Kapitel 8

Es war früh, und Alice riss das Schlafzimmerfenster auf. Frost lag in der Luft, aber sie wollte etwas von draußen einatmen, wollte hinausschauen und nichts als Bäume sehen. Ihr Zimmer bot die schönste Aussicht im Haus, und der frühe Morgen war die beste Zeit, den Anblick zu genießen.

An diesem Morgen kauerte kein blauer Vogel im Apfelbaum. Halb war sie froh darüber – sie hatte immer noch nicht ihre Schuldgefühle abgeschüttelt –, halb jedoch auch enttäuscht. Die Vorstellung, dass fanatische Vogelbeobachter die Wälder für den seltenen Anblick durchstreiften, der sich ihr so mühelos durch ihr Fenster geboten hatte, verlieh dem Tier eine Exotik, die sie zuvor nur gespürt hatte.

Sie schüttelte ihr Haar zurück. Der Himmel präsentierte sich in einem blassen, aber klaren Blau. Es würde sonnig, wenngleich kalt werden, genau wie am Vortag. Hinter dem Garten lag das Waldgebiet, im Herzen noch dunkel, beinah schwarz. In der Ferne ging es in ein fast farbloses Grau über. Irgendwo schrie ein Vogel. Es handelte sich nicht um das abwechslungsreiche Gezwitscher, das sie am vergangenen Tag gehört hatte, sondern um das schneidende Krächzen einer Krähe; ein rauer und vereinzelter Laut, der Alice an einsame Orte denken ließ, an aufgegebene Orte. Dabei wiederum musste sie an die Leiche denken, die nur wenige Kilometer südlich gefunden worden war. Sie hatte aus den Nachrichten davon erfahren. Wenn sie nach Newmillerdam, um den See herum und durch den Wald ginge und anschließend die offenen Felder überquerte, wäre sie nicht weit von der Stelle entfernt, wo es sich zugetragen hatte. Der Bericht war vage gewesen. Man hatte lediglich verlautbart, dass der Todesfall verdächtig erschien, und Alice fragte sich, was dem Opfer widerfahren sein, was ihm angetan worden sein mochte.

Sie verzog das Gesicht, wandte sich vom Fenster ab und visierte die Dusche an. Der heiße Dampf im winzigen Badezimmer fühlte sich willkommen an. Das lullte sie jedoch eher ein, als dass die Wärme sie belebte. Und das verlockte wiederum dazu, sich wieder schlafen zu legen. In Gedanken ging sie die Arbeit durch, die sie an jenem Tag zu erledigen hatte. Sie musste Aufsätze benoten, und sie freute sich bereits auf die Gedanken und Ideen ihrer Studenten zu den Märchen, die sie gelesen hatten. Das fand Alice immer so schön – wie sich jede Geschichte mit dem Erzähler veränderte, wie jeder Zuhörer sie ein wenig anders interpretieren konnte. Allerdings hielt sie den Kurs mittlerweile das dritte Jahr ab, und der Reiz des Neuen begann allmählich zu verblassen. Nach und nach setzte der Trend ein, dass sie in den Aufsätzen, die ihr jede Woche abgegeben wurden, zunehmend auf dieselben Ideen und Auslegungen stieß. Sie beschloss, dem irgendwie entgegenzuwirken.

Alice schlüpfte in Jeans und eine karierte Bluse, dann band sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie konnte zuerst das Benoten erledigen – vielleicht beim Frühstück – und anschließend einen Spaziergang unternehmen. Ihr kam der Gedanke, an diesem Tag lieber um den See statt durch den Wald zu gehen: Sie würde auf dem Weg bleiben. Dann hielt sie inne, als sie das Geräusch von Holz hörte, das über Stein schabte.

Es handelte sich um ein Tor, das geöffnet wurde, das Tor vor dem Haus. Alice tapste ins Erdgeschoss, ging ins Wohnzimmer und blickte auf den schmalen Pfad hinaus; sie ertappte sich dabei, unwillkürlich zurückzuweichen, sodass die Vorhänge sie verbargen. Merkwürdig: Eine Polizistin kam auf die Tür zu. Gleich darauf ertönte ein eindringliches Klopfen.

Wahrscheinlich lag ein Irrtum vor; die Polizei hatte die falsche Adresse oder suchte vielleicht nach jemand anderem.

