Kapitel 20
Das Ärgerliche an Zeugen, so dachte Cate, war, dass sie sich eher an das Nachspiel als an das Ereignis selbst erinnerten. Sie hatte den Vormittag damit verbracht, einige der Personen zu befragen, deren Daten im Wald notiert worden waren, begleitet von einem ziemlich stillen Kommissar Thacker. Dabei war es ihnen lediglich gelungen, festzustellen, dass es in der Tat einen Tumult gegeben hatte und dass überall Polizei gewesen war, die eingegriffen hatte. Aber niemand erinnerte sich, etwas Seltsames in den Stunden vor der Entdeckung des Mädchens bemerkt zu haben.
Len Stockdale hatte Cate kaum zu Gesicht bekommen, wenngleich sie gehört hatte, was er derzeit tat, und als sie die A61 entlangfuhren, schlug sie vor, in Newmillerdam anzuhalten. Dan nickte zustimmend, schaltete den Blinker ein und bog ab. Er schien in eigene Gedanken versunken zu sein.
An den jungen Polizisten, der die Zufahrt kontrollierte, konnte sich Cate vage erinnern. Er winkte sie durch. Der Himmel hatte sich seit dem frühen Morgen aufgehellt, dennoch begann er, Regen zu bluten, als Dan auf einen Abstellplatz rollte. Der sonst stark frequentierte Parkplatz glich einem kahlen Asphaltteich mit einigen wenigen Polizeifahrzeugen an einem Ende und ein paar PKW sowie einem einzigen Van am anderen. Offenbar hielt die Präsenz der Polizei an den Haupteingängen die Spaziergänger von dem Ort fern.
Sie schaute zu der Lücke, die vom Parkplatz zur Uferpromenade führte, und dort stand Stocky an einen Torpfosten gelehnt, sein Notizbuch in der Hand. Mit finsterer Miene klappte er müßig die vorderste Seite vor und zurück. Er blickte über das Wasser und schien sie noch nicht bemerkt zu haben.
»Ich bin gleich wieder da, Dan«, sagte Cate, aber als sie aus dem Wagen stieg und auf ihren alten Lehrmeister zusteuerte, folgte ihr der Ermittler.
Beim Klang ihrer Schritte drehte sich Stocky um. Er hatte seine freundliche Miene aufgesetzt, die er für den Umgang mit der Öffentlichkeit benutzte – mit Leuten, die er nicht einzusperren gedachte –, doch als er Cate erkannte, schlug sein Gesichtsausdruck in etwas anderes um.
»Hi, Len«, rief Cate. Sie empfand es als unangenehm, dass Dan ihr so dicht folgte, und verspürte einen kurzen Anflug von Verärgerung – war ihm etwa aufgetragen worden, sie zu beobachten, so wie sie angewiesen worden war, Alice im Auge zu behalten?
Stockys Züge veränderten sich erneut, als er ein schiefes Lächeln aufsetzte, das vielleicht ein wenig gezwungen wirkte.
»Wir haben den ganzen Vormittag Leute befragt«, berichtete Cate. »Gibt’s hier irgendetwas Neues?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nichts. Außer dass ich mir den Hintern abfriere.«
Cate sah sich um. Die Seepromenade war nahezu verwaist. Nur am gegenüberliegenden Ufer konnte sie eine Familie ausmachen. Eine Frau warf unter den Blicken ihrer Kinder den Enten hastig ganze Brotscheiben zu, als wolle sie es möglichst rasch hinter sich bringen.
»Du hast wenigstens eine schöne Aussicht.« Sie versuchte ein Lächeln.
»Die würde ich gern gegen einen gemütlichen Streifenwagen eintauschen.«
Cate wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Fast wollte sie sich dafür entschuldigen, dass nicht sie hier draußen in der Kälte stand, doch sie schluckte es hinunter. Dann fiel ihr der Van am anderen Ende des Parkplatzes ein. »Wem gehört der?«
»Jemandem, der mit seinem Hund spazieren geht – Gary Wilson. Er sagte, er würde eine halbe Stunde brauchen und auf dem Weg bleiben. Zum Baumgarten kann er nicht hinauf, den haben wir abgeriegelt.« Er peitschte die Worte förmlich hervor.
