18. Kapitel

Gregor hielt das Schwert, das Temp für ihn gerettet hatte, immer noch in der Hand. Er presste sich an die Wand. In dem Moment, als das Ungetüm sich über Twitchtip hermachen wollte, warf Gregor sich dazwischen und stieß das Schwert geradewegs in die Zunge der Riesenschlange. Etwas Flüssiges spritzte ihm ins Gesicht. Er stolperte zurück und rutschte in einer Pfütze von Twitchtips Blut aus. Seine Füße glitten unter ihm weg und er landete neben der Ratte.

Das Ungetüm bäumte sich auf und schlug mit dem Kopf an die Decke des Tunnels. Felsbrocken regneten auf sie herab. Das Vieh stieß einen Urschrei aus, der Gregor durch und durch ging. Immer wieder schlug es in blinder Wut mit dem Kopf an die Wand, als es sich, das Schwert noch in der Zunge, aus dem Tunnel zurückzog.

Würden noch mehr kommen?

»Ich brauche ein neues Schwert!«, rief Gregor, und Howard warf ihm eins zu. Gregor hockte vor Twitchtip, die Sinne geschärft. Er spürte, dass er nah dran war, wieder in den Zustand des Wüters zu fallen. Er kämpfte dagegen an, versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren, während er auf den nächsten Angriff wartete. Doch es kam kein weiterer Angriff. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen, dass man, wenn man den Kopf in diesen Tunnel steckte, seine Zunge loswurde. Oder vielleicht hatten die Ungetüme etwas Interessanteres zu fressen gefunden. Warum auch immer, es wurde allmählich ruhiger. Das Brüllen nahm ab, das Wasser spritzte nicht mehr hoch.

Gregor öffnete die Fäuste und drehte sich um. Ares war direkt hinter ihm und gab ihm Deckung. Twitchtip hatte beide Pfoten auf die Nase gepresst, um die Blutung zu stoppen. Howard drückte Mareth auf die Brust und versuchte ihn wiederzubeleben.

»Mareth!« Gregor lief zu ihm hin. »Los, Mareth!«

Howard machte weiter und legte dann das Ohr auf Mareths Brust. »Sein Herz schlägt wieder! Was hast du in der Tasche, Überländer?«

Gregor warf den Rucksack auf den Boden. Darin waren die letzten Batterien, das Klebeband, die beiden Schokoriegel und ein paar Auffangtücher, die er eingepackt hatte für den Fall, dass Boots gewickelt werden musste.

Howard riss die Überreste von Mareths blutgetränktem Hosenbein ab und legte eine klaffende Wunde bloß. »Als wir Twitchtip halfen, biss eins von den Ungeheuern zu.« Er legte drei Auffangtücher auf die Wunde. »Halt fest«, befahl er Gregor. Dann umwickelte er das Bein mit Klebeband, damit die Tücher nicht verrutschten. Er setzte sich auf die Fersen und schüttelte den Kopf. »Wenn er überleben soll, müssen wir ihn nach Hause bringen. Halt ihn warm, Andromeda, während ich mich um die Ratte kümmere.«

Andromeda legte sich neben Mareth und umschlang ihn mit den Flügeln. »Ich muss ihn nach Hause bringen. Ich muss ihn nach Hause bringen.«

Howard nahm die letzten beiden Auffangtücher und ging zu Twitchtip hinüber. Mit einem der Tücher verband er ihr den Schwanzstummel. »Es tut mir leid, dass ich ihn durchtrennen musste«, sagte er. »Anders konnte ich dich nicht befreien.«

»Ich hätte ihn selbst durchgebissen, wenn ich gekonnt hätte«, sagte Twitchtip.

Howard legte ihr das zweite Tuch auf die Nase und umwickelte sie mit Klebeband. »Du wirst durch den Mund atmen müssen, bis es verheilt ist.« Die Ratte nickte.

»Was ist mit deiner Nase passiert?«, fragte Gregor.

