Kapitel 31
Cate starrte auf die Morgenzeitungen und überflog die Schlagzeilen: WOLF SCHLÄGT WIEDER ZU. VORSICHT VOR DEM EINSAMEN WOLF. WOLFSMÖRDER VERLÄSST DEN WALD. Sie hatte es zwar kommen sehen, trotzdem fühlte es sich nicht real an. Cate warf die Zeitungen beiseite und rieb sich die Rückstände der Druckerschwärze von den Fingern. Sie musste sich auf die Ermittlungen konzentrieren, auch wenn sie ein Rätsel darstellten, das sie nicht zu lösen imstande war: Nichts passte zusammen.
Sie hatte bei Dan nachgefragt und erfahren, dass Heath vom Team bereits alte Fälle überprüfen ließ, die Jahre zurückreichten. Bislang hatte man nichts gefunden, was zu passen oder auch nur annähernd einen Bezug zu den aktuellen Geschehnissen aufzuweisen schien. Außerdem hatte man versucht, Verbindungen zwischen den toten jungen Frauen herzustellen: Chrissie Farrell, Teresa King und Ellen Robertson. Was hatten ein Teenager aus der Gegend, eine Prostituierte aus Leeds und eine Hausfrau gemeinsam? Nichts, was sie entdecken konnten.
Auch der Profiler hatte Schwierigkeiten, etwas Sinnvolles zusammenzustellen. Cate hatte den Bericht gelesen, und er enthielt zwar eine Menge Worte, aber wenig Handfestes: Er legte nahe, dass der Mörder aufgrund der erforderlichen körperlichen Kraft vermutlich männlich sei, konnte aber eine Frau aufgrund des Wissens über Märchen nicht ausschließen. Vermutlich entstammte der Täter einer zerrütteten Familie mit einer dominanten Mutter und einem Vater, der entweder ebenfalls dominant oder unscheinbar, vielleicht auch abwesend war. Er – oder sie – konnte in jungem Alter ein Trauma erlitten haben, vielleicht dem Anblick einer Leiche ausgesetzt gewesen sein; das konnte einen Grund dafür darstellen, warum er nun Zuflucht in Märchen suchte. Wahrscheinlich hatte der Täter außerdem Probleme, Beziehungen aufzubauen. Kurzum, es gab rein gar nichts, das ihnen helfen konnte, einen Verdächtigen zu identifizieren. Das Profil taugte lediglich dazu, den Mörder damit zu vergleichen, nachdem man ihn gefunden hätte.
Chrissie, eine junge Schönheit in ihrer Blüte. Teresa, die den Weg der Nadeln eingeschlagen hatte. Ellen, eine junge Braut – das erinnerte doch auch an etwas aus einem Märchen, oder? Endeten nicht die meisten mit einer glücklichen Ehe? Für Ellen allerdings hatte die glückliche Ehe gerade erst begonnen. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, viel daraus zu machen, hatte noch kaum neue Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen. Die meisten ihrer Verbindungen befanden sich kilometerweit entfernt und entstammten ihrer Vergangenheit.
Seufzend versuchte Cate, die Gedanken in eine produktivere Richtung zu lenken. Ursprünglich hatte sie geglaubt, der Mörder ließe sich durch seine Besessenheit von Märchen fassen, doch vielleicht stellte das den falschen Ansatz dar; vielleicht musste sie mehr über die praktischen Aspekte und konkreten Dinge nachdenken. Halb schloss sie die Augen und stellte sich die wunderschöne Chrissie Farrell in ihrem Ballkleid vor; Ellen Robertson, eine attraktive Frau, gut gekleidet und manikürt; und Teresa King, ein zu stark geschminktes Mädchen, das an einer Mauer lehnte. Hatten sie so aus der Sicht des Mörders ausgesehen, des Wolfs auf der Jagd? Vielleicht lag der Schlüssel dazu, ihn zu fassen, im Verständnis der Art, wie er die Opfer ausgewählt hatte und was sie miteinander verband.
