Kapitel 9
Cate kehrte zum Revier zurück und lief rasch über den Parkplatz zum Personaleingang an der Seite des Gebäudes. Den Ordner hatte sie sich unter den Arm geklemmt, und sie spürte sein Gewicht. Die darin festgehaltenen Worte gingen ihr unablässig durch den Kopf, beinahe so, als würden sie ihr zugeflüstert. Sie schaute zu Boden und erblickte verstreute Zigarettenstummel am Fuß der Stufen. Cate stellte sich vor, wie Heath mit verkniffener Miene hin und her lief. Würde er sich eine solche Geschichte wirklich anhören? Sie war sich nicht sicher. Zwar hatte sie die Erlaubnis einholen müssen, um Alice die Fotos vom Fundort zeigen zu dürfen, aber sie hatte sie von Polizeikommissar Grainger erhalten, nicht vom Ermittlungsleiter. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Würde Heath annehmen, dass sie ihn bewusst mied? Andererseits hatte sie das ja vielleicht getan. Sie hatte den Mann noch nie ohne diesen barschen Gesichtsausdruck gesehen. Seine Mundwinkel zeigten selbst dann nach unten, wenn er eine neutrale Miene aufsetzte. Und er konnte unmöglich vergessen haben, wie Stocky und sie zu der Müllhalde gestürmt waren und dabei möglicherweise wichtige Beweise zertrampelt hatten.
Aber jetzt würde er ihr doch bestimmt zuhören müssen, oder? Ihre Informationen warfen ein völlig neues Licht auf den Fall. Chrissie war zum Teil einer Geschichte gemacht worden, deren Fäden bewusst gesponnen worden waren, und das konnte die gesamte Herangehensweise an die Ermittlungen ändern. Wenn stimmte, was Alice angedeutet hatte, konnten sich daraus sogar neue Verdächtige ergeben – wie die Dozentin gesagt hatte, war die Mutter in Märchen oft die Schurkin. Märchen strotzten vor Familienbeziehungen, die in die Brüche gegangen oder verdorben worden waren. Begannen nicht viele der Geschichten so? Eine böse Stiefmutter, eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Tochter. Als Cate daran dachte, musste sie zugleich unwillkürlich an das Foto denken, das zerschnitten worden war – das mit Mrs Farrell in jenem lächerlichen Kleid, weiß neben dem Gelb ihrer Tochter, aber trotzdem das gleiche Kleid. Was genau hatte die Frau damit zu beweisen versucht?
Ein weiteres Bild von Angie Farrell tauchte vor ihr auf. Cate schloss halb die Augen und sah den starren Blick, die Verwirrung, den Schmerz der Frau vor sich. Konnte sich Cate wirklich vorstellen, dass Angela Farrell mehr mit der Sache zu tun gehabt hatte, als ihre Tochter in jener Nacht allein zu lassen? Jedenfalls hatte die Mutter so sehr am Boden zerstört gewirkt, dass sie eine solche Tat nicht begangen haben konnte.
Dennoch blieb die Tatsache, dass irgendjemand vorsätzlich Chrissie ausgewählt hatte, und vielleicht hatte dieser Jemand gewusst, dass Chrissie in der Nacht gekrönt werden würde.
Die Schönste im ganzen Land.
Cate drückte den Ordner enger an die Brust, als jemand durch den Haupteingang herauskam, der von der Öffentlichkeit benutzt wurde. Die Frau stieß beinah mit Cate zusammen, als sie die Stufen heruntereilte. Cate spürte die strähnigen, ungewaschenen Haare der zierlichen jungen Frau an der Hand und erhaschte einen flüchtigen Blick auf gehetzt wirkende Augen und einen teigigen Teint. Einen Moment lang musste sie an Kreaturen denken, die aus beengten, dunklen Orten hinaus ins Tageslicht wuselten, ein Akt, der gehörigen Mut erforderte. Da steckt jemand in Schwierigkeiten, ging ihr durch den Kopf, als sie zum Nebeneingang hintrat, den Zugangscode eingab, die Tür aufschob und in den Aufzug stieg. Ungeduldig verlagerte sie das Gewicht von einem Bein aufs andere, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.
Als sie auf den Besprechungsraum zusteuerte, erblickte sie Wachtmeister Stockdale an seinem Schreibtisch. Er beobachtete sie. Cate ging zu ihm und begann: »Len, du wirst nicht glauben, was ich herausgefunden habe. Ich war bei dieser …«
Er öffnete den Mund, doch Cate ließ ihm keine Gelegenheit, ihr ins Wort zu fallen. »Ich hatte recht«, kam sie ihm zuvor. »Es war tatsächlich inszeniert, genau wie ich dachte. Ich war bei einer Dozentin von der Universität, und sie wusste alles darüber. Wir sind alles durchgegangen …« Sie deutete auf den Ordner, den sie hielt.