Ein saurer Geschmack flutete ihren Mund. Schlechte Neuigkeiten. Sie dachte an ihre Mutter, ein einziger, intimer Moment, der ihr einen Stich versetzte. In ihrer Erinnerung stieg auf, wie sie sich gebückt hatte, um die alte Frau auf die Stirn zu küssen, eine Umkehr derselben Geste, mit der ihre Mutter früher Alice geküsst hatte. Dabei hatte sie die weiße Kopfhaut durch das lichter werdende Haar schimmern gesehen. Alice war nicht in der Lage gewesen, für sie zu sorgen, und hatte sie in ein Heim bringen müssen.

Aber hätte das dortige Personal sie nicht einfach angerufen, wenn etwas vorgefallen wäre?

Sie würde nicht herausfinden, was passiert war, indem sie nur in der frühmorgendlichen Kälte herumstand, ohne sich zu rühren. Alice zog die Tür auf und erkannte, dass die Polizistin vermutlich kaum älter als sie selbst war, vielleicht sogar etwas jünger. Die Frau schaute auf und wirkte beinah überrascht darüber, Alice vor sich zu sehen – eindeutig das falsche Haus.

»Alice Hyland?«, fragte sie.

Alice runzelte die Stirn. Na schön, das richtige Haus, aber dann musste eben ein anderer Irrtum vorliegen. »Stimmt etwas nicht?«, platzte sie hervor.

Die Polizistin setzte dazu an, den Kopf zu schütteln, dann erkundigte sie sich: »Darf ich reinkommen?« Alices Magen verwandelte sich in Wasser. Die Polizistin musste ihr etwas am Gesicht abgelesen haben, denn sie versuchte zu lächeln. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, dass Sie mir vielleicht helfen können.« Sie hielt einen Ordner in den Händen und klopfte mit den Fingern darauf.

Alice ging durch die Küche voraus zur Rückseite des kleinen Hauses. Die Polizistin folgte ihr, gab sich als Wachtmeisterin Cate Corbin zu erkennen und bejahte die Frage, ob sie gern Tee hätte. Alice schaltete den Kessel ein, holte Tassen aus dem Schrank hervor und achtete auf das Zischen von Wasser, als es zu kochen begann. Sie wollte – nein, musste – immer noch die Bestätigung erhalten, dass es keine schlechten Neuigkeiten gab oder dass die Neuigkeiten vielleicht überhaupt nicht für sie bestimmt waren, doch sie empfand den alltäglichen Vorgang, Tee zu kochen, als beruhigend. Jemand mit schlechten Neuigkeiten im Gepäck würde bestimmt nicht zulassen, dass ihre Bekanntgabe so lange hinausgezögert wurde.

»Hübsche Aussicht«, meinte eine Stimme an ihrer Schulter, und Alice stieß selbst ein Zischen aus. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihr die junge Frau gefolgt war, hatte über das Geräusch des Kessels nicht gehört, wie sie sich genähert hatte. Ging die Polizei so vor – versuchte sie, Menschen aus der Fassung zu bringen? Aber Alice hatte nichts Unrechtes getan.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich die Polizistin. »Ich wollte sie nicht erschrecken.«

Als sich Alice umdrehte, bemühte sich die Frau erneut, zu lächeln. Sie schien nicht zu versuchen, Alice etwas mitzuteilen, ebenso wenig platzte sie vor Fragen; dennoch wirkten ihre Augen ernst, und ihrem Blick haftete eine unverkennbare Direktheit an. Alice zweifelte nicht daran, dass sie nachdrücklich sein konnte, wenn sie es wollte.

»Wollten Sie etwas von mir?« Die Worte kamen unverblümter heraus, als Alice es beabsichtigt hatte, und sie schwächte die Wirkung mit einem Lächeln ab. Gleichzeitig ergriff sie die Tassen und reichte der Polizistin eine davon.

