Kapitel 16
Die alte Frau lebte am Rand einer industriellen Wildnis, eines Labyrinths aus bröckelndem Beton, verbogenem Metall und weggeworfenen Gegenständen. Selbst zur Blüte des Frühlings präsentierte sich die gesamte Umgebung grau. Aber sie sah selten aus dem Fenster. Die Aussicht wurde von vergilbenden Netzvorhängen getrübt, die dem Licht einen eigenartigen Farbton verliehen, als stamme es von einem tobenden Gewitter.
Ihr Haus stand inmitten einer Reihe von Terrassenbauten aus rotem Ziegelstein, und jeder Raum war lang und schmal. Manchmal konnte sie ihre Nachbarn, deren Schritte auf der Treppe und zufallende Türen hören. Ihre Stimmen vernahm sie selten, und wenn doch, dann ertönten sie laut und gedämpft zugleich, als könnten sie nur in Selbstlauten brüllen. Sie versuchte erst gar nicht, die Worte zu verstehen, und sie mischte sich nicht ein, wenn die begleitenden Geräusche weicher wurden, wenn es klang, als prallten Fäuste auf Haut statt auf eine Tür oder einen Tisch. Es ging sie nichts an. Sie belästigte ihre Nachbarn nicht und wurde umgekehrt nicht von ihnen belästigt. Manchmal spielten sie bis in die Nacht hinein laute Musik, und sie lag wach in der Dunkelheit, hörte zu und versuchte, sich zu erklären, was ihr an den gedämpften Rhythmen gefiel.
Sie selbst spielte nie Musik. Als ihre Enkelin jung gewesen und bei jeder Kleinigkeit von atemloser Aufregung erfasst worden war, hatte sie ihr oft dabei zugesehen, wie sie zu Musik im Fernsehen tanzte, zu Liedern, deren Text das Kind auf unerklärliche Weise auswendig wusste. Das hatte sich immer angefühlt, als rede sie in einer Sprache, die sie nie gelernt hatte. Die alte Frau wusste noch, dass sie sich oft gewünscht hatte, jemanden deswegen fragen zu können, doch ihre Tochter – die Mutter des Kindes – war zu der Zeit längst weg gewesen und der Vater bereits lange davor verschwunden. Andererseits hätte sie ohnehin nicht gewusst, wie sie die Frage hätte formulieren sollen. Damals hatte das Kind ihre große Freude verkörpert. Manchmal hatte sie die Kleine angesehen und sich gefragt, woher um alles in der Welt sie kam – doch sicher nicht von ihrer eigenen Tochter.
Das Kind hatte die Räume mit Lachen erfüllt und Grund zur Freude gefunden, wo die Frau selbst nur Wände sah. Mittlerweile war auch ihre Enkelin weg, und nur die Wände waren geblieben. Ihre heranwachsende Enkelin hatte Neues für sich entdeckt: junge Männer und das Leben. Aber es war nicht gut für sie gewesen, diese Dinge kennenzulernen.
Die alte Frau stemmte sich vom Sofa hoch – früher hatte es nicht so durchgehangen, und sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann es so mühsam geworden war, sich davon zu erheben. Sie schlurfte in die Küche. Der Raum mochte so klein sein, dass sie alles in Griffweite hatte, indem sie sich nur umdrehte, dafür gehörte die Wohnung ihr, und sie empfand es als angenehm, dass ihre Dinge mittlerweile dort blieben, wo sie sie hinlegte. Vielleicht war es doch ganz gut gewesen, dass ihre Enkelin ausgezogen war. Sie konnte ihr Portemonnaie offen auf der Anrichte liegen lassen, und niemand würde es anrühren.
Und dennoch … es gab keine Geräusche mehr außer ihren eigenen; auch kein Wumm-wumm-wumm der Musik, die Teresa gemocht hatte, Musik ohne Worte.