Er schaute nicht einmal hin. »Langsam mit den jungen Pferden. Sag nicht, dass du immer noch Märchen nachrennst.«
»Aber es passt alles zusammen, Len: die Krone, die Haare, die Fingernägel …«
Schnaubend stieß er die Luft aus. »Die gute Fee, die Zwerge – hast du auch Engel gesehen, Cate? Ich hoffe, du hast dir keinen Engelsstaub reingezogen, denn weißt du, gegen so etwas gibt es Gesetze.«
Cate wischte seine Kommentare kurzerhand weg. »Aber das ist es, Len, ich sag’s dir. Sie wusste sogar von der Zehe.«
»Holla, jetzt mal langsam.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Du hast jemandem von der Zehe erzählt? Das ist eine vertrauliche Information, Cate, du hast den Ermittlungsleiter doch gehört. Dieses Detail sollte vor der Presse, vor Zeugen, einfach vor jedem geheim gehalten werden.«
»Das ist es ja gerade: Ich habe nicht ihr davon erzählt, sie hat mir davon erzählt. Es ist dieses alte Märchen oder zumindest eine Version davon. Sie wusste haargenau, worauf wir achten sollten. Die Stiefmutter in der Geschichte fordert einen Jäger auf, loszumarschieren und ihre Stieftochter umzubringen, richtig? Und er soll eine Flasche mit Blut zurückschicken, die mit einer Zehe zugestöpselt ist, um zu beweisen, dass sie tot ist.«
Len Stockdale runzelte die Stirn. »Na schön, ich gebe zu, das ist merkwürdig. Trotzdem würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen, wie du Heath das beibringst. Er reißt dir den Kopf ab, falls er glaubt, du hättest über die Zehe geplaudert. Und ich würde ihm noch eine halbe Stunde Zeit geben, wenn ich du wäre.« Seine verkniffene Miene wich einem verhaltenen Lächeln. »Sieht nämlich so aus, als hätten sie den Mistkerl.«
»Was?« Cate war verdutzt. Sie hatte den Beweis, den sie brauchten, um diesen Fall zu knacken. Alles war hieb- und stichfest: Es funktionierte. Zum einen konnte es ein Sprungbrett für ihre Karriere sein – zum anderen würde es Chrissie Farrell die Gerechtigkeit verschaffen, die sie verdiente.
»Es ist Cosgrove«, verriet Stocky und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Er hat gelogen, was sein Alibi anging. Seine Frau war gerade hier: Anscheinend ist er in der Nacht doch nicht schnurstracks nach Hause gefahren – in Wirklichkeit kam er erst in den frühen Morgenstunden heim. Sie konnte ihn gar nicht schnell genug anschwärzen. ›Die Hölle selbst vermag nicht so zu wüten, wie eine verschmähte Frau es kann.‹« Den letzten Teil genoss er sichtlich und ließ die Worte gedehnt über die Lippen gleiten.
Cate starrte ihn mit ausdruckslosem Blick an. Die Hölle selbst vermag nicht so zu wüten, wie eine verschmähte Frau es kann – ja, das konnte sie verstehen, allerdings in Bezug auf Mrs Farrell, nicht bei dieser Mrs Cosgrove. Sie dachte an die Frau zurück, von der sie beim Betreten des Reviers gestreift worden war, an den zu Boden gerichteten Blick, die teigige Haut. War das die Frau des Lehrers gewesen? Sie hatte keineswegs wutentbrannt ausgesehen – vielmehr hatte sie niedergeschlagen gewirkt.
»Wie meinst du das, eine verschmähte Frau? Warum hat sie es sich anders überlegt? Hat er etwa zugegeben, sich mit Chrissie getroffen zu haben?«
Stocky zuckte mit den Schultern. »Noch nicht«, räumte er ein, »aber der Frau sind auf jeden Fall die Gerüchte zu Ohren gekommen.«
Dabei verspürte Cate ernste Bedenken. Soweit sie wusste, war es noch niemandem gelungen, diese bestimmte Geschichte zu ihren Wurzeln zurückzuverfolgen. Auch wenn der Verdacht gegen den Lehrer nach der wahrscheinlichsten Option aussah, traute Cate ihr nicht recht. Sie betrachtete Stocky, sah die Befriedigung in seinem Gesicht und fragte sich, wie viel davon auf Gedanken an seine eigenen Kinder und die Dinge zurückging, die er mit jemandem anstellen würde, der ihnen etwas antat. Aber vielleicht gründete ihre Skepsis lediglich auf ihrem Wunsch, diejenige zu sein, deren Instinkte recht behalten hatten. Eitelkeit. Sie seufzte. Weder Len Stockdale noch sie waren in diesem Fall wichtig, das musste sie sich vor Augen halten; wichtig war allein Chrissie Farrell. Sie holte tief Luft. »Und was jetzt, Len? Holen sie ihn her?«
»Oh ja. Angeblich, um bei den Ermittlungen zu helfen. Und ich wette, er wird sich außerordentlich hilfsbereit fühlen, und sei es nur, um seine Frau zu überzeugen.« Er kicherte.
