Kapitel 32
Alice zog Das Grüne Märchenbuch aus dem Regal. Irgendwo auf den Seiten verbarg sich die Geschichte des blauen Vogels. Dann jedoch griff sie noch nach einem anderen Buch und blätterte zu einem alten Gedicht von Charles Perrault, einem im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts geborenen Märchensammler. Die Zeilen stellten seine eigene Ergänzung zu Rotkäppchen dar. Seine persönliche Lesart der Geschichte war beeinflusst von der eigenen moralistischen Interpretation.
Der Wolf, sag ich, und wie’s ihn gibt,
in jeder Form, ganz wie’s beliebt.
Bald tritt er freundlich auf, bald lieb und nett,
ohne Knurren und Heulen und ganz adrett.
Bieder, gefügig, vertraut will er sein,
er lächelt und säuselt, doch nur zum Schein.
Innerlich lechzend raspelt Süßholz er, ach,
so geht er jungen Damen auf der Straße nach,
folgt ihnen ins Haus bis zum Bette hin,
findig verbirgt er, was er hat im Sinn.
Diese lächelnden Wölfe! Ach, wie kann es sein,
dass man nicht erkennt, sie sind gefährlich und gemein.
Alice starrte auf die Seite, nicht sicher, warum sie daran gedacht hatte. Dann lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und blickte hinaus zum Apfelbaum, als könne sie den blauen Vogel herbeizaubern, indem sie nur die Gedanken auf ihn richtete. Vielleicht hatte sie ja genau das getan; hatte sich alles nur eingebildet, sein strahlendes Erscheinungsbild, sein inbrünstiges Lied.
Es gibt keine Regeln, wenn es um Vögel geht.
Natürlich hatte sie es sich nicht eingebildet. Vogelbeobachter durchstreiften die Gegend auf der Suche nach dem Geschöpf, unter ihnen Bernard Levitt mit seinem halb verträumten Blick und seinem verhaltenen Lächeln; nachdem er ihr seinen Namen so sorgsam buchstabiert hatte, konnte sie ihn unmöglich vergessen. Außerdem war da noch die Feder, die sie jedes Mal, wenn sie die Kleidung wechselte, so behutsam in einer Tasche platzierte, als handle es sich um eine Art Talisman. Alice brauchte sie nicht zu berühren, um zu wissen, dass die Feder da war; sie hatte sie so oft mit den Fingern gestreichelt, dass sie gar nicht zu genau hinsehen wollte. Vermutlich war die Feder mittlerweile zu einem mitleiderregend zerfledderten Ding geworden.
Alice lächelte wehmütig, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Die Worte strömten wie unsichtbarer Trost von der Seite.
Die Geschichte des blauen Vogels begann wie so viele Märchen mit Kummer – mit einem um seine tote Königin trauernden König. Wie so viele Könige fand er rasch Trost in Gestalt einer neuen Gemahlin. Diese brachte eine Stieftochter mit, Turritella, die weit weniger lieblich war als Fiordelisa, das leibliche Kind des Königs. Doch darin spiegelte sich auch Turritellas weit weniger liebliche Persönlichkeit wider.
Trotz aller Bemühungen der Königin verliebte sich der Märchenprinz Hals über Kopf in Fiordelisa – die Schönere und Liebenswertere der beiden. Er verweigerte die Annahme der im Namen der hässlicheren Tochter geschickten Geschenke, und als er erfuhr, dass Fiordelisa in den Turm gesperrt worden war, auf dass sie nicht mehr gesehen werde, bettelte er um einige kostbare Augenblicke mit ihr.
Aber der Märchenprinz wurde überlistet. Sie trafen sich in der Dunkelheit, daher konnte er nicht wissen, dass stattdessen Turritella zu ihm geschickt worden war. Unter dem falschen Eindruck, mit seiner Geliebten zu sprechen, machte er ihr einen Heiratsantrag. Als jedoch der Tag der Hochzeit kam, weigerte er sich, das Versprechen einzulösen.
Ungewöhnlich an dieser Geschichte war, dass hier die böse Schwester über eine Fee gebot. Aus Rache für die Weigerung des Prinzen verfluchte diese ihn. Er wurde in einen blauen Vogel verwandelt und musste sieben Jahre in dieser Gestalt leben.
Der Vogel versteckte sich in einem Tannenbaum, um den hungrigen Adlern zu entgehen, aber nachts kam er hervor und durchsuchte das Schloss nach Fiordelisa. Schließlich fand er sie, indem er den Geräuschen allerlei Wehklagens folgte, und der Prinz sang seiner Geliebten so bezaubernd vor, dass alle, die ihn hörten, glaubten, das Waldland werde von einem Geist bewohnt.
Leider entdeckte die Königin die Prinzessin und ihren geflügelten Freier. Sie stellte ihm eine Falle. Rund um seinen Tannenbaum pflanzte sie scharfe Klingen auf, damit sein Leib in Stücke geschnitten wurde, wenn er herauskäme. Des Prinzen Leben wurde durch einen Zauberer gerettet, der die Fee dazu überredete, ihn in einen Menschen zurückzuverwandeln. Wenn er aber der unangenehmen Hochzeit nicht zustimmte, sollte er wieder zu einem Vogel werden.
Was als Nächstes geschah, veränderte alles: Der König starb, und das Volk des Landes verlangte, dass Fiordelisa Königin werden solle. Als die Stiefmutter Widerstand leistete, töteten die Menschen sie. Trotz aller Bemühungen Turritellas fand die neue Königin den Märchenprinzen, und sie wurden endlich wiedervereint, wenngleich erst nach einer letzten Fußnote: Turritella, die hässliche Schwester, versuchte noch einmal, sich einzumischen. Um ihr ein für alle Mal das Handwerk zu legen, ließ das glückliche Paar die Stiefschwester von dem Zauberer in eine große braune Eule verwandeln, die trübselig schreiend davonflog.
Alice lehnte sich zurück und lächelte über die Wendungen der Geschichte und über die Beschreibung des Prinzen unter dem Bann der Fee: Er hatte einen zierlichen Körper wie ein Vogel, bedeckt mit glänzenden blauen Federn. Sein Schnabel glich Elfenbein, seine Augen funkelten wie Sterne, und eine Krone weißer Federn zierte seinen Kopf.
Sie schaute Richtung Fenster. Der blaue Vogel, den sie gesehen hatte, besaß keine weiße Krone, trotzdem war er wunderschön gewesen. Der arme Bernard Levitt in seinem unzulänglichen Versteck: Er hatte sich so sehr gewünscht, ihn zu sehen. Wie in Märchen fiel der Segen manchmal jenem Menschen zu, der nie danach gestrebt hatte. Zum Beispiel die bescheidene Fiordelisa: Sie verdiente ihr Glück so viel mehr als die garstige Turritella, die trotz all ihrer Ränke letztlich in jene große braune Eule verwandelt wurde. Und über Eulen gab es eigene Geschichten: Oft galten sie als böse Omen oder gar als Geister. Vielleicht wollte die Geschichte in Wirklichkeit aussagen, dass die junge Frau getötet worden war.
In vielen Geschichten geschah noch Schlimmeres. Und in Märchen waren Vögel selten, was sie zu sein schienen.