Sie drehte den Wasserhahn heftig auf. Das Wasser spritzte laut in das Spülbecken. Die alte Frau schaute zum Fenster auf und sah, dass sich im trüben, gelblichen Licht Schatten bewegten. Sie blinzelte. Der Blick ihrer Augen wurde nur langsam scharf, und sie tränten ständig; genau wie bei ihrer Mutter, bevor sie starb. Sie schwappte das Wasser im Becken hin und her und bereitete sich auf den Abwasch vor. Das wollte sie tun – schlichte, gewöhnliche Tätigkeiten, Dinge, auf denen ihr Leben aufbaute. Die Schemen draußen kamen näher. Vermutlich wieder mal Mitglieder des Gemeinderats oder die Polizei auf dem Weg zur Familie nebenan. Was es nun war, wusste sie nicht, und es interessierte sie auch nicht wirklich. Eins von beiden traf immer zu, und es wurde stets geklopft und geklopft und versucht, in die Wohnung zu gelangen.
Die alte Frau zuckte zusammen, als plötzlich ein eindringliches Klopfen an ihrer eigenen Tür ertönte. Sie drehte sich zu dem Geräusch um, als wäre es etwas, das sie sehen konnte.
Die Unbekannten draußen würden bald weggehen und sie in Ruhe lassen. Sie beugte sich vor und drehte den Wasserhahn ab. Stille hielt wieder Einzug.
Doch das Klopfen wiederholte sich. Es ließ auf kräftige, harte Knöchel schließen, und diesmal überwand sie sich dazu, sich in Bewegung zu setzen. Im Gang konnte sie durch die Milchglasscheibe der Tür zwei Gestalten erkennen. Das erinnerte sie an eine Begebenheit vor wie viel … zwölf, dreizehn Jahren? Damals war der Gerichtsvollzieher gekommen. Sie hatte genau wie jetzt reglos an der Wand gestanden und sich nicht gerührt, um nicht bemerkt zu werden. Teresa hatte sich an ihren Beinen festgeklammert, und sie hatte dem Kind eine Hand auf den Kopf gelegt, um es zu beruhigen, die andere auf den süßen kleinen Mund. Letzteres wäre gar nicht nötig gewesen, Teresa war mucksmäuschenstill geblieben, hatte kein Wort von sich gegeben, als hätte sie gewusst, worum es ging.
Der Briefschlitz öffnete sich klappernd, und eine Stimme rief hindurch: »Mrs King? Wir müssen mit Ihnen reden.«
Es klang nicht nach der Stimme eines Schuldeneintreibers.
»Mrs King?« Vielmehr handelte es sich um die Stimme einer jungen Frau.
Einen Moment lang zog sich ihr Herz mit einem dumpfen Stich zusammen, als sie dachte: Kommt sie zurück nach Hause? Aber nein, das war nicht Teresas Stimme. Sie wollte die Frau nicht hereinlassen. Sie wollte nur ihre eigenen stillen Räume, all die vertrauten Dinge. Dann ging sie trotzdem zur Tür und drehte den Schlüssel, denn sie wusste, wenn die Welt anklopfte, ging sie nicht, ohne sich das zu nehmen, was sie verlangte: Geld, den Fernseher, die Nähmaschine. Die Selbstachtung, die man noch hatte. Das Leben selbst.
Als sie die junge Frau erblickte, die mit einem jungen Mann an der Seite auf ihrer Schwelle stand, da wusste sie es; sie konnte es spüren. Die beiden trugen keine Uniform, aber sie waren von der Polizei. Die alte Frau konnte es förmlich riechen. Aus den Augen der beiden sprach Mitgefühl, und sie konnte die abgedroschenen Floskeln förmlich hören, die ihnen durch den Kopf gingen. Das Kind, dachte sie.
Die alte Frau sah die Polizistin und den neben ihr stehenden Polizisten an, riss die Tür weiter auf, sodass sie mit einem dumpfen Knall gegen die Wand prallte, und bedeutete den beiden einzutreten.