Cate sah auf die Uhr. Sie vermutete, dass man warten würde, bis Cosgrove zu Hause wäre, bevor man mit ihm sprach. Ihn aus dem Klassenzimmer zu holen wäre kein bloßer Bestandteil der Ermittlungen, es würde eine klare Aussage treffen, und zwar eine, die der Kriminalpolizei ebenso gut eine Klage wegen Belästigung einbringen konnte. Sollte jemand beobachten, wie er in ein Polizeiauto stieg, mochte das durchaus reichen, um seine Karriere unwiderruflich zu beenden. Und wenn er tatsächlich der Täter war …
Ich hoffe, du siehst dir das an, Chrissie, wo immer du jetzt bist – mit weit offenen Augen.
Die Tür zum Besprechungszimmer öffnete sich, und Heath tauchte auf. Cate errang seine Aufmerksamkeit. Mit finsterer Miene sah er auf die Uhr. »Fünf Minuten«, gewährte er ihr und verschwand zurück im Besprechungsraum.
»Wünsch mir Glück.« Cate umklammerte den Ordner fester, wandte sich ab und folgte dem erfahrenen Beamten.
Heath starrte mürrisch auf Cate herab. Er hatte sie in sein Büro geführt, auf einen Stuhl gedeutet und war stehen geblieben, während sie ihre Erkenntnisse schilderte und dabei gezwungen war, die ganze Zeit zu ihm aufzuschauen. Cate vermutete, dass er das absichtlich getan hatte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass jemand wie Heath irgendetwas nicht vorsätzlich tat.
Er sagte immer noch kein Wort, und sie fragte sich, ob er darauf wartete, dass sie etwas hinzufügte; doch es gab nichts mehr. Sie presste die Lippen aufeinander und klemmte die Hände zwischen die Knie, um ja nicht zu zappeln.
»Gute Recherchearbeit, Wachtmeister Corbin«, sagte der Ermittlungsleiter gedehnt. Er seufzte. »Kindergeschichten. Hervorragend.«
Kurz schwieg Cate. »Die Geschichten waren nicht wirklich für Kinder gedacht. Eigentlich handelt es sich um volkstümliche Überlieferungen, um einige der ältesten überhaupt bekannten Geschichten …«
Mit einem Blick schnitt er ihr das Wort ab. »Es ist wirklich interessant«, betonte er, »vor allem der Teil mit der Zehe.« Er verstummte, und Cate erkannte, dass er es diesmal nicht vorsätzlich tat – er dachte wirklich nach. »Sie haben gehört, dass wir Cosgrove unter Beobachtung haben?«
»Ja, Sir.«
»Aber das könnte wichtig sein. Unter Umständen war es sogar der Grund, aus dem der Mörder sie ausgesucht hat – wie Sie gesagt haben, könnte er gewusst haben, dass sie diejenige sein würde, die man zur Schönheitskönigin der Schule küren würde. Cosgrove könnte das durchaus vorab bekannt gewesen sein. Wahrscheinlicher war es zwar eher so, dass er mit ihr geschlafen und sie gedroht hat, das zu verraten, aber wir müssen jeder Spur nachgehen. Und ich glaube, er unterrichtet Englisch. Er könnte also auch das entsprechende Wissen über Märchen besitzen.« Wieder verstummte er und musterte sie grüblerisch. »Gute Arbeit. Passen Sie auf, ich werde demnächst den Einsatz uniformierter Beamter reduzieren – wir werden nicht mehr so viele brauchen. Aber Sie sollten bei dem Fall bleiben. Ich will, dass Sie der Kriminalpolizei unterstellt werden. Ich werde ein Gesuch einreichen, Sie dem Ermittlungsteam zuzuteilen, zumindest vorläufig.«
Cate starrte ihn an. Aber er hasste sie doch, oder? Immerhin hatte sie am Fundort wie eine Stümperin alles zertrampelt. Die Bedeutung des soeben Gehörten drang zu ihr durch, und sie holte tief Luft. Ein richtiger Fall, richtige Polizeiarbeit; sie hätte nicht damit gerechnet, in den nächsten Jahren an einer solchen Sache mitwirken zu dürfen. Plötzlich hatte sie das Bild vor Augen, wie sie ihre Wohnung zum letzten Mal absperrte und zu etwas Neuem umzog.
