Kapitel 21

Als Cate und Dan zum Revier zurückkehrten, herrschte dort helle Aufregung. Die Autopsieergebnisse lagen vor, und der Gerichtsmediziner wurde in den Besprechungsraum gescheucht. Nach einem raschen Blickwechsel huschten Cate und Dan ebenfalls hinein, und die Türen schlossen sich hinter ihnen.

Der Gerichtsmediziner erwies sich als älterer Herr mit wolkenartigem weißem Haar über den Ohren. Der Rest seines Kopfes glänzte im Licht der Neonröhren. Er blätterte durch Papierbögen in seinen Händen, räusperte sich und blickte über den Rand seiner halbmondförmigen Brillengläser hinweg zu den Anwesenden. Cate stellte sich vor, wie er so das Mädchen betrachtete, der Körper geöffnet vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem er lesen konnte. Offenbar färbte Alices Art, die Dinge zu sehen, allmählich auf sie ab.

»Der Todeszeitpunkt lässt sich auf zwischen zwei und drei Uhr morgens schätzen«, begann er. »Aufgrund der Lividität am Körper des Opfers können wir bestimmen, dass die junge Frau verlagert wurde, nachdem der Tod eingetreten ist und bevor sie gefunden wurde. Sie könnte in einem Auto oder mit einer anderen Transportmethode befördert worden sein.«

Cate ertappte sich dabei, den Kopf zu drehen, um einen Blick mit Len zu wechseln, aber natürlich war er nicht da, nur Dan, der sie halb verwirrt, halb abwägend ansah. Cate schaute wieder nach vorn. Sie wusste, weshalb er sie so gemustert hatte; es war derselbe Gesichtsausdruck wie zuvor gewesen, als sie ihn aufgefordert hatte zu warten, während sie die Uferpromenade entlang hinter Alice hergehetzt war. Als sie versucht hatte, die Expertin abzufangen, und sich zwischen sie und Len Stockdale gestellt hatte, bevor der anfangen konnte, Alice zu befragen und ihren Namen in sein Notizbuch zu schreiben.

Dan hatte sie nicht gefragt, weshalb sie so überstürzt davongerannt war; hoffentlich hatte er lediglich geglaubt, sie wollte nur ein rasches Wort mit einem Kollegen wechseln. Doch nun fragte sie sich, ob sich in ihm Argwohn regte. Sie hoffte, er würde eine kleine Auslassung in den Unterlagen nicht bemerken; dank ihres Einschreitens war Alices Anwesenheit in der Nähe des Fundorts nicht protokolliert worden. Cate war nicht sicher, weshalb sie es getan hatte, nicht wirklich. Es war dumm gewesen, aber es konnte sich auch nicht einschneidend auswirken.

Heath stand vorne im Raum und ließ einen verkniffenen Blick über die versammelten Beamten wandern, während der Gerichtsmediziner sprach. Cate verspürte eine Mischung von Schuldgefühlen und Erleichterung. Hätte er von Alices Anwesenheit am See erfahren, hätte er nie mehr davon abgelassen; das hätte Zeit und Aufmerksamkeit gekostet, die nicht dafür verwendet worden wäre, den Mörder zu suchen. Allerdings wusste sie, dass sie damit auch ein Problem für Stocky geschaffen hatte. Zwar hatte er getan, worum sie ihn gebeten hatte, doch gefallen hatte es ihm nicht, das wusste sie. Er hatte nur eingewilligt, weil sie beharrlich behauptet hatte, dass es keine Rolle spielen konnte. Als Cate dort am See mit ihm zu Ende gesprochen hatte, war ein neuer Ausdruck in seine Augen getreten – einer, der ihr nicht behagt hatte. Sie hatte ihn bereits davor verärgert, indem sie dazu auserkoren worden war, an den Ermittlungen mitzuwirken, aber bisher hatte sie ihm nie einen Grund gegeben, an ihren Fähigkeiten oder ihrem Urteilsvermögen zu zweifeln.

Sie zwang sich, die Aufmerksamkeit wieder auf die Worte des Gerichtsmediziners zu richten.

»Die im Mund des Opfers platzierten Zähne stammen von einem Kind«, sagte er. »Es sind Milchzähne, und sie scheinen natürlich ausgefallen und nicht gezogen worden zu sein. Nach ihrem Zustand zu schließen, könnte das bereits Jahre zurückliegen.«

Im Raum war Stille eingetreten. Cates Herz begann, schneller zu schlagen, und sie fragte sich, ob allen anderen dasselbe durch den Kopf ging, nämlich dass dies der Durchbruch sein könnte, den sie brauchten. Wenn die Zähne mehrere Jahre alt waren und jemand sie seit der Kindheit aufgehoben hatte … konnte es sich sogar um die Zähne des Mörders selbst handeln. Sie hob die Hand und rief: »Besteht irgendeine Möglichkeit, zu ermitteln, ob sie von einem Jungen oder von einem Mädchen stammen?«

