23. Kapitel

Ares bestand darauf, dass Gregor ein paar Stunden schlief. Als er aufwachte, begannen sie ihre Reise durch den Tunnel. Anfangs war er schmal, doch schon bald wurde er so breit, dass Ares darin fliegen konnte. Das war eine Erleichterung, denn Gregor taten vom langen Tragen der Ratte schon die Arme weh.

Sie machten in einer Höhle Rast und tranken an einem Bach.

»Erinnerst du dich an diesen Ort?«, fragte Ares.

»Nein«, sagte Gregor. »Oder doch, vielleicht …« Hier hatten sie auch Rast gemacht, als Ripred sie geführt hatte. »War das hier, wo Henry versucht hat, Ripred im Schlaf zu töten?«

»Ja, und du hast dich zwischen die beiden gestellt«, sagte Ares.

»Mir war nicht klar, ob du wusstest, dass Henry einen Anschlag auf ihn geplant hatte«, sagte Gregor.

»Ich wusste es nicht. Es war einer der vielen Fälle, in denen Henry es nicht für nötig befand, mich einzuweihen«, sagte Ares. Und Gregor spürte, dass Ares nicht weiter darüber reden wollte.

Als sie weiterflogen, fing der Fluch wieder an, nach seiner Mutter zu winseln. Wie absurd das Ganze dem Rattenbaby vorkommen musste. In den Armen eines Menschen auf einer Fledermaus durch die Luft zu fliegen und zu wissen, dass seiner Mutter etwas Schlimmes zugestoßen war. Gregor gab der kleinen Ratte den restlichen Schokoriegel. Er hatte noch einen, aber er beschloss, ihn für den absoluten Notfall aufzuheben.

Im Tunnel roch es jetzt durchdringend nach faulen Eiern, und Gregor wusste, dass sie sich der Höhle näherten, in der sie die beiden Spinnen kennen gelernt hatten, Treflex und Gox. Vorm Eingang landete Ares, und sie gingen zu Fuß hinein. Noch immer rann schweflig riechendes Wasser an den Wänden herunter. Dort auf dem Boden hatte die Hülle von Treflex’ Körper gelegen. Mehr war nicht von ihr übrig geblieben, nachdem ihre Gefährtin Gox sie ausgesaugt hatte.

»Sollen wir eine Pause machen?«, fragte Gregor.

»Nicht hier«, sagte Ares.

»Gut«, sagte Gregor, obwohl das, was vor ihnen lag, abscheulich war.

Das übel riechende Wasser des Tunnels tropfte auf sie herab. Ripred hatte sie damals durch diesen Tunnel geführt, damit die Ratten sie nicht erschnüffeln konnten, und sie hatten zweifellos nach faulen Eiern gestunken, als sie herauskamen. Diesmal war die Reise womöglich noch unangenehmer. Damals hatte Gregor einen Helm auf dem Kopf getragen, der ein wenig Schutz geboten hatte. Er war nicht verletzt gewesen. Er hatte sich danach gesehnt, seinen Vater zu finden, anstatt die nächste Begegnung mit ihm zu fürchten. Und anstelle einer Ratte in den Armen hatte er Boots auf dem Rücken gehabt.

Ares war damals auf Temps Rücken geritten, weil der Tunnel so lang und schmal war. Jetzt humpelte er vorwärts, schabte mit den Flügeln an Felsvorsprüngen entlang und duckte sich vor dem Nieselregen, der in den Augen stach.

Nach wenigen Minuten waren sie alle nass bis auf die Knochen. Die Ratte fiepste kläglich. Gregor schleppte sich weiter, immer einen Fuß vor den anderen. Die ganze Zeit im Tunnel, mehrere Stunden lang, wechselten Ares und er kein einziges Wort.

Als sie schließlich ins Freie taumelten, gaben Gregors Knie nach und er fiel mit dem Hintern auf den harten Boden. Er rechnete damit, dass der Fluch, der sich die meiste Zeit in seinen Armen gewunden hatte, versuchen würde wegzulaufen. Stattdessen verkroch er sich unter Gregors Hemd und presste sich an seine Brust.

Ares sackte an einem Felsen neben ihm zusammen.

»Sind hier Ratten in der Nähe?«, fragte Gregor.

»Ungefähr zehn sind gerade im Anmarsch. Aber genau das wollen wir doch, oder?«, sagte Ares.

»So ist es«, sagte Gregor.

Keiner von ihnen machte Anstalten zu fliehen, als die Ratten sie umzingelten. Und dann sah Gregor die Ratte mit der Narbe quer überm Gesicht.

»Hätte ich gewusst, dass ihr kommt, hätte ich aufgeräumt«, sagte Ripred.

»Kein Problem. Wir bleiben nicht lange. Ich wollte dir nur ein Geschenk überreichen«, sagte Gregor.

»Mir? Das wäre aber doch nicht nötig gewesen«, sagte Ripred.

