Kapitel 12
Alice erwachte früh. Eine Zeit lang blieb sie liegen und starrte an die Decke, doch sah sie etwas anderes. Es war, als hätte sich ihr Verstand noch nicht von den Anblicken und Eindrücken des Vortags erholt; Bilder erschienen vor ihren Augen, verblassten und wurden von anderen ersetzt, allesamt nicht angenehm. Schließlich stand sie auf und hob eine Hand an den Kopf. Ein Gedanke kam ihr, und ihr stockte der Atem. Barfuß eilte sie nach unten, überprüfte erst die Vordertür und anschließend den Hintereingang. Dort blieb sie, lehnte sich gegen das kalte, harte Holz und schüttelte den Kopf. Natürlich hatte sie abgesperrt, obwohl es wahrscheinlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Die Dinge, die sie gesehen hatte … sie geschahen einfach nicht, jedenfalls kaum je in der Realität. Höchstens in Geschichten.
Sie sah sich in der vertrauten Küche um. Sonnenlicht ergoss sich in einem Butterfarbton über die blassgelben Wände. Alles war gut. Ihre Habseligkeiten befanden sich genau dort, wo Alice sie zurückgelassen hatte, die Welt wusste wieder, sich zu benehmen, alles hatte seine Ordnung. Dennoch blieb der Eindruck, als wäre alles aus dem Lot geraten. Ihr Heim mochte noch hier sein, aber es fühlte sich so an, als hätte sie selbst sich verändert. Alice wurde das Empfinden nicht los, fehl am Platz zu sein, genau wie im Wald.
Als sie sich dem Fenster zudrehte, stellte sie fest, dass der Himmel aufgeklart hatte. Das graue Laken, das am Vortag über dem Wald gelegen hatte, war zerrissen, wurde von Licht zerschnitten. Die Wipfel der Bäume waren unablässig in Bewegung und sandten goldene Schimmer zurück. Es war richtig, dass sich das Wetter geändert hatte, richtig, dass der Wald ihre Stimmung widerspiegelte, obwohl es ihr eigenes süßes Heim nicht tat.
Alice seufzte. Sie drückte den Schalter des Kessels und lauschte dem Zischen und Brodeln, als das Gerät seine Arbeit verrichtete, wenngleich sie bereits wusste, dass es ihr unmöglich gelingen würde, sich hinzusetzen und bei einer Tasse Tee zu entspannen. Sie erblickte den Ranzen an seinem üblichen Platz in der Ecke, ein Fremdkörper. Er wölbte sich von den Aufgaben ihres neuesten Kurses. Ihr blieben noch mehrere Tage, bevor sie die Arbeiten zurückgeben musste, aber sie konnte zumindest damit anfangen und den Tag mit vertrauten, beruhigenden Tätigkeiten verstreichen lassen.
Alice duschte rasch und zog sich an, bevor sie sich mit einer Tasse Kamillentee an den Küchentisch setzte. Bei der Aufgabenstellung war es um die Geschlechter in Märchen gegangen, um die Rollen, die Frauen für sich beanspruchten oder zugewiesen bekamen: die böse Stiefmutter; die unschuldige und in der Regel tote, echte Mutter; die jüngste Tochter, wunderschön und dazu auserkoren, alles zu haben; die hässliche Schwester, auf die das nicht zutraf. Alice verzog das Gesicht, als ihr durch den Kopf ging, ob Chrissie Farrell auch dann tot geendet hätte, wenn sie hässlich geboren worden wäre. Sie verdrängte den Gedanken. Märchen gehörten ihr – ihr allein. Sie durfte nicht zulassen, dass die Dinge, die sie gesehen hatte, ihr die Erzählungen ruinierten. Alice hatte Märchen schon geliebt, als sie noch ein kleines Mädchen war, das auf dem Knie seiner Mutter Geschichten gelauscht hatte. Der Mutter, die sich heute nicht immer erinnern konnte, wie Alice aussah, wenn sie ihr einen Besuch abstattete. Abermals seufzte sie. Oft fragte sie sich, für wen ihre Mutter sie hielt, welche Eindrücke sie in ihr hervorrief, wenn jede Begegnung für sie die allererste war.
