Kapitel 14

Dan Thacker brachte Cate einen Stapel Papierkram. Er bemerkte den Ausdruck in ihrem Gesicht und schenkte ihr ein Hohnlächeln. »Dieser Krempel häuft sich ziemlich schnell an«, erklärte er. »Ich möchte, dass Sie alles durchsehen und sich vergewissern, dass Sie auf dem letzten Stand sind. Dann erleben Sie vielleicht ein wenig richtige Action.«

Cate nahm die Unterlagen entgegen.

»Sie werden auch unsere Daten brauchen – Mobiltelefonnummern und dergleichen. Und wir brauchen die Ihren. Den Funk verwenden wir heutzutage eher weniger – wir nutzen die Kommunikationszentrale nicht gern. Dafür reden wir zu viel.« Er lächelte, und diesmal erwiderte Cate die Geste.

»Das wäre im Großen und Ganzen alles, abgesehen davon, dass Sie sich unsere Namen merken müssen. Oh, und lassen Sie sich nicht von Paulson herumkommandieren. Und lassen Sie sich von ihm auch nicht einreden, dass sein Name Richard sei – wir alle nennen ihn bloß Paulo.«

»Und Heath?«

Dan zuckte sarkastisch mit den Schultern. »Heath ist ›Sir‹«, antwortete er und ließ sie allein, damit sie sich dem Stapel widmen konnte.

Cate fühlte sich unwillkürlich enttäuscht; sie konnte fühlen, wie Bewegung in den Besprechungsraum kam, und sie musste sich mit alten Informationen befassen. Oben auf dem Stapel befand sich der pathologische Befund der Gerichtsmedizin für Chrissie Farrell. Cate schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Dan hatte recht, sie musste dasselbe wissen wie die anderen im Team, und sie alle mussten immer noch herausfinden, was Chrissie widerfahren war. Sie mussten es herausfinden.

Cate zwang sich, an die erste Szene zurückzudenken. Im Vergleich zu Rotkäppchen hatte Chrissie Farrell einen relativ sauberen Tod gehabt, abgesehen vom Entfernen ihrer Zehe. Sie versuchte, das Bild einer Person heraufzubeschwören, die ihr das angetan haben könnte, doch sie konnte nur einen anonymen Schemen sehen. War der Mörder ruhig geblieben, während er durch das Fleisch schnitt? Hatte er etwas dabei empfunden, als die Blutgefäße in ihren Augen geplatzt waren?

Wie vermutet war der Tod durch Ersticken eingetreten. Die Anhäufung von Kohlendioxid in ihrem Blut wurde im Bericht bestätigt. Gleichzeitig hatte es jedoch keinerlei Blutergüsse am Hals des Mädchens gegeben. Chrissie war durch etwas erstickt, das ihre Kehle blockiert hatte; man hatte Abschürfungen in ihrer Luftröhre entdeckt, wenngleich der Gegenstand später entfernt worden war. Auch das also eine Reminiszenz an das Märchen, in dem Schneewittchen an einem vergifteten Apfel erstickt war und tot zu sein schien, bis sich das verheerende Objekt durch einen Ruck des Körpers wieder löste. Wenn sich nur auch für Chrissie Farrell das Leben so einfach wiederherstellen ließe.

Die Schönste im ganzen Land, dachte Cate. Sie hatte einige Texte über forensische Psychologie gelesen und nicht vergessen, dass diese spezielle Todesursache – Ersticken – in der Regel von einer spontanen, aus Wut geborenen Tat zeugte, häufig von jemandem begangen, der das Opfer kannte. Dieses Verbrechen jedoch war anders verübt worden – die Vorgehensweise bewies Vorsatz. Der Mord wurde sowohl dem gerecht, was im Märchen passierte, als auch dem Bild von Schneewittchen, da Chrissie getötet worden war, ohne dass ihre Schönheit dabei zerstört wurde.