»Noch nicht, fürchte ich, bisher nicht. Es gibt zwar Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Zähnen – zum Beispiel sind die Eckzähne bei Männern größer, und die Kronen haben unterschiedliche Abmessungen –, aber bei den Proben, die wir haben, sind wir vorerst auf nichts Schlüssiges gestoßen. Wir unternehmen Versuche, aus dem Schmelz DNS zu extrahieren. Wenn uns das gelingt, sind wir in der Lage, das Geschlecht zu bestimmen. Allerdings sagt mir mein Gefühl, dass die Zähne zu alt und wahrscheinlich zu zersetzt dafür sind. Die Chance ist eher gering.«

Cates Verstand raste. Wenn es gelänge, an DNS zu kommen, könnte man sie mit der von Cosgrove vergleichen. Und wenn er nicht der Täter wäre, könnte man zumindest Alices Theorien überprüfen und ein für alle Mal bestätigen, ob der Mörder ein Mann oder eine Frau war. Oder ließ sie sich zu sehr auf Alices Ideen ein? Cate atmete durch, um sich zu beruhigen. Sie wussten ja nicht einmal, ob die Zähne wirklich dem Mörder gehört hatten – sie konnten von jedem stammen. Genauso gut konnte er sie sich irgendwo beschafft haben. Was stimmte bloß nicht mit ihr? Sie musste tun, was Heath vorgeschlagen hatte – sich beruhigen und versuchen, methodisch vorzugehen.

Ein Bild von Len Stockdale blitzte vor ihrem geistigen Auge auf; wieder hatte er diesen Ausdruck im Gesicht. Bist du sicher, dass du weißt, was du da tust, Cate?

Jemand anderer fragte: »Glauben Sie, die Zähne könnten vom Kind des Opfers stammen? Vielleicht hatte die Frau irgendwo ein Kind.«

Cate zuckte zusammen. Der Gedanke war ihr gar nicht gekommen.

Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf. »Es gibt Anzeichen dafür, dass Teresa King in der Vergangenheit eine Abtreibung hatte. Es stand nicht in ihrer Krankenakte, sie könnte sich ihr also unter einem anderen Namen unterzogen haben oder sie irgendwo … sagen wir inoffiziell … gemacht haben lassen. Ich glaube nicht, dass sie je ein Kind geboren hat. Aufgrund der Vernarbung halte ich es sogar für unwahrscheinlich, dass sie je in der Lage gewesen wäre, Kinder zu bekommen, wenn sie weitergelebt hätte.«

Wieder zuckte Cate zusammen. Die Möglichkeiten der jungen Frau, eine Familie zu gründen, waren ihr bereits genommen worden, als sie selbst kaum mehr als ein Kind gewesen war; eindeutig der Weg der Nähnadeln. Sie stellte sich vor, wie Teresa hohläugig an einer Straßenecke stand und darauf wartete, dass jemand, irgendjemand käme und beschlösse, er wolle sie eine Zeit lang.

Der Gerichtsmediziner räusperte sich und ließ den Blick durch den Raum wandern, um sich zu vergewissern, dass ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gehörte. »Die Todesursache entspricht den Erwartungen«, verkündete er. »Es gab einen massiven Blutverlust aufgrund der Bauchwunde der jungen Frau. Merkwürdig hingegen ist die Ursache für die Wunde. Es war unübersehbar, dass das Gewebe sowohl aufgerissen als auch aufgeschnitten wurde. Außerdem wurden im Inneren deutliche Anzeichen von Krallenspuren gefunden.«

Cate spürte das Stimmengewirr, dass von einer Person zur nächsten übersprang, und setzte sich aufrechter hin.

Der Gerichtsmediziner nahm die Brille ab. »Dem ersten Augenschein nach ist sie von einem Tier angegriffen und zerfleischt, vielleicht gebissen worden. Aber die einzigen Hinweise auf Tiere, die wir gefunden haben, stammen von Insekten und Vögeln, die sich am Fundort an der Leiche zu schaffen gemacht haben. Bei solchen Wunden würde man erwarten, auf die DNS eines Hundes zu stoßen – in Form von Fell oder Speichel. Oder vielleicht als Spuren von Fuchsbissen an der Leiche. Allerdings haben wir nichts dergleichen gefunden. Ganz im Gegenteil, der Leichnam war auffallend sauber.«

Er hob eine Hand, um Fragen abzublocken, und es kehrte Stille ein. »Dem oberflächlichen Anschein nach würde ich sagen, sie wurde nicht nur von einem Menschen, sondern auch von einem Tier angegriffen, möglicherweise von einem großen Hund. Die junge Frau hatte Male an den Handgelenken und Blutergüsse im Gesicht – sie wurde zweifellos überwältigt und gefesselt. Es ist durchaus möglich, dass sie bei Bewusstsein war, als ihr die Wunden zugefügt wurden, und nichts tun konnte, um es zu verhindern. Etwas Ähnliches habe ich einmal gesehen, als ein Kampfhund effektiv – sehr effektiv – als Mordwaffe eingesetzt wurde. Aber wie ich schon sagte, in diesem Fall waren die Wunden zu sauber, und der Mangel an Anzeichen auf ein Tier ist in höchstem Maße ungewöhnlich, wenn nicht gar bemerkenswert.«

