26. Kapitel

Sie saß auf dem Boden und schaukelte lachend vor und zurück, der Inbegriff des Wahnsinns.

Mannomann, das Mädchen braucht echt Hilfe, dachte Gregor.

Vikus kam herbei und hockte sich neben sie auf den Boden. »Nerissa, vielleicht solltest du noch ein wenig ruhen. Fühlst du dich krank?«

»O nein, es geht mir gut. Uns allen geht es gut!« Nerissa kicherte. »Der Krieger hat die Prophezeiung erfüllt.«

»Nein, Nerissa, es ist ihm nicht gelungen, den Fluch zu töten«, sagte Vikus sanft.

»Vikus«, sagte Nerissa. »Das Kleine lebt. Der Krieger hat sein Heil nicht verloren. Die Nager haben nicht den Schlüssel zur Macht.«

Vikus war wie vom Donner gerührt. »So hat Sandwich es gemeint?«, sagte er. »Das haben wir nie in Erwägung gezogen.«

»Was?«, sagte Gregor. Er konnte nicht ganz folgen.

»Mit dem Kleinen in der Prophezeiung war niemals deine Schwester gemeint, Gregor. Es war der Fluch«, sagte Vikus.

»Der Fluch? Warum sollte mein Heil sterben, wenn der Fluch stirbt?«, sagte Gregor.

»Warum raubtest du ihm nicht das Licht?«, fragte Vikus.

»Weil er ein Baby ist. Das kann man einfach nicht machen«, sagte Gregor. »Das ist das Allerschlimmste … Ich … ich meine, wenn man ein Baby töten kann, wovor schreckt man dann überhaupt noch zurück?«

»Das sagt dir dein Herz. Hättest du ihm nicht gehorcht, hättest du dein Heil verloren«, sagte Nerissa.

Gregor ging ein paar Schritte zurück und setzte sich auf den Kubus. Langsam dämmerte ihm, was Nerissa meinte.

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Sein Gefühl hatte ihm gesagt, dass er den Fluch verschonen musste. Hätte er ihn getötet, wäre er nie mehr derselbe gewesen. Er hätte sich selbst für immer verloren.

»Weißt du«, sagte Vikus zu Nerissa, als wäre er mit ihr allein im Raum, »immer wieder überrascht es mich, wie falsch wir Sandwichs Prophezeiungen deuten. Wenn wir sie dann verstanden haben …«

»… ist alles klar wie Wasser«, stimmte Nerissa zu.

Vikus zitierte einen Teil der Prophezeiung:

Was könnte unseren Krieger schwächen?

Wie werden die zornigen Nager sich rächen?

Ein Junges, das noch nicht mal zählt

haben sie dafür auserwählt.

»Die Nager haben den Fluch auserwählt …«, sagte Vikus.

»Und er ist ein Junges, das noch nicht mal zählen kann. Sandwich ging sogar so weit, das Wort ›Junges‹ zu verwenden, das Wort der Nager für ein Kleines«, sagte Nerissa.

»Und der Fluch sichert uns den Frieden«, fügte Vikus hinzu.

»Denn wenn Gregor ihn getötet hätte …«, fuhr Nerissa fort.

»Verheerender Krieg wäre die Folge gewesen«, sagte Vikus. »Der Tod der weißen Ratte hätte ausgereicht, um die Nager wieder zu einen. Es war ein Geniestreich, dieses Junge zu Ripred zu bringen, Gregor. Oh, sie werden nicht wissen, wie sie diesen Zug parieren sollen.«

»Königin Nerissa, sollen wir den Prozess fortsetzen?«, fragte die vorsitzende Richterin.

Nerissa schaute auf, als wäre sie überrascht, wo sie sich befand. »Ein Prozess? Gegen den Krieger? Natürlich wird es keinen solchen geben! Er hat das Unterland gerettet.« Auf Vikus gestützt, stand sie auf und sah, dass die anderen Angeklagten sie anstarrten. Sie lächelte sie ein wenig an, und ihr nächster Satz war allein an Ares gerichtet: »Und alle, die ihm geholfen haben, genießen unsere höchste Wertschätzung.«

Ares senkte den Kopf, sei es, weil er sich verneigte, sei es, weil er ihr nicht in die Augen sehen mochte.