»Kurz bevor Howard mich befreit hat, hat eine Riesenschlange sie mit dem Schwanz zertrümmert«, sagte Twitchtip. »Ich rieche nichts mehr.«

»Du riechst nichts?«, sagte Gregor. Das bedeutete, dass Twitchtip den Fluch nicht riechen würde. Aber es gab noch etwas weitaus Dringenderes. »Dann kannst du also nicht riechen, wo meine Schwester ist?«

»Sorge dich nicht, Überländer. Meine Cousine und Aurora sind ein hervorragendes Gespann. Gewiss haben sie alle in einem Tunnel Zuflucht gefunden«, sagte Howard. Aber er sah beunruhigt aus.

»Das hatten sie wohl vor«, sagte Twitchtip, wobei sie Gregors Blick auswich.

Gregor hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb. »Das hatten sie vor?«

Twitchtip zögerte. »Es war so ein Durcheinander. Die Riesenschlange schwenkte mich herum und alles war in Bewegung, da war es schwierig, die Gerüche zu orten.«

»Luxa und Aurora haben Boots gefangen. Und Temp. Das hat Aurora mir gesagt«, sagte Ares.

»Ja, das stimmt. Ihre Gerüche waren alle zusammen. Aber dann … aber dann … war Wasser zwischen uns«, sagte Twitchtip.

»Was heißt das? Es war Wasser zwischen uns?«, sagte Gregor.

»Das heißt … ich hab sie immer noch gerochen. Aber zwischen uns war Wasser. Viele Meter Wasser. Ihr Geruch wurde schwächer. Und da hat die Schlange mir auf die Nase geschlagen und alles wurde schwarz«, sagte Twitchtip.

»Du meinst also … sie wurden unter Wasser gezogen?«, sagte Howard.

»Ich bin mir nicht sicher. Doch wenn ich raten müsste, wäre das meine Vermutung«, sagte Twitchtip. Sie schaute zu Gregor. »Tut mir leid, Überländer.«

»Das ist nicht wahr. Ich werde rufen. Ich werde jetzt nach Aurora rufen!«, sagte Ares und schoss aus dem Tunnel.

Während er weg war, bewegte sich niemand. Gregors Körper gefror langsam zu Eis. Ein taubes Gefühl breitete sich von den Füßen bis zu seinen Beinen aus. Über die Hüften. Hinauf bis in den Bauch. Als Ares zurückkam und neben ihm landete, hatte es den Brustkasten erreicht.

»Ich erhalte keine Antwort«, sagte die Fledermaus.

Und das Eis umschloss Gregors Herz.

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Sie hatten Boots getötet. Das war das Schlimmste, was passieren konnte.

Er stellte sich vor, wie er nach New York zurückkehren und zur Wohnungstür hineingehen würde … allein.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Howard fragte: »Was möchtest du jetzt tun, Gregor?«

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Der Frieden der Stunde wird zur Schlacht.

Die Nager haben den Schlüssel zur Macht.

Sie waren jetzt irgendwo und feierten, die Nager. Sie fletschten die Rattenzähne und lachten und beglückwünschten sich dazu, wie hervorragend ihr Plan funktioniert hatte. Wie sie seine kleine Schwester umgebracht und ihn zerbrochen hatten.

Ironischerweise konnte Gregor sich jetzt zum ersten Mal vorstellen, was er tun würde.

»Gregor?«, sagte Howard noch einmal.

Das Eis war seine Kehle hinaufgewandert, seine Stimme war ruhig und kühl. »Ich will, dass ihr alle zurückkehrt. Bringt Mareth nach Hause. Twitchtip auch, wenn ihr das schafft.«

»Und was wirst du tun, Überländer?«, fragte Twitchtip.

Gregor spürte den letzten Rest Wärme schwinden, als das Eis über seine Stirn und den Kopf hinaufwanderte. Niemand konnte ihm jetzt noch irgendetwas anhaben. Er hatte vor nichts mehr Angst.

»Ich?«, sagte er. »Ich werde den Fluch töten.«