Es gab noch andere Verletzungen als jene, von denen Cate bereits wusste. An der Innenseite des Armes, die aufgrund der Lage des Leichnams nicht zu sehen gewesen war, hatte Chrissie mehrere kleine Schnitte gehabt. Was hatte das zu bedeuten? Auch an ihren Handgelenken fanden sich Male. Sie war gefesselt gewesen, während ihr all das angetan worden war … aber wo? Es musste Blut gegeben haben, das Mädchen musste geschrien haben. Folglich musste es irgendwo geschehen sein, wo man sie nicht zu hören vermochte.

Cate holte tief Luft und las weiter. Beinah wollte sie nicht wissen, was zweifellos als Nächstes kommen musste, doch dann stieß sie darauf und blies den Atem erleichtert aus. Chrissie Farrells Zehe war post mortem abgeschnitten worden. Sie hatte keine Schmerzen gespürt, hatte nichts davon mitbekommen. Wenigstens das würde ein winziger Trost für ihre Mutter sein. Cate überflog die Seite weiter, und der nächste Punkt ließ sie zusammenzucken. Die Sache mit der Zehe war nach dem Eintritt des Todes erfolgt, die mit den Fingernägeln jedoch nicht. Das Blut in den Wunden und ringsum bewies, dass Chrissie während dieser Tortur noch gelebt hatte. Cate schloss bei dem Gedanken die Augen. Warum sollte jemand so etwas tun? Hatte es dem Mörder tatsächlich Freude bereitet, sie zu foltern?

Sie ergriff das Foto des auf der Lichtung liegenden Mädchens. Die toten Augen starrten zum Himmel empor. Cate erinnerte sich an Chrissie auf einem anderen Foto, das sie zu einer anderen Zeit festgehalten hatte: ihr offener Blick, ihr Lächeln. Sie atmete tief durch und zwang sich, nachzudenken. Schneewittchen sollte doch im Wald ermordet werden, bevor der Jäger ein Stück von ihr mit zurückbrachte, oder? Vielleicht stellte das den Grund dafür dar, warum die Zehe erst später abgetrennt worden war. Aber um den Haushalt der Zwerge zu führen, musste sie am Leben sein – daher die Dinge, die mit ihren Händen angerichtet worden waren. Vielleicht hatte es der Täter doch nicht aus krankem Vergnügen getan; vielleicht wollte er sich bloß genau an das Märchen halten.

Mittlerweile schien die Geschichte alles zu untermauern oder vielleicht hatte Heath recht, und sie ließ sich zu sehr darauf ein, hatte der Art, wie Alice die Dinge sah, zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jedenfalls passte das Märchen nicht zu den nüchternen Worten des Berichts, in dem der Tod des Mädchens analysiert und katalogisiert wurde.

Hast du auch Engel gesehen, Cate?, hatte Stocky gesagt. Und Heath: Treibt sich hier irgendwo ein großer böser Wolf herum?

Aber genauso war es doch, oder? Ja.

Sie wusste, dass der Humor des Ermittlungsleiters nur einen notwendigen Bestandteil seiner Position darstellte – verfügten Polizisten nicht über einen Schutzmechanismus, der sie vor den kranken Dingen abschirmte, die Menschen einander antun konnten, dann waren sie nicht in der Lage, ihrer Arbeit lange nachzugehen. Sie dachte an Alices gefasste Nüchternheit zurück, als sie die Leiche betrachtet hatte. Alice hatte bei ihrer Arbeit nie einen solchen Schutzschild entwickeln müssen. Vielleicht wäre es sonst einfacher für sie.

Vielleicht musste auch sie daran arbeiten.