Die Fragen begannen: »Könnten Sie etwas übersehen haben?«

Der Gerichtsmediziner wandte sich halb ab. »Höchst unwahrscheinlich, obwohl wir natürlich noch weitere Tests durchführen.«

»Was, wenn der Mörder das Tier präpariert, es gewaschen hat?«

»Was, wenn er die Wunden gereinigt hat?«

»Dann würden wir trotzdem irgendetwas Übertragenes finden – Epithelzellen von Haut oder Haaren … Nein, das ist nicht sehr wahrscheinlich.«

»Also könnte es vielleicht doch kein Tier gewesen sein?«

»Die Wundmuster legen zwar nahe, dass es ein Tier war, aber wir können nur sagen, was uns die Beweise mitteilen.« Der Gerichtsmediziner straffte die Schultern. »Vermutungen darüber anzustellen liegt bei anderen.«

»Könnte es ein Wolf gewesen sein?«

Cate konnte nicht sehen, wer die Frage gestellt hatte, aber sie sah, welche Wirkung sie erzielte. Alle verstummten und harrten der Antwort.

Der Gerichtsmediziner schwieg kurz. »Wie gesagt, das würde zum Muster der Wunden passen, aber durch den Mangel an Spuren wäre es wirklich bemerkenswert. Dasselbe gilt für das Auftreten von Wölfen in Wakefield.« Er zog die Augenbrauen hoch und spähte über den Rand seiner Brille hinweg, bis das Kichern im Raum versiegte. Danach wandte er sich ab. Die Präsentation war zu Ende.

Alle fingen zu reden an, drehten sich ihren Sitznachbarn zu, um Vermutungen auszutauschen, und Cate schnappte mehrmals das Wort »Wolf« auf. Plötzlich wusste sie mit einem flauen Gefühl im Magen, dass man den Täter so nennen würde; sie konnte es schon in den morgigen Schlagzeilen sehen. DER WOLF SCHLÄGT ZU. DER WOLF LAUERT. DER WOLF IM WALD. Genau das konnten die Ermittlungen nicht brauchen – einen Serienmörder, den man mit einem solchen Namen bedachte. Das würde nichts anderes bewirken, als dass der Täter oder die Täterin aus der Menge hervorstach und weniger menschlich erschien, sodass jemand, der ihm oder ihr zufällig auf der Straße oder in einem Laden begegnete, nie erkennen würde, mit wem er es zu tun hatte.

Und ihr wurde noch etwas klar. Massiver Blutverlust, hatte der Gerichtsmediziner gesagt – daran war das Mädchen gestorben. Mit anderen Worten: Teresa hatte noch gelebt, als ihr all das angetan worden war. Ihr Herz musste noch geschlagen haben. War sie tatsächlich sogar bei Bewusstsein gewesen? Rotkäppchen war letztlich dem Wolf begegnet, zumindest dem Wolf in Verkleidung. Nur war das diesmal nicht gefahrlos zwischen den Deckeln eines Buches geschehen, sondern an einem realen Ort voller Blut und Schmerz und Tod, und jemand hatte dabei zugesehen, voll … was? Vergnügen? Befriedigung? Freude?

Sie ballte die Hände zu Fäusten.

»Alles in Ordnung?«

Cate sah sich um und stellte überrascht fest, dass es Dan gewesen war, der gefragt hatte. Sie wollte gerade antworten, doch dann trat plötzlich Heath vor, um ein paar abschließende Worte an die Anwesenden zu richten, und der Moment verpuffte.

Er teilte ihnen mit, dass sie über etwaige weitere DNS-Ergebnisse informiert werden würden und dass man beschlossen hatte, einen Profiler hinzuzuziehen, um zusätzliche Erkenntnisse zu erlangen. Demnach wurde der Täter als Serienmörder eingestuft, dachte Cate. So wie sie mussten auch die Entscheidungsträger spüren, dass diese Angelegenheit noch nicht vorbei war.

Sie fragte sich, was ein Profiler von Alices Ideen halten würde. Natürlich würde der Profiler wahrscheinlich davon ausgehen, dass es sich beim Mörder um einen Mann handelte; in der Regel waren Serientäter männlich. Sie stellte fest, dass sie mit Alice über die neuesten Erkenntnisse reden wollte – oder vielleicht war es die Realität des Todes der jungen Frau, die Cate an sie denken ließ, an die Dozentin, deren Welt zur Hälfte aus Fantasie bestand. Sie bemühte sich, nicht über das Opfer nachzugrübeln … der Körper ausgemergelt von Drogen und einem ungesunden Lebenswandel, gefesselt, während irgendein Tier darüber herfiel. Manchmal konnte es auch zu viel Realität geben; schließlich wäre es sehr tröstlich gewesen, wenn dieser Fall lediglich eine Geschichte wäre, um Kinder zu erschrecken.