»Es gibt keinen Grund, beunruhigt zu sein«, erklärte die Beamtin. »Ich bin hier, weil ich glaube, dass Sie mir unter Umständen mit Informationen helfen können – das heißt in beruflicher Eigenschaft.«

Alice runzelte die Stirn. »Ich bin Dozentin an der Universität«, sagte sie. »In Leeds. Ich … ich fahre mit dem Zug.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich unterrichte Literatur.«

»Ich weiß. Können wir uns setzen, Ms Hyland? Die Angelegenheit ist eher heikel. Es ist nichts, weshalb Sie persönlich beunruhigt sein müssten, trotzdem geht es um etwas ziemlich Ernstes.«

Alice deutete auf ihren Kiefernholztisch, und die Polizistin stellte ihre Tasse ab, nahm auf einem Stuhl Platz und legte den Ordner vor sich. Sie zog die Tasse näher zu sich, trank aber nicht daraus. Als sie dort saß, wirkte sie merkwürdig zögerlich, als hindere etwas sie daran, weiterzusprechen. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Ms Hyland«, begann sie schließlich.

»Alice.«

»Danke. Nennen Sie mich ruhig Cate.«

Die Aufforderung, diese Fremde in Uniform mit dem Vornamen anzureden, fühlte sich seltsam an, dennoch nickte Alice.

»Ich bin hier, weil ich eine Idee zu einem Fall habe, an dem ich gerade arbeite, und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen, einige Dinge zu klären. Man könnte eigentlich sagen, ich bin wegen eines Bauchgefühls hier. Ich suche nach Informationen im Zusammenhang mit einer Morduntersuchung.«

Alice zuckte zusammen, doch Cate hob eine Hand, um sie zu beruhigen. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen. Das Opfer wurde in einer ganz bestimmten … sagen wir Pose gefunden. Rings um das Mädchen wurden gewisse Gegenstände platziert. Ich darf zwar nicht in Bezug auf alle preisgeben, worum es sich handelt, aber vielleicht sagen Ihnen einige dieser Dinge etwas.«

»Mir? Warum sollten sie?« Alice blinzelte. Sie hatte die Meldungen über die im Wald gefundene Leiche gesehen – redete die Polizistin etwa davon? Alice war bestürzt darüber gewesen, doch damit hatte es für sie geendet. Sie war dem Mädchen nie begegnet, das man gefunden hatte; sie wusste nicht das Geringste über das Opfer.

Aber die Polizistin fuhr fort und beschrieb ihr bereits den Fundort: ein junges Mädchen, kaum mehr als ein Kind, abgeladen am Waldrand. Man hatte ihr einen Spiegel in die Hand gelegt, ihr Haar war schwarz gefärbt worden. Sie war Schönheitskönigin gewesen – die Krone hatte sich noch auf ihrem Kopf befunden. Die Fingernägel waren ihr ausgerissen worden, und ein Teil von ihr – auf den Cate nicht näher einging – war der Mutter geschickt worden.

»Es tut mir leid«, sagte Alice, hob die Hände und ließ sie wieder sinken, »aber ich weiß nicht, warum Sie mir das erzählen.«

Cate starrte sie eine Weile an, als wolle sie Alice abwägen. »Ich wollte Ihnen das eigentlich nicht zeigen, aber ich habe die Erlaubnis dafür, und um ehrlich zu sein, werden Sie wahrscheinlich erst verstehen, worauf ich hinauswill, wenn Sie einen Blick auf ein Foto werfen.« Sie setzte dazu an, den Ordner zu öffnen, den sie mitgebracht hatte.

Alice schüttelte rasch den Kopf. »Warten Sie kurz – wollen Sie damit sagen, dass da drin ein Foto einer Leiche ist? Das will ich nicht sehen.«

Cate schwieg einen Moment lang. »Mir ist klar, dass all das ziemlich unangenehm für Sie sein dürfte, aber Sie könnten wirklich in der Lage sein, uns zu helfen. Fälle wie dieser … können viele Interpretationen zulassen. Und die jeweilige Auffassung kann beeinflussen, welche Richtung die Ermittlungen einschlagen. Hier reden wir von einer … nun, sagen wir einfach von einer abweichenden Interpretation. Ich finde, es ist wert, ihr nachzugehen, auch wenn vielleicht nichts dabei herauskommt.«

Alice legte die Stirn in Falten. Sie hatte keine Ahnung, wovon die Frau redete. Interpretation eines Mordes? Was sollte das überhaupt bedeuten? Sie schüttelte erneut den Kopf, dennoch hielt sie die Polizistin nicht zurück, als die ein großes Foto aus der Akte hervorholte und auf dem Tisch ausbreitete. Den Rest hielt sie bedeckt.