Abermals nahm sie das Foto von Chrissie unter die Lupe. Wenn Sie nicht gerade das Gesicht betrachtete, konnte sie sich fast – nicht ganz – vorstellen, Chrissie schlafe lediglich und träume vielleicht von einer Geschichte, zu deren Bestandteil sie geworden war. Ihr Kleid hob sich durch die saubere, kräftige Farbe deutlich von der Erde ab. Cate runzelte die Stirn. Das konnte doch bestimmt nicht sein, oder? Rotkäppchens unter dem Umhang verborgene Kleidung war bespritzt und fleckig gewesen. Hatte der Täter Chrissie erst aus- und für die endgültige Inszenierung wieder angezogen? Zwar hatte man keine falsch geschlossenen Knöpfe oder dergleichen gefunden, doch das bedeutete nicht, dass es nicht geschehen war; der Täter hätte sich dabei Zeit lassen können. Jedenfalls musste irgendetwas unternommen worden sein, um Blutflecken auf der Kleidung zu vermeiden.

Das Blut. Cate blätterte im Bericht zurück. Die Zehe war post mortem abgeschnitten worden, also erst nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hatte. Dabei konnte nur wenig Blut angefallen sein. Wie hatte er die Flasche gefüllt, die er der Mutter zugestellt hatte? Natürlich – das musste der Grund für die Schnitte am Arm sein, so hatte er ihr Blut gesammelt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch gelebt und vermutlich mit ansehen müssen, wie der Mörder es in jener alten Glasflasche auffing. Bestimmt wäre es geschickter und näher an der Geschichte gewesen, wenn er ihr die Zehe abgeschnitten hätte, als sie noch lebte, und ihr so auch das Blut abgenommen hätte, statt weitere Male an ihrem Körper zu hinterlassen. Vielleicht war es ihm doch zu schwergefallen, es auf diese Weise zu tun. Aber Rotkäppchen – ihr Bauch war aufgerissen gewesen. Das Blut, der Geruch … Ob er es beim zweiten Mal als einfacher empfunden hatte? Fing der Mörder an, die Dinge zu genießen, die er tat, und erweiterte er deshalb seine Grenzen?

Cate wurde bewusst, dass sie den Mörder unwillkürlich für einen Mann hielt. Es musste Kraft notwendig gewesen sein, um die Leiche zu transportieren, in Rotkäppchens Fall sogar noch mehr. Das ließ einfach auf einen Mann schließen. Sie wünschte, sie hätte Cosgrove selbst gesehen, um ihm in die Augen blicken zu können. Hätte sie ihn für jemanden gehalten, der in der Lage wäre, so etwas zu tun?

Cate widmete sich wieder dem Bericht. Ungeachtet allem, was Chrissie durchmachen musste, gab es keine Anzeichen dafür, dass sie vergewaltigt worden war. Cate runzelte die Stirn. Daraus ließen sich keine Schlüsse ziehen; es bedeutete jedenfalls nicht zwangsläufig, dass der Angreifer eine Frau gewesen war. Der Täter konnte dennoch ein Mann sein, der vielleicht impotent war oder das Mädchen so sehr verdinglicht hatte, dass er es einfach nicht auf sexuelle Weise sah. Das würde allerdings Stockys Theorie ausschließen, dass es sich um einen Angriff auf ihre Eitelkeit gehandelt hatte.

Allerdings passte Asexualität nicht zu Cosgrove – oder zumindest nicht zu dem, was Cate von ihm wusste. Ich dachte, er fände mich sympathisch, hatte Angie Farrell gesagt. Ich dachte, er fände mich sympathisch, aber so war es nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet hat.

Oder vielleicht hatte der Mörder das Mädchen aus dem Grund nicht angefasst, weil es nicht in der Geschichte vorkam, die er zu erzählen versuchte.

Viel mehr gab es in Hinblick auf die Leiche nicht. Am Kleid hatte man mikroskopische Spuren gefunden; Fasern auf der Rückseite, die höchstwahrscheinlich von der Polsterung eines Autos stammten. Das konnte geschehen sein, als die Leiche abgeladen wurde, aber dass sich die Fasern am Rücken befanden, verriet auch schon etwas – sie hatte wahrscheinlich gesessen. War sie aus freien Stücken in ein Auto eingestiegen? Möglicherweise. Das würde bedeuten, dass der Täter höchstwahrscheinlich jemand war, den sie gekannt hatte. Obwohl – auch so mochte es gelungen sein, sie in ein Fahrzeug zu locken. Durch einen Taxifahrer vielleicht?