»In Ordnung.«
»Das war’s so ziemlich, abgesehen von den Vogelbeobachtern, die irgendein albernes Federvieh durch den Wald verfolgen.« Stockdales Tonfall wurde gefälliger. Nun, da es nichts mehr für sie zu tun gab, als ihn seiner Arbeit zu überlassen, wurde er gesprächig. Er deutete zu dem Hang, wo man Rotkäppchen gefunden hatte – nein, hielt sich Cate vor Augen, Teresa. Teresa King. »Dort oben sind immer noch ein paar Tatorttechniker.«
»Ist Heath hier?«
Er schnaubte. »Hab ihn nicht gesehen – wahrscheinlich verschanzt er sich in seinem hübschen, warmen Büro.« Sein Blick wanderte kurz zu Dan und wieder weg. »Das heißt, wenn er klug ist.«
Dan straffte die Schultern und richtete sich zu voller Größe auf. »Wir gehen und statten den Technikern einen Besuch ab, Cate«, sagte er leise.
Stockdale zuckte mit den Schultern und schaute weg, aber als sie auf den Wald zugingen, konnte Cate seinen Blick im Rücken spüren.
Sie traten zwischen die Bäume und erklommen den Hang zum Baumgarten. Der Regen verwandelte sich in einen feinen Nebel, der ihre Gesichter befeuchtete und über die Blätter flüsterte. Als sie auf die Lichtung gelangten, packten die Techniker gerade ihre Ausrüstung zusammen und bauten das Zelt ab, das um den Fundort zu errichten ihnen letztlich gelungen war. Bald würden nur Wege zurückbleiben, die allenfalls ein wenig ausgetretener als zuvor waren, und hier zwischen den abgefallenen Ästen ein leichter Abdruck, der innerhalb kürzester Zeit von neuer Vegetation überwuchert sein würde. Der Makel morbider Erregung würde dem Ort hingegen noch eine ganze Weile anhaften. Cate fragte sich, wie lange es dauern würde, bis irgendein Spaziergänger behauptete, einen Geist gesehen zu haben, und die Geschichte des Mädchens damit in seine eigene verwandelte. Nach einiger Zeit würde das alles sein, was blieb: die Geschichten.
Dan begrüßte die Tatorttechniker. Es klang, als sei es für sie nicht nach Wunsch gelaufen. Sie hatten ein paar Fußabdrücke in der Nähe der Leiche gefunden und Abgüsse davon angefertigt. Außerdem hatten sie ein Stück Stoff entdeckt, das genauso gut schon seit Jahren hier gelegen haben konnte. Eine breiter angelegte Suche nach Fingerabdrücken im Baumgarten hatte weitere Gegenstände zutage gefördert: weggeworfene Süßigkeitenverpackungen, Lutscherstiele, Zigarettenstummel. Allerdings nichts, womit an einem solchen Ort nicht zu rechnen gewesen wäre. Es sah so aus, als böte die beste Chance, auf echte Beweise zu stoßen, die Leiche selbst.
Die Leiche selbst, dachte Cate: Teresa King. Natürlich wurden Menschen nach dem Tod unpersönlich gemacht, das stellte einen notwendigen Bestandteil der Arbeit dar. Doch sie konnte sich einfach nicht recht daran gewöhnen. Die Polizei hatte die Aufgabe, sich mit den Folgen auseinanderzusetzen; den Kummer musste man den Familien überlassen. Dennoch hing ein Gefühl von Traurigkeit über dem Ort.
»Wollen wir runtergehen?«, fragte Dan. Cate drehte sich um, und er zeigte nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern zu einem schmalen Pfad, der zum See führte. Er sah steil aus und war von Bäumen gesäumt. »Abkürzung.«
Sie grinste und folgte ihm, als er sich den Weg durch niedrige, skelettartige Äste bahnte. Alles war feucht, alles troff. Sie stellte sich Stocky und die Miene vor, die er im Gesicht haben musste, während er unter freiem Himmel im Regen stand. Wenigstens würde er sich besser fühlen, wenn er sähe, in welchem Zustand sie zurückkamen. Dan ließ einen Ast zurückschwingen. Glänzende Tropfen lösten sich davon, flogen auf Cates Kleidung und durchnässten sie noch mehr. Weiter vorn konnte sie flüchtig das Grau des Sees erkennen; der Hang verflachte allmählich. Dann packte sie Dan am Arm.
Unter ihnen befand sich jemand, der die Promenade entlangging; sie konnte die Schritte hören. Cate war nicht sicher, weshalb sie stehen geblieben war; sie hatte es getan, ohne nachzudenken.
»Was …«, setzte Dan an, und Cate schüttelte den Kopf. Sie hatte ihm keine Erklärung anzubieten. Immerhin war es den Spaziergängern gestattet worden, die Wege um den See wieder zu benutzen, weil man wollte, dass so schnell wie möglich wieder Normalität in die örtliche Gemeinde einkehrte.