Cate runzelte die Stirn. Der Mörder, ob männlich oder weiblich, musste sich irgendwie mit den Opfern davongemacht haben. Bei Teresa King schien es durchaus möglich zu sein, dass sie freiwillig ins Auto gestiegen war, bei den anderen hingegen war dafür vermutlich Gewalt erforderlich gewesen. Oder war auch Chrissie Farrell aus freien Stücken mit irgendjemandem mitgefahren? Sie war betrunken gewesen, als sie die Tanzveranstaltung verlassen hatte, was die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhte. Ellen Robertson war anscheinend aus dem Haus gegangen und verschwunden, zumindest, bis sie im Burggraben gefunden wurde; über die Zeit dazwischen war nichts bekannt. Allerdings gab es durchaus Anzeichen von Gewalteinwirkung – Schläge in Teresas Gesicht und auf Ellens Kopf, außerdem die Fesselungsspuren. Ferner mussten die Leichen über eine gewisse Entfernung transportiert worden sein. Vielleicht hatte es der Mörder unmöglich gefunden, Ellen hinauf zum Gipfel des Burghügels zu schaffen, aber der Baumgarten, in dem man Teresa gefunden hatte, befand sich ebenfalls ein gutes Stück von der nächstgelegenen Zufahrtsmöglichkeit entfernt, auch wenn der Transport dort spätnachts und im Schutz der Dunkelheit erfolgt war. Chrissie, das erste Opfer, war praktisch am Straßenrand zurückgelassen worden. War der Mörder mit der Zeit ehrgeiziger geworden, hatte aber feststellen müssen, dass seine Ideen die Möglichkeiten letztlich überstiegen?
Cate starrte auf ihre Hände hinab. Unerklärlicherweise gingen ihr gewisse Worte durch den Kopf, etwas, das Alice gesagt hatte: Meiner Mutter geht es nicht gut – sie erinnert sich an kaum etwas. Sie lebt jetzt in einem Heim.
Warum war ihr das in den Sinn gekommen? Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Hatte Alice nicht gesagt, sie habe sich um ihre Mutter gekümmert, bevor sie die Frau weggeben musste? Aber wie sehr? Und auf welche Weise hatte sie sich um sie gekümmert? Vermutlich hatte sie die alte Dame dabei auch heben müssen, also kannte sie die besten Techniken dafür. Nein – was hatte Alice noch hinzugefügt? Allein bin ich mit ihr nicht zurechtgekommen.
Natürlich nicht. Nein, das Problem lag nicht bei Alice. Cates derzeitige Ambivalenz gegenüber der Dozentin hatte bestimmt mehr damit zu tun, wie sie sich gefühlt hatte, als Alice ihr Auto erwähnte – weniger verärgert durch die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, als vielmehr durch den Umstand, dass sie selbst gar nicht daran gedacht hatte. Sie war einfach von einer Annahme ausgegangen. Mehr noch, es hatte damit zu tun, wie Stocky sie angesehen hatte, als sie ihn ersucht hatte, Alices Gegenwart am See aus den Aufzeichnungen herauszuhalten. Daraus konnte sie Alice keinen Vorwurf machen. Außerdem fungierte sie nunmehr als Ansprechbeamtin für die Dozentin; sie trug die Verantwortung für Alice.
Aber die jungen Frauen waren weggelockt oder entführt worden, vielleicht auch in einer Kombination von beidem. Bei den beiden ersten musste es relativ einfach gewesen sein – eine helfende Hand für Chrissie wie ein weißer Ritter, der Rettung anbot. Bei Teresa eine weitere schnelle Nummer. Und bei Ellen … was? Ein unerwarteter Besucher, der um Hilfe bei einem fiktiven Problem gebeten hatte? Es hatte keine Anzeichen auf einen Kampf gegeben, jedenfalls nicht im Haus; nur die blauen Flecken an ihrem Körper, was darauf schließen ließ, dass der Kampf woanders stattgefunden hatte. Der Ehemann hatte denselben Eindruck, und er kannte sie schließlich am besten. Was hatte er noch mal gesagt? Sie muss die Tür aufgemacht haben. Der Alarm war nicht eingeschaltet gewesen, das Haus hatte sich verwaist präsentiert.