Seufzend richtete Cate den Blick wieder auf den Bericht. Sie hatte sich schon gefragt, ob Chrissie zu Fuß nach Hause gehen wollte, aber abgesehen von der abgetrennten Zehe wiesen ihre Füße keine Anzeichen von Verletzungen auf – lediglich eine kleine Blase, die aber auch von den hohen Stöckelschuhen verursacht worden sein konnte, die sie für die Tanzveranstaltung der Schule getragen hatte.

Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie nach Hause laufen wollte, andererseits ließ es sich auch nicht ausschließen. Und das Mädchen war betrunken gewesen, was der Alkoholgehalt in Chrissies Blut bestätigte. Demnach konnte sie verwirrt gewesen sein, war vielleicht nicht mehr in der Lage, jemanden abzuwehren. Oder vielleicht hatte sie sich auch nur allzu gern von jemandem mitnehmen lassen, weil sie dadurch von den Freundinnen wegkam, mit denen sie sich gestritten hatte.

Dabei musste Cate an die Mutter des Mädchens denken, an jenes Foto, das ihrer beider Gesichter so dicht beisammen zeigte und auf dem sie das gleiche Kleid getragen hatten. Wie nahe hatten sie einander wirklich gestanden? Immerhin hatte Angie Farrell ihre Tochter allein bei der Tanzveranstaltung zurückgelassen. Und Alice Hyland hatte darauf hingewiesen, dass häufig die Stiefmutter die Schurkin war. Cate war dem nachgegangen, doch wie vermutet hatte sie herausgefunden, dass Mrs Farrell Chrissies leibliche Mutter war. Aufgrund der Ähnlichkeit hatte sie ohnehin nichts anderes erwartet. Aber hatte Alice nicht auch gesagt, dass in den ursprünglichen Geschichten – den älteren Versionen – die richtige Mutter all die schrecklichen Dinge beging?

Das könnte Angie Farrell sein, wie Cate sie auf dem Foto gesehen hatte. Im wahren Leben hingegen … Sie erinnerte sich an das Grauen, an die Verwirrung der Frau. Sie hatte tatsächlich den Eindruck vermittelt, eitel zu sein, ja, aber damit hatte es sich: Cate glaubte nicht, dass sie fähig wäre, ihrer Tochter solche Dinge anzutun. Vielleicht hatte Heath recht – sie verstrickte sich auf Kosten der Beweise vor ihren Augen zu sehr in den Geschichten.

Sie richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Akte, überflog die letzten Punkte und blieb beim Blättern durch die Details an dem Müll hängen, der neben dem Leichnam gefunden worden war. Ein Apfel, halb gegessen und weggeworfen, Cate hatte ihn gesehen. Ursprünglich hatte sie ihn als etwas betrachtet, das vielleicht einen DNS-Beweis liefern konnte, aber wahrscheinlich nichts mit dem Fall zu tun hatte, nur ein weiteres Stück von Menschen entsorgten Mülls – bis sie mit Alice gesprochen hatte. Danach hatte sie Heath ersucht, einige zusätzliche Tests daran vornehmen zu lassen.

Sie fand den entsprechenden Bericht und las ihn mit zunehmender Verwirrung. Seltsamerweise hatte der Apfel keinerlei menschliche DNS zutage gefördert. Es gab lediglich Spuren von Insekten und Vögeln, mehr nicht. Cate hatte vermutet, er könnte benutzt worden sein, um das Mädchen zu ersticken – das hätte schließlich zur Geschichte gepasst. Wie waren die Bissmale entstanden, wenn nicht durch einen menschlichen Mund? Waren sie absichtlich so geschnitzt worden, oder hatte der Apfel doch nichts mit der Szene zu tun?