Alice wollte nicht hinsehen, fand es jedoch unmöglich, den Blick nicht langsam auf das Bild zu richten. Sie konnte eine blasse, undeutliche Gestalt und einen Farbtupfer sehen, der eindeutig zu knallig anmutete, um Blut zu sein. Sie nahm Bruchstücke wahr, einzelne Details. Kleine Dinge, die ihr Verstand verarbeiten konnte, mehr nicht. Dann wanderte ihr Blick zum Gesicht des Mädchens, und sie schluckte. Das junge Ding sah mitleiderregend aus. Die Haut bildete einen scharfen Kontrast zu den roten Lippen und zum schwarzen Haar Ebenholz kam ihr als Wort in den Sinn, und dabei musste sie tatsächlich an etwas denken.

»Welcher Teil?«, fragte sie. Die Frage ertönte schroffer als beabsichtigt; vermutlich lag es an ihrer Bestürzung angesichts des Fotos. Der Tod – zumindest diese Art des Todes – war etwas, das sie im Fernsehen mitbekam oder worüber sie in Büchern las, aber nichts, das in ihr Leben eindrang. Nun sah sie mit eigenen Augen, dass er brutal und gnadenlos sein, foltern und verstümmeln konnte, bevor er schließlich eintrat.

»Was meinen Sie?« Cate klang verwirrt, zugleich ein wenig hoffnungsvoll.

»Sie haben gesagt, ihrer Mutter wurde etwas geschickt. Was war es?«

Cate schwieg einen Moment, bevor sie antwortete. »Eine Flasche«, antwortete sie schließlich. »Eine Flasche mit ihrem Blut.«

Alice runzelte die Stirn. »Seltsam«, meinte sie. »Nein. Nein, das ist albern. Es sieht so aus … Das kann nicht sein.« Sie schob das Bild ein Stück weit zurück über den Tisch und bedeckte es mit der Hand. Sie hatte es sich angesehen – war ihm ausgesetzt gewesen –, und das völlig umsonst. »Es ist fast wie etwas aus einem Märchen«, sagte sie. »Aber das Blut … Nein, das passt nicht wirklich. Und das Kleid hat nicht die richtige Farbe. Die Hände … Nein.«

»Es hat Sie an etwas erinnert.«

»Nur für einen Moment. Wie sie aussieht, die schwarzen Haare und alles …« Ebenholz, dachte sie erneut. »Das erinnert ein wenig an Schneewittchen, als sie mit dem Jäger in den Wald geschickt wurde, aber es ist nicht ganz richtig – es passt nicht wirklich zusammen. Und wenn das damit gemeint gewesen wäre, hätte beispielsweise die Flasche mit Blut ihre Zehe als Stöpsel haben müssen.«

Der Anblick der Miene der Polizistin ließ sie erstarren. Nach einer Weile stellte Alice fest: »Es gab also einen Stöpsel.«

»Das darf ich nicht sagen, Ms Hyland«, antwortete Cate rasch, doch ihr Tonfall verriet Alice alles.

»Es gab einen, nicht wahr? Nur hätten Sie nicht damit gerechnet, dass ich es weiß.« Alice durchquerte den Raum und ergriff einen Ranzen an der Tür. Sie öffnete ihn und blätterte durch das Papier darin. »Wo ist es nur? Aschenputtel Hänsel und Gretel … nein.« Sie zog ein Bündel Notizen heraus, sah es durch und seufzte frustriert. »Spielt keine Rolle. Ich kenne die Lesart. Ich glaube, sie ist italienisch. Die Königin befiehlt einem Jäger, Schneewittchen in den Wald zu schaffen und zu töten, weil sie eifersüchtig ist. Sie ist nicht mehr die Schönste im ganzen Land, und jeder weiß, wie sehr ihr das widerstrebt hat. Außerdem befiehlt sie, dass ein Teil zurückzubringen ist, um Schneewittchens Tod zu beweisen. Natürlich war der Spiegel in Wirklichkeit jener der Stiefmutter, aber …«

Cate fiel ihr ins Wort. »Sie hat dem Jäger befohlen, ihr eine Flasche mit Blut zu bringen?«

Alice nickte. »Mit der Zehe des Mädchens als Stöpsel, ja. Zumindest in Italien. Ich glaube, von dort stammt diese Lesart.«

