Sofort drehte Gregor sich wieder um und rannte los. »O Gott!«, stieß er hervor. »Was machen die denn hier?« Die Kakerlaken hatten Boots entführt. Er hatte ein Bein von ihnen gefunden. Aber was hatten die Unterlandratten so dicht unter der Erdoberfläche zu suchen?
Aber darüber würde er später nachdenken, denn jetzt gerade hatte er Wichtigeres zu tun. Die Ratten holten auf, und zwar ziemlich schnell. Er überlegte, was er tun könnte, aber ihm fiel nichts ein. Er konnte nicht schneller rennen als sie, er konnte nicht besser klettern, und besser kämpfen konnte er schon gar nicht als die Ratten mit ihren fünfzehn Zentimeter langen Zähnen, ihren rasiermesserscharfen Krallen und …
»Huch!« Er lief direkt gegen etwas Hartes. Es traf ihn im Magen und nahm ihm den Atem. Die Taschenlampe glitt ihm aus der Hand, und als sie ins Nichts fiel, erkannte Gregor die runde Öffnung aus Stein, durch die Ares sich damals hindurchgezwängt hatte, um Gregor, seinen Vater und Boots zurück nach Hause zu bringen. Irgendwo ganz weit unten war der gewaltige Ozean des Unterlandes. Der Wasserweg.
Ohne zu überlegen schwang Gregor ein Bein über den Rand der Öffnung und ließ sich hinab. Da hing er dann und klammerte sich mit den Händen am Rand fest. Vielleicht können die Ratten mich hier drin nicht sehen, dachte er, und gleich darauf wurde ihm klar, wie dumm er war. Die Ratten brauchten nicht zu sehen. Sie ließen sich von ihrem phänomenalen Geruchssinn leiten. Was also ein ganz passables Versteck hätte sein können, wenn man von Menschen verfolgt wurde, war als Versteck vor den Ratten vollkommen untauglich.
Und da waren sie auch schon. Erst hörte er das quietschende Geräusch ihrer Krallen, als sie auf dem Stein abbremsten, dann ihr Keuchen, dann ihre Verwirrung.
»Was macht er da?«, knurrte eine Ratte.
»Keine Ahnung«, sagte eine zweite.
Eine Zeit lang hörte Gregor nichts als das Klopfen seines eigenen Herzens. Dann stieß die zweite Stimme hervor: »O nein, du glaubst doch nicht, dass er sich versteckt, oder?«
Und dann fingen sie an zu lachen. Es war ein gemeines, schabendes Lachen.
»Komm raus, komm raus, wo du auch bist!«, sagte die erste Stimme, und die Ratten prusteten wieder los. Gregor konnte sie nicht sehen, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie sich am Boden kugelten.
Er hatte zwei Möglichkeiten: Entweder kletterte er wieder hoch und trat im Stockfinstern den Ratten gegenüber oder er ließ sich in das schwarze Loch fallen und hoffte auf den unwahrscheinlichen Zufall, dass irgendein Kundschafter der Unterländer ihn fand, bevor er ertrank oder jemand ihn zum Abendbrot verspeiste.
Er versuchte sich seine Überlebenschancen auszurechnen. So oder so waren sie äußerst gering. So oder so war die Wahrscheinlichkeit, dass er Boots fand und sie wieder nach Hause bringen konnte …
»Lass los, Überländer«, schnurrte eine Stimme. Im ersten Moment dachte er, es wäre eine Ratte, aber das konnte nicht sein, denn die lachten immer noch, und außerdem hörte es sich ganz anders an. Es hörte sich an wie …
»Lass los, Überländer«, sagte die Stimme wieder, und diesmal hörten die Ratten es auch. Er spürte, wie sie auf die Füße sprangen.
»Töte ihn!«, fauchte die erste Ratte, und als ihr heißer Rattenatem seine Finger streifte, zögerte Gregor nicht länger und ließ sich fallen.
Er hörte das Kratzen von Krallen auf dem steinernen Rand, an dem er sich eben noch festgehalten hatte, und dazu einen Schwall merkwürdiger Rattenflüche.