Der Alarm. Cate legte die Stirn in Falten. Der Lehrer, Matt Cosgrove, hatte versucht, einen Alarm zu aktivieren, wodurch er bei der Tanzveranstaltung aufgehalten worden war, oder? Einen Alarm, der sich nicht richtig einschalten lassen wollte, der ständig losging. Sie schüttelte den Kopf. Das war eine fadenscheinige Verbindung: Wie Heath gesagt hatte – wenn man genau genug hinsah, fand man überall Verdachtsmomente. Und er hatte recht, es gab keine wirkliche Verbindung: Der Alarm der Robertsons war nicht eingeschaltet gewesen, weil Ellen zu Hause und vermeintlich in Sicherheit gewesen war. Cosgrove hatte den Alarm nicht eingeschaltet, weil … ja, warum genau eigentlich nicht? Hatte man sich überhaupt danach erkundigt?
Es konnte etliche Gründe dafür geben. Vielleicht hatte er den falschen Code eingegeben oder nicht die richtigen Tasten gedrückt, um ihn scharfzumachen. Vielleicht hatte ihn etwas abgelenkt, und er hatte sich deshalb ungeschickt angestellt. Oder es könnten Fenster oder Türen offen gewesen sein, und irgendetwas hatte die über das Gebäude verteilten Bewegungsmelder ausgelöst.
Oder vielleicht befand sich noch jemand im Gebäude. Auch das hätte die Bewegungsmelder aktiviert.
Cate rieb sich die Stirn. Es konnte aber niemand mehr dort gewesen sein, oder? Das Mädchen, das sie befragt hatte, Hayley Moorhouse, hatte gesagt, sie sei die Letzte gewesen, und das auch nur aus dem Grund, weil sich ihr Freund auf der Toilette übergeben hatte. Und sie hatte Mr Cosgrove zugewinkt, als sie schließlich ging. Ja, so war es gewesen, denn ihr Vater hatte draußen im Auto gewartet und war wütend gewesen. Cate konnte immer noch vor sich sehen, wie zappelig er während der Befragung gewesen war, wie er an seinen Fingernägeln herumgezupft hatte.
Er ist ohnehin schon ausgerastet, weil es so spät war.
Nein. Etwas anderes stimmte nicht an dem Bild. Der Mann war ungeduldig gewesen, ja, aber das hatte Hayley nicht gesagt, oder? Sie hatte es anders formuliert – an die Worte konnte sich Cate nicht erinnern, dafür an den Blick, den das Mädchen dem Vater zugeworfen hatte. Er hatte zu entschuldigend, zu respektvoll gewirkt, um zu den Worten zu passen.
Er ist ohnehin schon ausgerastet, weil es so spät war.
Dann fiel es ihr ein – nicht Hayley Moorhouse hatte es gesagt, sondern jemand anderes, ein anderes Mädchen. Ein Mädchen, das durchaus neidisch auf Chrissie Farrell gewesen sein mochte. Das war Sarah gewesen: Sarah Brailsford.
Cate schloss die Augen. Ihr wurde übel. Sie hatte selbst mit dem Mädchen gesprochen, und irgendetwas war ihr dabei entgangen. Sie konnte es fühlen – etwas, das ihr hätte auffallen müssen. Er ist ohnehin schon ausgerastet, weil es so spät war.
Warum? Allen Berichten zufolge hatte die Tanzveranstaltung pünktlich geendet, und Hayley hatte das bestätigt: Sie war aufgehalten worden, aber alle anderen waren gegangen. Wenn Sarah also pünktlich gegangen war, wieso sollte ihr Vater dann so wütend gewesen sein? Es sei denn, er hatte seinem Kind eine frühere Zeit vorgeschrieben. Aber Cate hatte Sarah als extrovertierte, selbstsichere junge Frau empfunden, als jemanden, der gehofft hatte, von den anderen Mädchen einen Schluck Tequila zu ergattern, nicht als eine Mimose, die in Watte gepackt wurde. Sie war Cate wie jemand vorgekommen, den Gleichaltrige gern in ihre Clique aufnehmen würden … abgesehen von Chrissie Farrell vielleicht.
Und woran genau lag das?
Sie erinnerte sich an etwas anderes, dass Sarah gesagt hatte, als Cate ihr ein wenig zugesetzt, etwas Druck ausgeübt hatte; und sie erinnerte sich daran, wie sie bei den Worten den Blick abgewandt hatte.
Ich dachte, er mag mich auch.