»Lesart?«

»Richtig. Märchen datieren Jahrhunderte zurück. Ursprünglich waren sie volkstümliche Überlieferungen und nie dazu gedacht, niedergeschrieben zu werden. Vielmehr wurden sie mündlich weitergegeben, in der Regel von Frauen – es gab eine reiche Tradition des Geschichtenerzählens. Eigentlich eine wunderbare Sache – jede Erzählerin fügte ihre eigenen Details hinzu, brachte ihre Erfahrungen in die von ihr erzählten Geschichten ein, und jeder Zuhörer … Nun ja, auch die Zuhörer konnten jedes Mal etwas anderes heraushören, je nach ihrer eigenen Herkunft und ihren Erfahrungen. Es ist faszinierend. Trotzdem besitzen die Geschichten etwas, das im Wesentlichen ihr eigener Kern bleibt, verstehen Sie? Märchen sind eindrucksvoll. Manche meinen, das läge daran, dass sie archetypisch sind, dass …«

»Und eine Lesart ist …«

Alice lächelte. »Tut mir leid. Bei dem Thema kann ich mich nie bremsen. Es ist mein Spezialgebiet. Liegt wohl an meinem … Enthusiasmus. Wissen Sie, jedes Mal, wenn die Geschichte eines Märchens erzählt wird, ist sie ein wenig anders, und jede neue Erzählfassung bezeichnet man als Lesart.« Kurz verstummte sie. »In dieser bestimmten Version musste der Jäger eine Flasche mit Blut zurückschicken, in weiteren Lesarten andere Dinge. In wieder anderen Lesarten wird es ziemlich grausig.« Ihr Blick wanderte flüchtig zum Tisch. »Zum Beispiel verlangt die Stiefmutter die Lunge und die Leber, lässt sie in Salzwasser kochen und isst sie. In noch einer Lesart will sie das Herz – das Herz ist es in besonders vielen Fassungen –, und in wieder einer anderen sind es, so glaube ich, die Eingeweide und eine blutdurchtränkte Bluse. Sie dürfen nicht vergessen, dass einige dieser Geschichten aus Zeiten mit brutalen Lebensumständen stammen. Leben und Tod – beides lag nah beisammen, verstehen Sie? Früher wurden die Menschen nicht von Leichenbestattern und Krankenhäusern vor dem Sterben abgeschirmt oder …« Alice schaute kurz zu dem Foto und gleich wieder weg. »Tut mir leid.«

»Schon gut.« Cate starrte sie an. »Sie glauben also, dass tatsächlich etwas dran ist? Dass die Leiche so angeordnet wurde, um eine Kindergeschichte nachzuahmen?«

»Oh, Märchen waren nicht für Kinder«, berichtigte Alice. »Jedenfalls nicht ursprünglich. Das kam erst, nachdem sie von Menschen wie den Grimms zusammengetragen wurden, und selbst die Brüder versahen die Originalausgabe des Buchs mit der Warnung, dass es eigentlich nicht für Kinder geeignet sei. Es ist einfach so, dass die Menschen sie auf diese Weise lesen wollten, und durch den Marktdruck … Tut mir leid, ich fange schon wieder an. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass sich die Geschichten im Verlauf der Zeit verändert haben … sie wurden gewissermaßen verstümmelt. Aber das …« Sie runzelte die Stirn. »Das hier geht auf die dunkle Seite volkstümlicher Geschichten zurück, nicht wahr? Nicht auf eine zahnlose, verwässerte Erzählform – auf die echte.« Einen Moment lang verstummte Alice. »Sie waren rot an Zahn und Klaue.«

»Was?«

»Märchen.« Alice sprach langsamer und in nüchternem Tonfall. »Die echten Märchen, rot an Zahn und Klaue, um Tennyson zu zitieren. So betrachte ich sie.«

Cate starrte ins Leere. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass Alice sie beobachtete, und sie versuchte zu lächeln; es misslang ihr. »Ich muss mehr darüber erfahren«, sagte sie. »Ich muss jeden Aspekt des MO beleuchten und herausfinden, inwiefern er sich auf Märchen bezieht. Ich muss etwas zusammenstellen, das ich dem Team präsentieren kann. MO bedeutet übrigens Modus Operandi

»Ich weiß, was das bedeutet«, erwiderte Alice. »Ich sehe fern.« Sie nickte in die Richtung des Tisches. »Möchten Sie noch eine Tasse Tee?«