»Möchtet ihr mit mir speisen, ihr vier? Ihr seht halb verhungert aus«, sagte Nerissa. Aus ihrem Mund entbehrte das nicht einer gewissen Ironie, doch die Einladung war willkommen.

Ziemlich benommen von der unerwarteten Wendung der Ereignisse folgten Gregor, Ares, Howard und Andromeda Nerissa aus dem Gerichtssaal. Sie führte sie in ein kleines intimes Speisezimmer. An dem Tisch hatten nicht mehr als sechs Personen Platz. Wasser plätscherte in einem Brunnen in der Ecke. Die Wände waren mit alten Teppichen behangen. Offenbar hatten die ersten Unterländer sie von oben mitgebracht, denn sie zeigten Szenen aus dem Überland, nicht aus dieser dunklen Welt. Der Raum hatte etwas Beruhigendes.

»Schön hier«, sagte Gregor.

»Ja«, sagte Nerissa. »Hier nehme ich oft meine Mahlzeiten ein.«

Sie setzten sich alle. Platten mit erlesenen Speisen wurden hereingetragen. Große Fische, die mit Getreide und Kräutern gefüllt waren, winzige, in geometrischen Mustern angerichtete Gemüse, dampfendes geflochtenes, mit Früchten verziertes Brot, Stapel von hauchdünnem Roastbeef und Ripreds Leibgericht, Garnelen in Sahnesoße. Reichlich gefüllte Teller wurden vor sie hingestellt.

»Glaubt nicht, ich äße immer so üppig«, sagte Nerissa. »Diese Speisen wurden für die Krönung bereitet. Bitte fangt an.«

Gregor tunkte sein Brot in die Sahnesoße und nahm einen kräftigen Bissen.

Eine Weile waren sie alle vollauf mit dem Essen beschäftigt – mit Ausnahme von Nerissa, die ihres vor allem hin- und herschob.

»Ich fürchte, ich bin eine schlechte Gesellschafterin«, sagte Nerissa. »Selbst wenn es mir gut geht. Und in diesem Augenblick nimmt mir die Trauer um meine Cousine das wenige, was ich sonst vielleicht zu sagen wüsste.«

»Uns geht es nicht anders«, sagte Howard betrübt.

»Ja, niemand hier blieb verschont«, sagte Nerissa.

Es stimmte. Die Reise zum Irrgarten hatte jedem von ihnen einen großen Verlust bereitet. Gregor war froh, dass Nerissa es ausgesprochen hatte und sie schweigend weiteressen konnten.

Nach tagelangem Hunger war Gregors Magen von den mächtigen Speisen schon bald voll. Die anderen hörten ebenfalls auf zu essen. Man hätte meinen können, sie würden sich alle sieben- oder achtmal auffüllen, aber so war es nicht.

Nerissa schickte alle vier ins Krankenhaus. Auch Andromeda und Howard waren weder verarztet worden noch hatten sie ein Bad nehmen dürfen.

»Wann seid ihr denn hier angekommen?«, fragte Gregor.

»Etwa zwölf Stunden vor eurer Rückkehr. Andromeda hat Ungeheuerliches geleistet. Sie hat kaum eine Rast eingelegt. Nach unserer Landung brachten sie Mareth ins Krankenhaus und sperrten uns ein. Doch ich kannte eine Frau unter den Wachen. Sie berichtete uns von Mareths Genesung«, sagte Howard.

Im Krankenhaus wurden sie alle sofort ins Bad geschickt. Gregor dachte, dass die Leute wahrscheinlich fast umfielen von seinem Gestank nach faulen Eiern. Er selbst nahm ihn nach mehreren Tagen kaum noch wahr. Er ließ sich in eine Badewanne sinken und spürte, wie all seine Verletzungen protestierten. Die Tintenfischwunden am Arm, die schmerzenden Rippen, die Beule am Kopf, die Ripred ihm zugefügt hatte, die Schrammen und Prellungen von dem Tag der Krönung, die Einschnitte von den Seilen an den Handgelenken. Immer wieder zuckte er zusammen, während er sich abschrubbte. Zum Glück wurde das Badewasser laufend erneuert, sonst wäre es am Ende schlammfarben gewesen.