Dann war da nur noch das grässliche Gefühl, unaufhaltsam in die Tiefe zu fallen. Schon zweimal hatte er das erlebt, einmal, als er im Wäschekeller hinter Boots hergeklettert war, und einmal, als er, um seinen Vater, seine Schwester und seine Freunde zu retten, in einen riesigen Abgrund gesprungen war. Daran, dachte er, werde ich mich nie gewöhnen.
Wo war Ares? Das war doch Ares’ Stimme gewesen, oder? Ganz kurz dachte Gregor, er hätte sich die Stimme der Fledermaus nur eingebildet, doch dann fiel ihm ein, dass auch die Ratten darauf reagiert hatten.
»Ares!«, rief er. Die Dunkelheit dämpfte seine Stimme wie ein Handtuch. »Ares!«
»Hups!«, rief Gregor, eher überrascht als alles andere, denn plötzlich war die Fledermaus unter ihm, und anstatt in die Tiefe zu fallen, flog er jetzt auf ihrem Rücken.
»Mann, bin ich froh, dass du aufgetaucht bist!«, sagte Gregor, während er sich in Ares’ dickem Nackenfell festkrallte.
»Auch ich bin froh, dass du hier bist, Überländer«, sagte Ares. »Es tut mir leid, dass du so tief fallen musstest. Ich weiß, wie unangenehm das für dich ist, aber ich musste erst deinen Lichtstab auffangen.«
»Meinen Lichtstab?«, sagte Gregor.
»Hinter dir«, sagte Ares.
Gregor drehte sich um und sah ein schwaches Leuchten hinter sich. Er nahm seine Minitaschenlampe, die Ares’ Rückenfell beschienen hatte. »Danke!« Das Licht beruhigte ihn ein wenig.
»Du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist! Die Kakerlaken sind rauf in den Park gekommen und haben Boots mitgenommen! Sie haben sie mir direkt vor der Nase geklaut!« Auf einmal war Gregor stocksauer auf die Kakerlaken. »Was haben die sich bloß dabei gedacht? Dachten die, ich merke das nicht?«
Ares bog nach rechts ab und flog jetzt über die Klippen am Rand des Wasserwegs. »Nein, Überländer, sie …«
»Dachten die etwa, das wär mir egal? Als ob sie sich Boots einfach so schnappen könnten und ich dann sagen würde, na ja, Boots seh ich wohl nicht mehr wieder.«
»Das dachten sie nicht«, sagte Ares.
»Dachten die etwa, dass ich sie ihnen einfach überlassen würde? Dass sie sie behalten und um sie rumhopsen und Backe, backe Kuchen singen könnten und …«, sagte Gregor.
»Die Krabbler wussten, dass du ihr folgen würdest«, unterbrach Ares ihn, bevor Gregor völlig ausflippen konnte.
»Natürlich bin ich ihr gefolgt! Und wenn ich die Viecher erwische, sollen die sich mal eine gute Erklärung für die ganze Sache einfallen lassen. Wie weit ist es von hier bis zu ihnen?«, sagte Gregor.
»Ein paar Stunden. Aber ich bringe dich nach Regalia«, sagte Ares.
»Nach Regalia? Ich will aber nicht nach Regalia!«, sagte Gregor. »Du bringst mich jetzt zu den Kakerlaken, und zwar ein bisschen plötzlich!«, befahl Gregor.
Gregor landete flach auf dem Rücken. Ares hatte ihn auf einen Felsen geworfen. Ehe Gregor etwas sagen konnte, saß Ares schon auf seiner Brust, die Krallen tief in seine Daunenjacke gegraben.
Ares’ Gesicht war nur wenige Zentimeter von Gregors entfernt. Er fletschte die Zähne. »Du hast mir nichts zu befehlen, Überländer. Lass uns das von vornherein klarstellen. Du hast mir nichts zu befehlen!«
»Hey!«, sagte Gregor, der mit einer so heftigen Reaktion nicht gerechnet hatte. »Was ist denn mit dir los?«
»Du erinnerst mich gerade auffallend an Henry, das ist mit mir los«, sagte Ares.