Alice ging nacheinander jeden Gegenstand durch und reagierte auf Stichworte von Cate. Nach einiger Zeit nahm die Polizistin ihre Dienstmütze ab. Darunter kam glattes braunes Haar zum Vorschein, kurz geschnitten und auf aggressive Weise mit Klammern fixiert. Sie fertigte Notizen an. Den Anfang bildete das Offensichtliche: Schneewittchen war eine Königstochter, daher die Krone. Natürlich hätte das auch ein Zufall sein können, ein Überrest von der Tanzveranstaltung, bei der das Mädchen in der Nacht davor gewesen war, aber sie hielten es trotzdem fest. Das schwarze Haar … Schneewittchens Mutter hatte sich ein Kind mit Haar so schwarz wie Ebenholz, mit Lippen so rot wie Blut und mit Haut so weiß wie Schnee gewünscht. Bei den Worten schaute Alice wieder zum Foto, und Cate legte es so hin, dass beide den gleichen guten Blick darauf hatten. Diesmal fiel es Alice leichter, und sie betrachtete es eine Weile und musterte das zutiefst schwarze Haar – mittlerweile fand sie es offensichtlich, dass die Farbe aus einer Flasche stammen musste. Auch der Lippenstift sah aus, als stamme er aus einer anderen Zeit – ein knalliges Rot wie das eines englischen Briefkastens. Sie kniff die Augen zusammen. Das Mädchen hatte ihn auf keinen Fall selbst aufgetragen, auch wenn er wahrscheinlich erst danach verschmiert worden war. Alice runzelte die Stirn. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie das geschehen sein mochte. Das Gesicht auf dem Foto war geradezu weiß. Der Tod hatte für eine Blässe gesorgt, die ihre Wangen ausgebleicht und sogar ihre weit aufgerissen ins Leere starrenden Augen verblassen lassen hatte.

Cate klärte sie über die Spuren von Bleichmittel auf, die man an der Haut gefunden hatte.

Alice streckte die Hand nach dem Bild aus, als wolle sie es ergreifen, zog dann aber die Finger wieder zurück.

»Kein schöner Anblick«, meinte Cate.

»Nein«, pflichtete Alice ihr bei. »Ist es wirklich nicht.«

Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Letztlich fragte Alice: »Glauben Sie, dass er es deshalb getan hat?«

»Was?«

»Um eine Geschichte aus ihr zu machen. Um sich irgendwie von der Realität dessen, was er tut, zu distanzieren.«

»Möglich«, räumte Cate ein. Dann fügte sie in unverbindlichem Tonfall hinzu: »Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir weitermachen?«

Alice holte tief Luft. Sie überlegte kurz und ließ sich die Geschichte durch den Kopf gehen. »Na schön«, willigte sie ein. »Also, Schneewittchens richtige Mutter stirbt, und der König heiratet wieder. Die Stiefmutter ist eitel – sehr eitel – und besitzt einen magischen Spiegel. Er sagt ihr, dass sie die Schönste im ganzen Land ist.« Sie deutete auf das Foto. »Ich vermute mal, das in Schneewitt…, ich meine, in der Hand des Mädchens ist ein Spiegel, richtig?«

Cate nickte.

»Also passt das, obwohl es eigentlich der Spiegel der Stiefmutter sein sollte. Gut. Also weiter. Allmählich wird Schneewittchen immer schöner, und die Stiefmutter wird immer eifersüchtiger. Schließlich übertrifft das Kind das gute Aussehen der Stiefmutter, und die Königin befiehlt, Schneewittchen zu töten. Der Jäger bringt sie also in den Wald. Die verbreitetste Lesart von Schneewittchen ist die deutsche, weil die Grimms sie zusammengestellt und niedergeschrieben haben. Darin verlangt die Königin vom Jäger, ihr Lunge und Leber als Beweis mitzubringen. Aber Schneewittchen ist so schön, dass der Jäger sie nicht töten kann – ihr Glück. Er lässt sie laufen und bringt der Stiefmutter und Königin stattdessen die Lunge und die Leber eines Keilers. In diesem Fall jedoch haben wir es mit der italienischen Lesart zu tun – daher Flasche und Zehe. Wiederum passt so weit alles ins Bild.«

»Alles klar.«

»Schneewittchen wandert also verirrt und verängstigt durch den Wald, bis sie auf das Häuschen stößt, in dem die Zwerge leben. Auch die Zwerge haben aufgrund der deutschen Version Berühmtheit erlangt: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Sie lassen Schneewittchen bleiben, und die kümmert sich für sie um deren Haushalt. Aber die Hexe – die Königin – hat immer noch ihren Spiegel, und er teilt ihr mit, dass Schneewittchen noch lebt. Die Königin kann den Gedanken nicht ertragen, dass es irgendwo irgendjemanden gibt, der schöner ist als sie.«

»Eitelkeit«, murmelte Cate.