»Du hast mir Twitchtip mitgebracht«, sagte Gregor.

»Aber nicht, weil ich dafür etwas zurückhaben wollte«, sagte Ripred. Seine Nase begann zu zucken, sein Blick blieb an der Ausbuchtung unter Gregors Hemd hängen.

»Du kriegst aber trotzdem etwas«, sagte Gregor und hob das Hemd hoch. Der Fluch rutschte heraus und fiel ihm vor die Füße. Außer Ripred stockte allen Ratten der Atem. Beim Anblick des Artgenossen lief das Rattenbaby auf Ripred zu, doch als er es heftig anzischte, fuhr es jäh zurück und huschte zu Ares hinüber.

»Du kannst wohl keine Kinder leiden, oder?«, sagte Gregor. Ripred hatte Boots damals auch angezischt.

»Dieses hier jedenfalls nicht«, stieß Ripred wütend hervor. »Was hat es hier zu suchen?«

»Ich wusste nicht, wohin damit«, sagte Gregor.

»Du solltest es töten!«, sagte Ripred.

»Aber das hab ich nicht getan. Ich hab es dir gebracht«, sagte Gregor.

»Und wie kommst du darauf, dass ich es nicht töten werde?«, sagte Ripred.

»Ich glaube nicht, dass du ein Junges töten würdest«, sagte Gregor.

»Ha!«, sagte Ripred und lief zornig im Kreis herum. Gregor war sich nicht sicher, ob das ja oder nein bedeutete.

»Na gut, jedenfalls glaube ich nicht, dass du den Fluch umbringen würdest. Wenn du das nämlich tust, kriegst du die anderen Ratten nie dazu, dir zu folgen«, sagte Gregor.

Gregor hatte Glück, dass er saß, denn er schlug so schnell mit dem Hinterkopf auf den Felsen, dass er sich, hätte er gestanden, den Schädel gebrochen hätte. Auch so tat es verdammt weh.

Ripred hielt ihn mit einer Pfote am Boden fest und starrte ihn mit gebleckten Zähnen an. »Und hast du auch bedacht, dass ich unter diesen Umständen guten Grund hätte, dich zu töten?«

Gregor schluckte schwer. Die Antwort lautete ja. Doch anstatt das zuzugeben, schaute er Ripred direkt in die Augen und sagte: »Na gut, aber ich sag dir lieber, dass deine Chancen, wenn wir gegeneinander kämpfen, nur fifty-fifty stehen.«

»Ach ja?«, sagte Ripred. Immerhin hatte Gregor ihn für einen Moment aus dem Konzept gebracht. »Und wieso?«

»Weil ich auch ein Wüter bin«, sagte Gregor.

Ripred prustete so heftig los, dass er hinfiel. Auch die anderen Ratten lachten. Gregor machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich aufzusetzen. »Es stimmt«, sagte er zur Decke. »Twitchtip hat es gerochen. Frag Ares.«

Niemand fragte Ares, sie konnten nicht vor Lachen. Das musste man den Ratten lassen, einen guten Witz wussten sie immer zu schätzen. Schließlich riss Ripred sich zusammen, ließ seinen Schwanz herumsausen und scheuchte die anderen Ratten weg. »Haut ab«, sagte er. »Überlasst sie mir.«

»Na los, Wüter«, sagte er, als die anderen weg waren. »Erzähl mir, was passiert ist, aber haarklein bitte. Ich verließ dich nach unserer erbärmlichen Lektion in Ultraschallortung und …«

»Und dann bin ich Nerissa in die Arme gelaufen«, sagte Gregor. Er erzählte Ripred alles: von den Glühwürmern und den Tintenfischtentakeln, er erzählte, wie sie Twitchtip aus dem Strudel gerettet und Pandora bei der Insel verloren hatten, von den Riesenschlangen im Humpen und der Flucht in die Höhle. Und dann merkte er, dass er nicht weitererzählen konnte.

»Ihr sechs wart also in der Höhle. Was war mit den anderen?«, fragte Ripred.

»Sie waren verloren«, sagte Ares, als klar wurde, dass von Gregor keine Antwort zu erwarten war. Ares nahm den Faden auf und erzählte, wie sich die verbliebene Gruppe geteilt hatte. Wie Twitchtip sie durch den Irrgarten geführt hatte, bis sie zusammengebrochen war. Wie Goldshard und Snare gegeneinander gekämpft hatten. Wie Gregor den Fluch mitgenommen hatte. »Und jetzt sind wir hier.«

Ripred schaute sie nachdenklich an. »Ja, das seid ihr. Der klägliche Rest«, sagte er. »Eure Verluste tun mir leid.«

So war Ripred: Im einen Moment wollte er einen umbringen, im nächsten schien er voller Verständnis dafür zu sein, dass man sich am liebsten in eine Ecke verkriechen und sterben würde.