Mittlerweile war es Alice, die ihrer Mutter Geschichten erzählte; mehr konnte sie ihr nicht bieten. Da gab es nur noch die Schilderungen von Ereignissen aus den Jahren, die sie zusammen verbracht hatten; lustige, dramatische, bedeutungslose und traurige Begebenheiten, bunt zusammengemischt. Alice hoffte stets, sie würden irgendetwas in ihrem Geist ansprechen und bewirken, dass sie sich erinnerte, denn das Gedächtnis ihrer Mutter war verschwunden, und damit auch ein Teil ihres Lebens. Die Wirklichkeit ihrer Tage hatte sich auf bloße Worte reduziert, und Alice wusste nie, ob ihre Mutter sie wirklich verstand oder ob sie ihr glaubte.
Das war eine weitere Sache, über die sie eigentlich nicht nachdenken wollte. Sie nahm sich eine der Arbeiten von dem Stapel. Ironischerweise handelte es sich um die von Larissa Horbury, ein Musterbeispiel eines Mädchens, das dazu auserkoren war, alles zu haben – blond, hübsch, selbstbewusst, und sie wusste, dass die Welt ihr gehörte. Ihre Arbeit erwies sich als ganz und gar einfallslos. Alice schob ihren Aufsatz beiseite und griff sich einen anderen, ausgedruckt auf malvenfarbigem Papier. Beim handschriftlichen Namen der Studentin zierte jedes ›i‹ ein kunstvoller Kreis. Alice ertappte sich dabei, die Wand anzustarren. War dieser Kurs so schnell zu einer solchen Routineangelegenheit geworden? Und sollte sie das nicht andererseits gerade in dieser Situation als tröstlich empfinden?
Sie zwang sich, ein paar Zeilen zu lesen. Märchen, zergliedert, zerlegt, einer Zeit und einem Ort zugeordnet, analysiert und letztlich in eine Schublade gesteckt, verwandelt in eine Zahl; 57 Prozent, vielleicht auch 65.
Das Gesicht des zweiten toten Mädchens tauchte vor Alices geistigem Auge auf, und sie schüttelte den Kopf. In Märchen spielte sich der Tod nicht so ab, nicht wirklich. Da wurden Köpfe sauber abgeschlagen. Es gab keine Blutspritzer, keine DNS. Und es gestaltete sich nie schwierig, den Mörder zu finden. Jeder wusste, wer die Hexe und wer die Prinzessin war – es zeigte sich schon in ihren Gesichtern. Das Böse wurde stets als hässlich oder entstellt beschrieben, die Maiden stets als wunderschön und gut, und sie bewahrten sich ihr Aussehen selbst über den Tod hinaus.
Alice runzelte die Stirn. Dabei musste sie an Schneewittchen denken. Vielleicht mauserte sie sich doch noch zur Ermittlerin und stellte Verbindungen her, die sie zuvor gar nicht bewusst in Erwägung gezogen hatte. Sie schloss die Augen und ließ sich Chrissie Farrell durch den Kopf gehen, ihr bezauberndes Gesicht. In der Geschichte war Schneewittchen so schön gewesen, dass der Jäger beschlossen hatte, sie nicht zu töten, aber für das Mädchen hatte es anders geendet. Die wahre Chrissie lagerte mittlerweile in einem Kühlfach, lebte nur noch auf Fotos. Wer ist die Schönste im ganzen Land? Und wie Spiegel erzählten Kameras nur die Wahrheit. Chrissie, jung und bezaubernd, war bei der Tanzveranstaltung gekrönt worden. Nun würde sie für immer schön bleiben, nie altern wie die Mutter oder ihre Freundinnen, nie ihr gutes Aussehen verlieren: ein Leben erstarrt in einem Bilderrahmen statt in einem Sarg aus Glas.
Die unsterbliche Schönheit – ein himmlisches Bild für jeden Prinzen. Liebe hatte sich für Schneewittchen nie angebahnt, nicht wirklich, jedenfalls nicht, bis jeder sie tot wähnte. Alice rümpfte die Nase. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein anderes Mädchen, das bedeckt vom Rot vergossenen Blutes hilf- und leblos zwischen gefällten Bäumen lag – das Mädchen, das dem Weg der Nadeln überantwortet worden war, das so weit vom Pfad abgekommen war, dass es nie den Weg zurück finden konnte. Aber was versuchte sie, Alice zu sagen? Was wollte der Mörder damit sagen?