»Eitelkeit. Genau. Also verkleidet sie sich als Hökerin und bricht auf, um das Mädchen selbst zu töten. Zuerst gibt sie ihr Schnürriemen und zieht sie so fest, dass Schneewittchen zwar ohnmächtig wird, aber sie stirbt nicht. Der erste Fehlschlag bei dem Versuch, das Mädchen umzubringen. Dann versucht sie es mit einem vergifteten Kamm.« Alice nahm das Bild in Augenschein. »Haben Sie irgendwo einen Kamm gefunden?«

Cate runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht.« Sie fasste in den Ordner und betrachtete prüfend mehrere Fotos, ohne sie Alice zu zeigen. »Ich sehe keinen.«

»Nun, danach bringt sie Schneewittchen – zumindest in dieser Lesart – dazu, einen vergifteten Apfel zu essen. In der italienischen Version ist es ein vergifteter Kuchen, glaube ich. In beiden Fällen schafft sie es in diesem Fall: Ein Stück bleibt der jungen Frau in der Kehle stecken, und sie fällt um, als wäre sie tot. An der Stelle scheint diese Geschichte zu enden. Im Märchen kommt anschließend natürlich der schöne Prinz, und das Apfelstück springt aus ihrem Hals. Schneewittchen erwacht aus dem Koma, und die beiden leben glücklich bis an ihr Ende.«

Cate legte das Foto auf den Tisch. Es zeigte die Hand des Opfers, die Finger um die blutigen Kuppen eingerollt. Ein Stück entfernt lag inmitten des grauen Mulchs des Abfalls anderer Menschen ein halb aufgegessener Apfel.

»Da haben wir ihn«, murmelte Alice und legte die Stirn in Falten. Sie zog das Foto zu sich. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Ihre Hände – warum hat er das mit ihren Händen gemacht?«

»Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir vielleicht erklären.«

Alice schüttelte den Kopf.

»Ist wohl doch nur eine Geschichte«, meinte die Polizistin. »Wer immer das getan hat, könnte Gründe gehabt haben, die in gar keiner Verbindung zu einem Märchen stehen.«

»Nein«, widersprach Alice gedehnt. »Da ist etwas.« Eine Weile verharrte sie und fuhr mit den Händen über den Tisch, stets in der Nähe des Fotos, ohne es jedoch zu berühren. Dann schnippte sie mit den Fingern. »Sie hat Hausarbeiten erledigt«, sagte sie. »Schneewittchen hat sich um die Zwerge gekümmert. Sie hat die Böden geschrubbt und die Kleidung gewaschen.« Ihre Stimme wurde leiser. »Man könnte sagen, sie hat sich die Finger wundgearbeitet. Trotzdem scheint das als Vergleich zu viel zu sein. Was ihr angetan wurde …«

»Sehe ich auch so«, pflichtete Cate ihr bei. »Aber dieses Mädchen … Ihre Mutter hat ausgesagt, sie hätte sich vor der Tanzveranstaltung die Nägel lackiert. Dabei kam es zu einem Streit über die Farbe des Lacks. Vielleicht liegt es daran, dass derart aufgemachte Fingernägel nicht zur Geschichte gepasst hätten, eben weil sie ungeeignet zum Arbeiten gewesen wären, nicht praktisch und der Rolle nicht angemessen. Eine Sache von Eitelkeit.« Ihre Stimme verklang.