Anschließend wurden seine Wunden verarztet. Gregor sprach nur, wenn die Ärzte ihm konkrete Fragen stellten. Als er fertig war, warteten die anderen schon auf ihn.

»Ich glaube, wir sollten alle ein wenig ruhen«, sagte Howard.

»Kann uns dabei nichts passieren?«, fragte Gregor.

Niemand antwortete. Es war nicht ganz klar, was für einen Status sie in Regalia hatten. Zwar hatte Nerissa sie von aller Schuld freigesprochen, doch Gregor hatte das Gefühl, dass es immer noch genügend Leute gab, die sie für Verräter hielten.

»Ich habe ein großes Gemach, das uns alle beherbergen könnte. Es steht meiner Familie jederzeit zur Verfügung«, sagte Howard. »Dort sind wir wenigstens zusammen.«

Alle folgten Howard in sein Zimmer. Gregor war dankbar für das Angebot. Er hätte nicht gern in dem Zimmer geschlafen, das er sonst immer mit Boots geteilt hatte.

»Wo ist deine Familie?«, fragte Gregor.

»Sie sind wenige Tage nach unserer Abreise zum Quell zurückgekehrt. Vermutlich werden sie versuchen zu kommen, jetzt, da ich des Verrats angeklagt bin … angeklagt war«, sagte Howard.

Howards Familie hatte sogar mehrere Zimmer, die für sie reserviert waren. Es war wie eine kleine Wohnung. Doch sie zogen sich zum Schlafen alle in das eine Zimmer zurück, das sich sonst die Kinder teilten. Howard und Gregor nahmen zwei nebeneinander stehende Betten. Ares und Andromeda kauerten sich dazwischen zusammen.

»Dann wollen wir jetzt schlafen«, sagte Howard.

Die Fledermäuse schliefen fast auf der Stelle ein. Howard wälzte sich noch eine Weile hin und her, doch dann hörte Gregor, wie sein Atem langsam und regelmäßig wurde. Er selbst lag da und wartete darauf, vom Schlaf übermannt zu werden. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.

Wie würde es jetzt weitergehen? Er nahm an, dass er nach Hause zurückkehren durfte. Wahrscheinlich schon bald. Dann musste er sich seiner Familie stellen. Und einem Leben ohne Boots. Es erschien ihm immer noch unwirklich. Aber das würde sich ändern, wenn er erst zu Hause in der Wohnung war und ihr Bett sah, ihre Spielsachen, ihre Bücherkiste.

Gregor dachte an ihre Kleider, die noch im Museum waren. Er wollte nicht, dass sie dort blieben und von anderen Leuten durchwühlt wurden. Er nahm eine Fackel von der Wand und verließ den Raum.

Ein paar Wachen sahen ihn durch den Flur gehen, doch niemand versuchte ihn aufzuhalten. Er wurde auch nicht gegrüßt oder sonst wie angesprochen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn in Ruhe ließen, weil sie nicht wussten, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollten.

Den Weg zum Museum fand er ohne Schwierigkeiten. Dort, an der Tür, war der kleine Haufen mit Boots’ Sachen. Er hielt sich ihr T-Shirt an die Nase und roch die süße Mischung aus Shampoo und Erdnussbutter und Kleinkind, die seine Schwester ausmachte. Zum ersten Mal füllten sich seine Augen mit Tränen.

»Gregor?«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er stopfte das T-Shirt in seinen Rucksack und wischte sich über die Augen, als Vikus ins Museum kam.

»Hi, Vikus«, sagte er. »Was gibt’s?«

»Der Rat hat soeben eine Versammlung beendet, vermutlich die erste von vielen Versammlungen über die Prophezeiung des Fluchs. Ich habe keinen Zweifel an Nerissas Deutung, doch es gibt auch andere Stimmen. Das nimmt nicht wunder, da es eine neue Sehweise ist. Doch bis darüber entschieden ist, gilt ihr Wort. Da sich das ändern könnte, halte ich es für ratsam, wenn du das Unterland so schnell wie möglich verlässt.«

»Von mir aus gern«, sagte Gregor. »Was ist mit den anderen?«

»Ich glaube nicht, dass gegen Andromeda und Howard erneut Anklage erhoben wird. Du hast ihre Unschuld überzeugend dargelegt«, sagte Vikus.