Cates Herz schlug schneller, als sie durch die Ergebnisse der Tests blätterte, die sie vorgeschlagen hatte. Und dann stieß sie auf beträchtliche Mengen eines toxischen Pestizids. Der neben Schneewittchen gefundene Apfel war nicht gegessen worden, aber er war vergiftet gewesen.

Als Cate mit dem Studium der Akten fertig wurde, tauchte Len Stockdale an ihrer Schulter auf. Er ließ sich auf dem Sitz ihr gegenüber nieder und musterte sie dabei von oben bis unten. Plötzlich fühlte sie sich befangen, weil sie Zivilkleidung trug, er hingegen Uniform.

»Und? Läuft es gut?«

»Nicht so gut, dass man es merken würde.« Sie versuchte es mit einem Lächeln, das er allerdings nicht erwiderte. Stattdessen reichte er ihr mit einer gekünstelten, übertriebenen Geste wie eine Sekretärin einen zerknitterten Zettel.

»Eine Nachricht«, sagte er. »Du hast beschäftigt ausgesehen.«

Cate war nicht sicher, ob er wirklich hilfreich sein wollte oder ob in seinen Worten ein Hauch von Sarkasmus mitschwang. Zweifellos fragte er sich, warum der Lehrer noch nicht festgenommen worden war. Eitelkeit, hatte Stockdale gesagt, und er würde dabei bleiben. Stocky mochte es, handfeste Dinge zu erledigen – Papierkram war ihm zuwider. Bestimmt hatte es ihn auch irritiert, eine telefonische Mitteilung für Cate entgegenzunehmen, es sei denn, er hatte es getan, um damit eine Aussage zu treffen.

Cate bewahrte eine neutrale Miene und warf einen Blick auf die Notiz. Oben stand Alices Name; auch ihre Reaktion darauf verbarg Cate. Stocky musste gewusst haben, wer Alice war: Cates Expertin für Märchen, Bestandteil ihrer Theorie zu dem Fall. Mit dem Fund von Rotkäppchen war diese Theorie doch bestätigt worden, oder? Allerdings musste Cate unwillkürlich daran denken, was Heath über ihre Expertin gesagt hatte. Und es war tatsächlich ein wenig merkwürdig: Kurz nachdem Alice eine verstümmelte, im Wald entsorgte Leiche gesehen hatte, war sie mutterseelenallein zwischen die Bäume davonspaziert. Dennoch verkörperte die Dozentin ihre Spur, ihren Einblick in das, was hier vor sich ging. Unter Umständen war Alice sogar ihre Fahrkarte dafür, im Team zu bleiben.

»Ein Problem?«

»Nein, alles bestens. Wie läuft’s bei dir?«

Er grunzte. »Hab eine ganze Menge zu bewältigen.«

»Tut mir leid, wenn ich dich hängen lasse, Len. Ich wusste ja nicht, dass sich diese Chance bieten würde – es ist für mich eine tolle Gelegenheit, etwas zu lernen.« Sie seufzte. »Tut mir echt leid, aber ich muss das einfach tun. Es wäre gut, wenn wir …« Cate ließ den Satz unvollendet.

»Wenn wir was?«, hakte Len mit ausdrucksloser Miene nach.

»Vergiss es.« Sie sah ihn an. Wir sind die Ersten hier, hatte er am Fundort gesagt, und nun sah er beinah eingeschnappt aus. Wünschte er sich, selbst an dem Fall mitzuarbeiten? Dachte er darüber nach, was er anders machen würde? Ihr kam die Frage in den Sinn, ob er je überlegt haben mochte, sich bei der Kriminalpolizei zu bewerben. Vielleicht hatte er es ja sogar getan. Und vielleicht war seine Bewerbung abgelehnt worden. Sie biss sich auf die Unterlippe. Nein, wenn er gewollt hätte, dann hätte er bestimmt andere Entscheidungen treffen können. Und jetzt ließ sich ohnehin nichts mehr ändern, sie war mit dem Fall befasst. Das war eine zu große Sache, um ihr einfach den Rücken zuzukehren.