Es war eigentlich das erste Mal, dass Gregor Ares’ Gesicht richtig zu sehen bekam. Im Unterland war es für gewöhnlich dämmrig. Und Ares mit seinen schwarzen Augen, der schwarzen Nase und dem schwarzen Maul in dem schwarzen Fell war besonders schlecht zu erkennen. Doch jetzt, im Schein der Taschenlampe, war nicht zu übersehen, dass er wütend war.
Ares hatte ihm das Leben gerettet. Gregor hatte Ares vor der Verbannung bewahrt, die seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Sie waren miteinander verbunden und hatten sich geschworen, bis auf den Tod füreinander zu kämpfen. Aber sie hatten bisher nicht mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt. Gregor wurde sich bewusst, dass er so gut wie gar nichts über die Fledermaus wusste.
»Henry?«, sagte Gregor, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Ja, Henry. Mit dem ich vor dir verbunden war. Du erinnerst dich, ich ließ ihn auf den Felsen zerschmettern, um dir mehr Zeit geben zu können«, sagte Ares beinahe sarkastisch. »In diesem Moment allerdings frage ich mich, ob es nicht klüger gewesen wäre, keinen von euch zu retten, weil du mich ebenso wie Henry als deinen Diener zu betrachten scheinst.«
»Das stimmt doch gar nicht!«, sagte Gregor. »Da, wo ich herkomme, haben wir überhaupt keine Diener. Ich will doch nur meine Schwester zurückholen!«
»Und ich versuche dich auf dem schnellsten Wege zu deiner Schwester zu führen. Doch du hörst mir ebenso wenig zu wie Henry«, sagte Ares.
Gregor musste zugeben, dass das stimmte. Jedes Mal, wenn Ares etwas sagen wollte, hatte Gregor einfach weitergeredet. Aber es passte ihm nicht, mit Henry verglichen zu werden. Mit diesem Verräter hatte er nichts gemein. Trotzdem, vielleicht hatte er sich wirklich danebenbenommen.
»Okay, tut mir leid. Ich war sauer und ich hätte dir zuhören sollen. Jetzt geh von meiner Brust runter«, sagte Gregor.
»Geh von meiner Brust runter und was noch?«, sagte Ares.
»Geh jetzt von meiner Brust runter!«, sagte Gregor, der schon wieder wütend wurde.
»Versuch es noch mal«, sagte Ares. »Denn das klingt in meinen Ohren immer noch sehr nach einem Befehl.«
Gregor biss die Zähne zusammen und widerstand der Versuchung, die Fledermaus einfach abzuwerfen. »Geh – bitte – von – meiner – Brust – runter.«
Ares dachte einen Augenblick nach, entschloss sich dann, die Bitte anzunehmen, und flatterte zur Seite.
Gregor setzte sich auf und rieb sich die Brust. Ihm war nichts passiert, nur seine Jacke hatte dort, wo Ares die Krallen in den Stoff gegraben hatte, mehrere tiefe Löcher.
»He, kannst du nicht auf deine Krallen aufpassen? Guck mal, was du mit meiner Jacke gemacht hast!«, sagte Gregor.
»Das ist nicht von Belang. Sie wird ohnehin verbrannt«, sagte Ares gleichmütig.
In diesem Moment kam Gregor zu der Überzeugung, dass er mit einem Vollidioten verbunden war. Und er war sich ziemlich sicher, dass Ares dasselbe von ihm dachte.
»Na gut«, sagte Gregor kühl. »Wir müssen also nach Regalia. Wieso?«
»Dorthin bringen die Krabbler deine Schwester«, antwortete Ares im selben Ton.
»Und wieso sollten die Krabbler meine Schwester nach Regalia bringen?«, fragte Gregor.
»Weil«, sagte Ares, »die Ratten geschworen haben, sie zu töten.«