Aber auch das Geräusch der Schritte war verstummt. Cate spähte zwischen den Bäumen hindurch. Der See glich einem beschlagenen Spiegel, verschleiert von leichtem Regen. Davor konnte sie einen Abschnitt der rotbraunen Promenade ausmachen, und als sie hinsah, trat jemand in den Bereich. Cate erkannte die Person auf Anhieb.
Sie setzte sich in Bewegung, durchquerte einen morastigen Geländestreifen, der den Wald von der Promenade trennte, und blieb unmittelbar vor der Spaziergängerin stehen.
Alice sprang mit geweiteten Augen zurück, dann entspannte sie sich sichtlich. »Cate.«
Cate bemerkte die Überraschung der Frau und verspürte eine unerklärliche Verärgerung. War Alice nicht klar, dass sie Heath so weitere Trümpfe in die Hände spielte? Was hatte er noch mal gesagt? Etwas darüber, dass sie gerade rechtzeitig aufgekreuzt war, um die Leiche zu sehen? Aber natürlich war es nicht so gewesen, immerhin hatte sich Cate an Alice gewandt, weil sie ihre Fachkenntnisse nutzen wollte. Trotzdem gingen ihr Heaths Äußerungen – und wie er sie ausgesprochen hatte – nicht aus dem Sinn.
Als sie das Wort ergriff, klang ihre Stimme barsch. »Was machen Sie hier?«
Alice runzelte die Stirn. »Ich lebe hier.«
Cate schaute zum verregneten See und zu den Bäumen, dann wanderte ihr Blick den gegenüberliegenden Hang hinauf. Sie konnte Alices Haus zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass es dort stand, unmittelbar hinter dem Wald. Natürlich.
»Ich komme hier immer zum Spazieren her«, fügte Alice hinzu. »Wenn ich nachdenken will.« Sie klang ein wenig verletzt.
»Alles klar«, erwiderte Cate in sanfterem Tonfall. »Aber bitte seien Sie vorsichtig, das ist alles.« Beobachten Sie die Frau, hatte Heath gesagt. Beobachten Sie die Frau.
»Mache ich – obwohl es sich nicht so anfühlt, als wäre er noch hier, oder?« Mit abwesendem Blick sah sich Alice um.
»Er?«
»Wer immer das getan hat – ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie fühlt es sich einfach so an, als sei der Täter weitergezogen, oder? Wahrscheinlich bin ich albern. Es ist nur so, dass ich immer in diesen Wäldern spazieren gehe. Ich habe keine Lust, mich von so etwas davon abhalten zu lassen. Was soll ich sonst tun? Ich würde nur im Haus herumhocken und die Wände anstarren.«
Cate seufzte, doch es war Dan, der sich zu Wort meldete. »Das wäre aber vielleicht am besten, zumindest, bis diese Sache vorbei ist. Man weiß nie, wer sich herumtreiben könnte.«
Alice begegnete seinem Blick und öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, dann jedoch schloss sie ihn wieder und schaute weg. »Bestimmt haben Sie recht.«
Abermals verspürte Cate eine Verärgerung, die sie nicht erklären konnte. »Sie werden ja ganz nass«, meinte sie. »Vielleicht sollten Sie jetzt wirklich nach Hause gehen.«
Alice schüttelte sich, ergriff die Jacke, die sie sich um die Schultern geschlungen hatte, und zog sie an. Sie lächelte Cate zu. »In Ordnung. Tja, wir sehen uns.« Damit wandte sie sich ab und ging davon, während Cate und Dan verharrten.
»Die ist merkwürdig«, befand er.
Cate sah Alice nach, bis die Dozentin eine Biegung der Promenade erreichte und außer Sicht geriet. Ihr wurde klar, dass sie sich nun in Stockys Blickfeld befand. Alice würde erneut erklären müssen, was sie hier wollte. Wahrscheinlich würde Len Stockdale ihr noch unverblümter begegnen als Cate, und sie verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, als sie an Alices verletzten Gesichtsausdruck zurückdachte. Die Frau hatte recht: Sie sollte in dem Wald, der sich bis zu ihrer Hintertür erstreckte, spazieren gehen dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Cate stellte sich Heaths höhnische Miene vor. Sie wusste genau, was der Ermittlungsleiter sagen würde, wenn er herausfände, dass Alice durch diesen Abschnitt des Waldes spaziert war: Sie kommen gern zurück, würde er brummen. Nichts ist ihnen lieber, als den Ort des Verbrechens erneut zu besuchen.