Wir sind die Ersten hier. Sie seufzte. War sie denn wirklich so anders? Für sie war es eine große Chance, und sie konnte nicht leugnen, dass sie die Ermittlungen aufregend fand. Und sollte sie sich dafür entscheiden, sich künftig zu spezialisieren und dauerhaft zur Kriminalpolizei zu wechseln, würden die Erfahrungen bei dieser Untersuchung ihrer Karriere bestimmt Vorschub leisten.

Cate dachte an die tote junge Frau, die sie unlängst gesehen hatte, das Gesicht in den herabgefallenen Zweigen. Ihre Miene knautschte sich zusammen. Nein, Stocky gingen wahrscheinlich bloß die eigenen Kinder durch den Kopf. Er wollte, dass demjenigen, der Angie Farrells Tochter verletzt hatte, Gerechtigkeit widerfuhr. Sie schaute auf und hatte vor, sich nach seiner Familie zu erkundigen, doch Stocky stemmte sich bereits von seinem Stuhl hoch. Ohne sie noch einmal anzusehen, ging er davon.

Cate dachte schon, dass niemand ans Telefon ginge, und sie begann zu überlegen, was Alice wohl gerade tun mochte. Sie hatte ein Bild der Frau vor Augen, wie sie durch den Wald lief, sich unter niedrigen Ästen hindurchduckte. Sie wusste, was Heath dazu sagen würde, und bemühte sich, den Gedanken zu verdrängen. Es schien ihr passend, die Frau so zu sehen – und warum auch nicht? Alice liebte die Natur, das belegte unübersehbar schon der Ort, den sie sich zum Wohnen ausgesucht hatte. Alice gehörte hierher, und in gewisser Weise beneidete Cate sie darum. Sie dachte an ihre eigene kleine Wohnung, deren Wände frisch verputzt und gestrichen gewesen waren, als sie damals einzog. Sie stellte einen Vergleich mit Alices unordentlicher Küche an … bei dem Cates Wohnung schlechter abschnitt. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, Unordnung entstehen zu lassen, und sie hatte auch nicht vor, lange genug dafür zu bleiben. Cate hatte einen Ort gebraucht, an dem sie unterschlüpfen konnte, und die Wohnung war praktisch gewesen. Es passte ihr gut, dass sie sich nicht wie ein Zuhause anfühlte – unter Umständen war das sogar einer der Gründe gewesen, weshalb sie sich dafür entschieden hatte. Dieser Ort war nicht ihre Bestimmung und somit nichts, wo sie Wurzeln schlagen, sich auf eine Beziehung einlassen, häuslich werden wollte; er stellte lediglich einen Zwischenstopp dar. Alice hingegen, die nur Märchen im Kopf hatte – sie gehörte an den Rand des Waldes, einen halb verwilderten Ort wie aus einem Bilderbuch.

Dann wurde das Telefon abgehoben, und jemand sagte außer Atem: »Hallo? Tut mir leid, ich war draußen und habe Blumen gepflückt.«

Cates Mundwinkel zuckten. Sie begrüßte ihre Expertin.

»Ah – ja, ich habe nachgedacht und wollte ohnehin mit Ihnen reden. Es ist eine Frau, sind Sie darauf schon gekommen? Anhand der Geschichten? Es muss so sein – darin ist es immer eine Frau.«

»Wie bitte?«

Alice holte tief Luft. »Tut mir leid, mein Fehler. Das habe ich jetzt nicht besonders gut erklärt. Es ist nur so, dass es in der Geschichte die Stiefmutter ist, die Schneewittchen töten will, das wissen wir. Der Wolf in Rotkäppchen – nun, ich denke, das ist irreführend. Eigentlich ist es doch die Mutter, die das Mädchen in den Wald schickt, nicht wahr? Ganz allein, dorthin, wo der große böse Wolf lebt. Und ihr zu sagen, dass sie auf dem Weg bleiben soll … Verleitet sie Rotkäppchen dadurch nicht förmlich dazu, vom Weg abzukommen, weil sie ihr die Idee damit überhaupt erst in den Kopf pflanzt?«