»Und Ares?«, fragte Gregor.

Vikus seufzte. »Für ihn besteht größere Gefahr. Doch sollte er wieder angeklagt werden, werde ich ihn warnen, damit er fliehen kann. So würde er wenigstens der Hinrichtung entgehen.«

Gregor nickte. Mehr konnte er wohl nicht erhoffen.

»Gibt es etwas, was du gern mitnehmen würdest?«, fragte Vikus und zeigte auf die Regale.

»Nein, ich will nur unsere Sachen«, sagte Gregor.

»Wenn du nichts für dich möchtest, so doch vielleicht für deine Eltern?«, sagte Vikus. »Wie geht es deinem Vater … unterrichtet er wieder?«

»Nein, er ist immer noch zu krank«, sagte Gregor.

»Wie ist das möglich?«, fragte Vikus stirnrunzelnd.

Mit zugeschnürter Kehle nannte Gregor einige Symptome der Krankheit seines Vaters. Auch die Gesundheit seines Vaters hatte das Unterland ihnen geraubt.

Vikus fragte nach weiteren Einzelheiten, aber das war zu viel für Gregor. »Ach wissen Sie, vielleicht nehme ich die Uhr da.« Er zeigte auf eine Kuckucksuhr, die ihm aufgefallen war, als er Batterien zusammengesucht hatte. Er hatte es gesagt, um das Thema zu wechseln, aber tatsächlich wusste er jemanden, dem er damit eine Freude machen könnte.

»Ich werde sie für dich einpacken lassen«, sagte Vikus.

»Danke. Dann geh ich jetzt mal gucken, ob Ares schon wieder fliegen und mich hier rausbringen kann«, sagte Gregor. Er raffte seine Sachen zusammen und verließ das Museum. Vikus könnte sich von Nerissa eine Scheibe abschneiden. Manchmal war einem einfach nicht nach Reden zumute.

Auf dem Rückweg zu Howards Zimmer verlor Gregor völlig die Orientierung. Er war mit dem Weg nicht vertraut, und die Tränen liefen ihm jetzt über die Wangen. Vielleicht war es immer noch besser, hier zusammenzubrechen als zu Hause vor seinen Eltern. Er ging nach links, dann nach rechts, dann kehrte er wieder um. Wo war er? Wo war seine Schwester? Eben war sie noch da gewesen, er hatte ihre Sachen, er konnte sie in seinen Armen spüren … Boots!

Er gab auf und presste die Stirn gegen die Wand. Schluchzend ergab er sich dem Schmerz. Lauter Bilder von Boots kamen ihm in den Kopf. Boots auf dem Schlitten. Boots, die ihm zeigte, wie sie auf einem Bein hüpfen konnte. Boots’ Augen verkehrt herum, sie beide Stirn an Stirn …

Zehn Zehen

kann Boots stehen

einer mit Blase

ärgert Nase.

Puh!

Er hatte ihr hohes Stimmchen im Ohr, wie sie den albernen Badereim nachsang, mit dem Howard sie abgelenkt hatte.

kleine Zehen

Boots Wasser gehen

Sie bekam es nicht hin. Es war zu kompliziert.

und wie Zauber

wieder sauber.

Und dann nieste sie.

Gregor schaute auf. Das konnte nicht sein. Er hörte es wieder niesen. Nicht in seinem Kopf. Im Palast. Er rannte los.

Zehn Zehen

kann Boots stehen

Entweder wurde er jetzt vollkommen verrückt …

einer mit Blase

ärgert Nase

Puh!

… oder das Geräusch war echt! Er raste durch die Flure und stieß dabei gegen die Wände und gegen mehrere Wachen, die ihn aufforderten stehen zu bleiben. Doch er blieb nicht stehen.

kleine Zehen

Boots Wasser gehen

Gregor kam gerade rechtzeitig zum letzten Reim in den Raum.

und wie Zauber

wieder sauber.

Umgeben von sechs Riesenkakerlaken saß sie auf dem Boden und rieb mit beiden Händen ihre Zehen, um zu zeigen, wie sie sie wusch. Er taumelte quer durch den Raum, packte sie und nahm sie ganz fest in die Arme, als ihm ihre fröhliche Stimme ins Ohr quiekste.

»Hallo, du!«