Es war Alice, die fortfuhr. »Das könnte es sein. Oder es könnte schlichte und einfache Grausamkeit gewesen sein.«

Cate schüttelte den Kopf, als wolle sie sich wachrütteln. »Ich konnte Bleichmittel riechen«, verriet sie. »Es war auch an ihren Händen. Natürlich wusste ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht.«

»Sie konnten es riechen? Soll das heißen … Sie haben sie in echt so gesehen? Sie waren dort?«

Cate seufzte. »Ich war unter den Ersten am Fundort.«

Alice nahm an, dass die Polizistin noch mehr hinzufügen wollte, doch das tat sie nicht. Sie schaute an der Beamtin vorbei zum Fenster, durch das sie in den hinteren Garten sehen konnte. »War der Apfel vergiftet?«, fragte sie.

Cate runzelte die Stirn. »Wissen wir noch nicht.« Sie folgte Alices Blick, dann drehte sie sich ihr zu. »Warten Sie – da war eine Giftflasche.« Sie schilderte die Rillen auf der Flasche, die der Mutter des Mädchens zugestellt worden war.

Alice nickte. »Die Mutter«, murmelte sie. »Ich frage mich, ob sie wirklich ihre Mutter ist. Oder könnte das Mädchen ein Stiefkind gewesen sein? In der Geschichte – zumindest in den meisten Versionen davon – ist nämlich Schneewittchens Stiefmutter die Ursache aller Ereignisse. Sie ist diejenige, die eifersüchtig ist und ihre Stieftochter beseitigen will.«

»Ich überprüfe das«, gab Cate zurück. »Es ist ein interessanter Gedanke.«

»Natürlich war in den Originalfassungen von Märchen häufig die echte Mutter die Schurkin. Nacherzähler wie die Gebrüder Grimm haben das allerdings abgeschwächt. Das gehörte für sie dazu, um die Geschichten harmloser, weniger erschreckend und somit geeigneter für Kinder zu machen. Die Mutter wurde oft in eine Stiefmutter verwandelt, um sie vom Opfer zu distanzieren, und diese Fassungen sind wesentlich bekannter geworden als die Originale.« Kurz verstummte sie. »Falls sich herausstellt, dass dieses Mädchen adoptiert wurde oder aus einer früheren Ehe stammt, dann haben Sie es natürlich mit etwas Komplexerem zu tun. Das würde bedeuten, dass dieses Mädchen nicht zufällig ausgesucht wurde. Wer immer es getan hat, dürfte sie beobachtet und Informationen über sie eingeholt haben.«

Cate nickte, wenngleich sie sich kilometerweit entfernt befand, tief in Gedanken versunken. »Ich gehe dem nach.«

Alice schwieg. Sie schaute erneut zum Fenster und musste unverhofft an den blauen Vogel denken. Wieder kam ihr der Gedanke, wie seltsam diese Begegnung gewesen war. Sie war daran gewöhnt, sich in Märchen zu vergraben, doch nun schienen die Märchen aus den Wäldern zu kommen, durch die Tür zu treten und sich in ihr Leben zu drängen.

Sie lenkte die Gedanken zurück zu der Geschichte, die das Foto erzählte, zur Geschichte des wunderschönen Mädchens, das seinen Prinzen findet. Und ihr Mund klappte auf.

»Was ist?«, fragte Cate. »Was?«

»Mir ist nur … Das Mädchen war in der Nacht, als es passiert ist, bei einer Tanzveranstaltung, richtig? Ich habe es in den Nachrichten gesehen. Sie wurde zur Frühlingskönigin oder so gekürt. Es wurde groß aufgebauscht, wie tragisch das alles sei.«

»Ja«, bestätigte Cate. »Ich hab’s auch gesehen. Und ja, das war sie. Die Krone hat sie noch getragen, als wir sie gefunden haben.«

Alice ließ die Hand auf den Tisch niedersausen. »Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen?«, stieß sie hervor. »Ich bin eine solche Idiotin …«

»Was haben Sie gesehen?«

»Es geht um die Krone«, erwiderte Alice. »Die hatte sie nicht nur auf dem Kopf, weil Schneewittchen die Tochter eines Königs war. Es hat mehr damit auf sich als allein das. Das Opfer ging zu der Tanzveranstaltung und gewann den Wettbewerb – es wurde zu einer Schönheitskönigin.«

»Und?«

Alice stimmte ein kurzes, freudloses Lachen an. »Sie wurde gekrönt«, erklärte sie. »Zur Schönsten – verstehen Sie denn nicht? Chrissie Farrell wurde ausgewählt, weil sie die Schönste im ganzen Land war.«