Cate schnappte nach Luft. »So ist das nur in der Geschichte. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Oder wollen Sie damit sagen, dass beide von ihren Müttern getötet und zufällig so zurückgelassen wurden?«

»Nein, ich will damit nur sagen, es wurde alles so arrangiert, dass es zu den Geschichten passt, und es würde auch dazu passen, wenn der Mörder eine Frau wäre.«

Cate überlegte kurz. »Na schön«, sagte sie dann. »Das ist eine Theorie. Ich schließe sie nicht aus, aber wir müssen auch berücksichtigen, dass irgendjemand diese Mädchen überwältigt hat, wofür wahrscheinlich einiges an Kraft erforderlich war; jedenfalls muss sie jemand getragen haben. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es ein Mann gewesen sein könnte.«

Aber Alice war noch nicht fertig. »Eine Frau könnte die Mädchen irgendwie dazu verleitet haben, mit ihr zu gehen. Eigentlich ist es offensichtlich, oder? Einer Frau hätten sie vermutlich vertraut und sie aus irgendeinem Grund begleitet. Und es liegt nicht nur an den Figuren aus den Geschichten, der bösen Stiefmutter und der gestörten Mutter – tendenziell wissen Frauen mehr über Märchen als Männer. In meinem Kurs hatte ich noch nie mehr als fünf bis zehn Prozent männliche Studenten. Um diese Verbrechen so zu inszenieren, muss jemand einige Kenntnis dieser Geschichten besitzen.«

Cate verengte die Augen. Ja, das stimmte. Der Mörder war jemand, der Wissen besaß und sich in der Gegend auskannte. Und wieder erinnerte sie sich an Heaths Worte: Sie macht einen Spaziergang. Einen Spaziergang. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?

Cate verabschiedete sich und legte auf. Sie mussten sich auf die Fakten konzentrieren, nicht an Alices Fiktion kleben. Und die Fakten liefen auf das aktuelle Opfer hinaus; sie mussten in erster Linie über die junge Frau nachdenken. Sie mussten herausfinden, wer sie wie getötet hatte, und dafür mussten sie außerdem in Erfahrung bringen, wer sie gewesen war. Cate würde offensichtlich reichlich zu tun bekommen, sofern Heath sie im Team behielt. Stocky würde das vermutlich nicht gefallen, doch daran konnte sie nichts ändern. Sie sah sich zwischen den Schreibtischen um, konnte ihn jedoch nicht mehr entdecken. Vermutlich kümmerte er sich um die Arbeit, die er erwähnt hatte, und wünschte dabei zweifellos, er könnte den Papierkram ihr aufhalsen. Würde sie immer da sein, um ihm das abzunehmen? Stocky schien trotz seines merkwürdigen Verhaltens von vorhin zufrieden damit zu sein, wo er im Leben stand. Aber glaubte er, sie würde ewig bleiben? Im Gegensatz zu ihm hatte sie hier keine Familie, nur eine halb leere Wohnung und ihren Ehrgeiz, der sie in andere Richtungen zog.

»Wir haben eine ungefähre Schätzung der Zeit, wann die Leiche in den Wald gebracht wurde.« Die Stimme, die hinter ihr ertönte, ließ sie zusammenzucken. Es war Dan Thacker. »Es war in den frühen Morgenstunden. Wir überprüfen gerade noch einmal Cosgroves Kommen und Gehen. Aber Heath hat schon recht, es sieht nicht so aus, als könnte er es getan haben.«

»In Ordnung. Danke, dass Sie mir Bescheid gegeben haben.«

»Außerdem haben wir einen möglichen Hinweis auf eine vermisste Person.« Kurz verstummte er und grinste. »Kommen Sie mit. Wie’s aussieht, sind Sie mir zugewiesen.«