»Danke, Sir.« Cate bemühte sich, nicht zu lächeln. Dann erinnerte sie sich an Len Stockdale, der draußen saß, und dachte an seinen Zynismus, wenn er von der Kriminalpolizei redete, und an seine kaum verhohlene Aufregung, als sie Chrissie Farrells Leichnam gefunden hatten. Wir sind die Ersten hier. Dabei hatte Triumph in seiner Stimme mitgeschwungen. Und dann war da noch seine Überzeugung, wenn er von Eitelkeit sprach und von einem Einzelgänger, der es schlichtweg nicht ertragen konnte, ein junges Mädchen mit Stöckelschuhen und Make-up zu sehen. Nun würde sie an dem Fall mitarbeiten und ihren Ideen nachgehen, während er mit derselben alten Routine weitermachen musste.
Aber Heath war noch nicht fertig. »Ich möchte, dass Sie Befragungsvorschläge unterbreiten – diesmal bitte mir, nicht Kommissar Grainger.« Er ließ diese Äußerung wirken. »Ich lasse Cosgrove von jemandem holen, aber zumindest vorläufig ›hilft er bei den Ermittlungen‹, mehr nicht. Er hat uns bezüglich seines Alibis in die Irre geführt, das ist alles, und es gibt Dutzende Gründe, warum er es getan haben könnte. Wir brauchen mehr als das, um ihm einen Strick zu drehen. Es sei denn natürlich, er bricht unter dem Druck zusammen und gesteht.« Seine Mundwinkel zuckten.
Cate nickte. Vielleicht würde er unter dem Druck zusammenbrechen, der nicht nur von der Polizei ausging, sondern auch von seiner Angetrauten: Die Hölle selbst vermag nicht so zu wüten, wie eine verschmähte Frau es kann.
Die Tür öffnete sich, und unmittelbar hinter ihr ertönte eine Stimme. »Sir, wir haben noch eine.«
»Noch eine was?«
»Eine Leiche, Sir, wieder im Wald. Ein weiteres Mädchen. Eine andere Stelle zwar, aber es klingt, als könnte es einen Zusammenhang geben.«
»Scheiße.« Heath stieß den Atem mit einem langen Zischen aus.
Cate stand auf. Es handelte sich um einen von Heaths Kriminalbeamten – wenn sie sich recht erinnerte, hieß er Paulson. Der Mann sah sie kurz an und schaute dann wieder weg.
»Derselbe Wald? Dieselbe Vorgehensweise?«
»Nicht ganz, Sir, aber es klingt wieder nach einem merkwürdigen Fall – es könnte wie bei dem anderen Mädchen inszeniert sein. Diesmal tiefer im Wald – an einem Ort namens Newmillerdam. Ist ein paar Kilometer von der ersten Fundstelle entfernt.«
»Wissen Sie, wo das ist?«, wollte Heath von Cate wissen.
Sie nickte. »Ich komme gerade von dort. Es ist …«
»Dann begleiten Sie mich.«
»Boss?« Paulsons Tonfall hörte sich ungläubig an.
Heath brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Und Beeilung. Wir wollen dort sein, bevor die Presse anfängt, alles über den Haufen zu trampeln, ganz zu schweigen von Wanderern.«
Er verstummte, und Cate musste sofort daran denken, wie sie den ersten Fundort beeinträchtigt hatte. Sie rechnete damit, dass er einen sarkastischen Kommentar abfeuern würde, doch das tat er nicht.
»Nun, Cate? Das ist Ihre Chance. Sind Sie dabei oder nicht?«
Aber sie rührte sich nicht. »Darum geht es nicht, Sir – was ist mit Cosgrove?«
»Alles geregelt. Paulson, Sie bleiben hier. Cosgrove wird demnächst eintreffen – Kommissar Grainger hat die Leitung, verstanden? Ich möchte, dass ihr ihm auf die Zehen steigt und euch auf den Abend der Tanzveranstaltung konzentriert – wo er war, was er gemacht hat, wann er es gemacht hat und was um alles in der Welt er sich dabei gedacht hat, zu behaupten, er wäre zu Hause bei seiner Frau gewesen. Und lasst euch Zeit. Alles klar?«
Paulson nickte, erwiderte jedoch nichts. Sein Teint wirkte eine Spur blasser. Cate spürte seinen Blick im Rücken, als sie dem Ermittlungsleiter aus dem Raum folgte und an dem Schreibtisch vorbeiging, an dem immer noch Len Stockdale saß. Sie nickte ihrem Kollegen kurz zu. Er verengte nur die Augen und ließ sich nicht anmerken, dass er überhaupt Notiz von ihr nahm.