu schließen.« Mrs Farrell stieß schnaubend den Atem aus; näher kam sie einem Lachen nicht.

»Na schön«, meinte Dan Thacker. »Wir gehen dem trotzdem nach, Mrs Farrell, nur für alle Fälle. Mit Ihrer Erlaubnis brauchen wir dafür den Computer Ihrer Tochter.«

Mrs Farrell wirkte wie benommen.

»Und Sie sind ganz sicher, dass sie mit niemandem ging?«

»Es gab schon ein paar Jungs, aber niemand Besonderen. Chrissie hat auf mich nie groß interessiert daran gewirkt. Mit dem letzten hat sie vor einigen Monaten schlussgemacht. Es war nichts Ernstes. Chrissie war nicht …« Wieder schaute sie auf, diesmal mit einer jähen Bewegung, dann wandte sie den Blick ab.

»Mrs Farrell?«

»O Gott«, entfuhr es ihr. Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht. »Bei der Tanzveranstaltung war jemand … Das hatte ich völlig vergessen gehabt.«

»Was ist?«, hakte Dan nach.

»Lieber Himmel.« Mit wirrem Blick sah sie sich um, als suche sie nach Antworten. »Er«, murmelte sie. »O Gott, er.«

»Wer, Mrs Farrell?«

Ihre Lippen bewegten sich. »Cosgrove«, sagte sie mit einem Anflug von Siegessicherheit im Tonfall. »Genau. Er hat gesagt, sein Name sei Matt Cosgrove.«

»Wer ist er?«, wollte Dan wissen.

»Ihr Lehrer.« Ein unangenehmes Leuchten trat in Angie Farrells Augen. »Ich habe gehört, wie bei der Tanzveranstaltung jemand über ihn geredet hat, zwei Mädchen. Wissen Sie, ich dachte, es sei bloß ein Gerücht.«

»Und was haben sie gesagt?«

»Dass er sich mit jemandem aus der Klasse treffe. Dass er mit jemandem schliefe.« Mrs Farrell hob die Hand an den Mund. »Aber nicht Chrissie. Nicht mein Mädchen. Sie hätte das nicht getan. Sie war besser als das, hatte Selbstachtung. Meine Chrissie hätte es weit gebracht. Sie hätte nein gesagt. Sie hätte nicht zugelassen, dass er …« Ihr Redeschwall endete mit einem Aufheulen. »O Gott. Er muss sie gezwungen haben. Und als sie sich geweigert hat, da hat er … Er hat das mit ihr gemacht …« Ihre Stimme schwoll stetig an, und sie rappelte sich mühsam auf die Beine.

»Dieser Drecksack«, zischte sie und drehte sich Cate zu. »Ich dachte, er fände mich sympathisch, aber so war es nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet hat, und ich wusste es. Ich hätte es wissen müssen. Dieser Drecksack.« Ihre Stimme kippte, und sie fing an, abgehackt und herzzerreißend zu weinen. Tränen rannen ihr über das Gesicht, und sie ließ ihnen freien Lauf.