Alice dachte an die Fundortfotos zurück, die auf diesem, ihrem Tisch ausgebreitet worden waren. Gestern, als für sie alles begonnen hatte. Die Schönheitskönigin – Chrissie – hatte die Augen weit geöffnet und nach oben gestarrt, als begegne sie jemandes Blick. Ihre Schönheit war so zurückgelassen worden, dass man sie sehen und bewundern konnte. Vielleicht hatte der Mörder Bewunderung gewollt. Seht her. Das kann ich tun. Bei Rotkäppchen war es anders gewesen. Ihr Gesicht hatte nach unten gewandt gelegen, als schäme sie sich – ein böses Mädchen bis zum Schluss.
Die Schönheitskönigin und die Hure. Waren den beiden die Rollen aufgezwungen worden?
Wie viele Lesarten dieser Geschichten hatte es seit dem Anbeginn der Welt gegeben? Und nun bildeten diese Mädchen – zur Schau gestellt für andere, die sie finden und ihre eigenen Schlüsse ziehen sollten – weitere Versionen, anscheinend dazu gedacht, dass man über sie grübelte, aus ihnen ableitete, ihnen ihren Kern entlockte.
Sie schob die Aufsätze beiseite. Das Korrigieren half ihr nicht. In der Vergangenheit hatte sie es geliebt, die frühen Geschichten auszugraben, jene, die vor Gewalt und Intensität strotzten; in ihrer Rohheit hatte für Alice immer eine gewisse wilde Magie gelegen. Nun überkam sie ein Anflug von Nostalgie für die sauberen, entschärften Versionen, für die in Pastellfarben gemalten Mären, die besagten, dass Mädchen, die nicht vom Weg abkommen, auch nicht gefressen werden. Chrissie Farrell schien nichts getan zu haben, um dieses Schicksal zu verdienen, außer schön zu sein. Rotkäppchen …
Rotkäppchen. War das zweite Opfer wirklich eine Prostituierte gewesen? Das passte nichts ins Bild der Art von Märchen, wie die meisten Menschen sie kannten. Alice schloss die Augen und überlegte, welches Bild sie selbst von der Figur hatte: weniger wunderschön als vielmehr auf kesse Weise hübsch, schwarze Locken, die Pausbacken und leuchtende Augen umrahmten. Und die Mutter, die an der Tür stand und sich bückte, um das Gesicht der Tochter zu küssen und die Kapuze zurechtzurücken. Rotkäppchen auf dem Weg in den tiefen, finsteren Wald, in dem Gefahren lauerten und Wölfe aufrecht wie Menschen wandelten. Eine rote Kapuze.
Alice kam der Gedanke, dass die Mutter das Kind wenigstens in etwas hätte kleiden sollen, das sie nicht so auffällig gemacht hätte. Stattdessen hatte sie ihre Tochter ausgerechnet mit einem roten Umhang losgeschickt, durch den sie wie im Rampenlicht hervorstechen musste. Der Wald strotzte vor Tieren, Jägern, Wahnsinn und in der Dunkelheit verborgenen Kreaturen, die nur auf unschuldiges Fleisch warteten, bereit, sich an Blut und Küssen gleichermaßen zu laben. Oder vielleicht hätte sie Rotkäppchen überhaupt nicht losschicken sollen. Warum hatte sie ihre Tochter eigentlich an einen solchen Ort entsandt? Sie hätte selbst gehen, ihren Vater oder einen Förster schicken können – jeden außer Rotkäppchen.
Nein, es war die Mutter gewesen, die ihr Kind fortgeschickt hatte, und zwar mit nichts als einigen warnenden Worten zum Schutz: Weich nicht vom Wege ab. Dabei hatte sie zweifellos bereits gewusst, was Rotkäppchen tun würde – sie hatte es gewusst, sobald sie die Worte gerufen und ihr die Idee dadurch in den Kopf gepflanzt hatte.