»Nur so aus Neugier, Gregor, was meinst du, was ich mit dem Kleinen da machen soll, wenn ich es nicht umbringe?«, sagte Ripred.

»Ich dachte, du könntest es, hm, sozusagen großziehen. Alle haben solche Angst davor, was aus ihm wird. Und wenn es Snare in die Hände gefallen wäre, hätte es sich wahrscheinlich zu einem Monster entwickelt. Aber wenn du es unter deine Fittiche nimmst, dann wird es vielleicht ganz in Ordnung«, sagte Gregor.

»Du hast gedacht, ich würde sein Papi sein?«, sagte Ripred, als traute er seinen Ohren nicht.

»Oder wenigstens sein Lehrer. Eine von den anderen Ratten könnte seine Mutter oder sein Vater sein«, sagte Gregor. »Nur für achtzehn Jahre oder so.«

»Ah, da hast du offenbar eine Wissenslücke, was Ratten angeht«, sagte Ripred. »Dieser Flaumball da drüben wird ausgewachsen sein, ehe du den nächsten Winter gesehen hast.«

»Aber … es ist doch noch ein Baby«, sagte Gregor.

»Nur Menschen wachsen so langsam«, sagte Ares. »Das ist eine ihrer großen Schwächen. Alle anderen im Unterland reifen so schnell wie die Ratten. Manche sogar noch schneller.«

»Aber wie wollt ihr ihm in der kurzen Zeit alles beibringen, was es wissen muss?«, fragte Gregor.

»Ratten lernen schneller als Menschen. Und was muss es schon groß lernen? Essen, kämpfen, einen Partner finden, alle hassen, die keine Ratten sind. Um das zu lernen, braucht man nicht lange«, sagte Ripred.

»Du weißt doch noch mehr«, sagte Gregor. »Du weißt sogar einiges über das Überland.«

»Tja, ich habe nachts viele Stunden in euren Bibliotheken zugebracht«, sagte Ripred.

»Du kommst hoch und liest Bücher?«, fragte Gregor.

»Ich lese sie, ich fresse sie, je nach Lust und Laune«, sagte er. »Na gut, Überländer, du kannst das Junge bei mir lassen. Ich werde es nicht töten, aber ich kann nicht versprechen, dass ich ihm viel beibringen werde. Und du weißt auch, dass in Regalia die Hölle los sein wird.«

»Das ist mir egal«, sagte Gregor. »Wenn die glauben, ich mache die Drecksarbeit für sie, sind sie schief gewickelt.«

»So ist’s richtig, Junge. Du bist ein Wüter. Lass dich nicht rumschubsen«, sagte Ripred.

»Ich bin wirklich ein Wüter«, sagte Gregor einfältig.

»Ich weiß. Aber unter den Wütern gibt es Grünschnäbel und es gibt alte Veteranen, die in zahllosen Schlachten gekämpft haben. Und du gehörst zu …?«, sagte Ripred.

»Zu der ersten Sorte«, sagte Gregor. »Und ich hab noch nicht mal ein Schwert.«

»Wie geht’s mit deiner Ultraschallortung voran?«, fragte Ripred.

»Überhaupt nicht«, sagte Gregor. »Ich bin der totale Versager.«

»Aber du wirst weiter üben, weil du so ein unerschütterliches Vertrauen in mein Urteil hast«, sagte Ripred.

»Okay«, sagte Gregor. Er war zu müde, um sich auf einen Streit über Sinn und Unsinn von Ultraschallortung einzulassen. Er stand auf. »Kommst du damit klar? Mit dem Fluch, meine ich?«

»Wenn er seiner Mutter auch nur irgendwie ähnlich ist, werde ich alle Hände voll zu tun haben«, sagte Ripred. »Aber das wird schon gehen.«

Gregor ging zu dem Rattenbaby und strich ihm über den Kopf. »Pass auf dich auf, ja?« Der Fluch schmiegte sich in seine Hand.

»Gib ihm das hier, wenn wir weg sind«, sagte Gregor und reichte Ripred den letzten Schokoriegel. »Das hilft. Ares, kann’s losgehen?«

Ares kam angeflattert und Gregor stieg auf seinen Rücken. »Ach ja, Twitchtip. Wenn sie es bis hierher schafft, darf sie doch bleiben, oder?«

»Oje. Ihr habt sie doch nicht etwa ins Herz geschlossen?«, sagte Ripred.

»Unter den Ratten gehört sie zu unseren Lieblingen«, sagte Ares.

Ripred grinste. »Wenn das arme Würstchen es schafft, sich hierher zu schleppen, soll sie in Gottes Namen bleiben. Fliegt hoch, ihr beiden.«

»Lauf wie der Fluss, Ripred«, sagte Gregor.

Als sie abhoben, schaute er über die Schulter zurück. Der Fluch saß neben Ripred und futterte den Schokoriegel mit Papier und allem Drum und Dran.

Vielleicht würde es ja doch noch gut ausgehen.