Nachdem sie eine Weile geflogen waren, fiel Gregor ein, dass Ares nach dem langen Marsch durch den Tunnel noch gar keine Verschnaufpause gehabt hatte. »Willst du dir einen Platz suchen, wo du ein Nickerchen machen kannst?«, fragte er. »Ich halte Wache.« Doch noch während er das sagte, fing er an zu gähnen. Er selbst hatte auch nicht viel geschlafen.
»Ich fühle mich eigenartig wach«, sagte Ares. »Warum schläfst du nicht, während wir fliegen? Ich wecke dich, wenn ich eine Pause brauche.«
»Gut, danke.« Gregor streckte sich auf Ares’ Rücken aus. Das Fell war feucht und roch nach verfaulten Eiern, aber um Gregors Kleider war es auch nicht besser bestellt. Unter dem Fell spürte er Ares’ warmen Körper. Er schloss die Augen und schaltete alle Gedanken ab.
Erst nach etwa sechs Stunden weckte Ares ihn. Sie ließen sich hoch oben in der Felsnische einer Höhle nieder. Nachdem Ares Gregor mit einigen rohen Fischen versorgt hatte, fiel er sofort in einen tiefen Schlaf.
Gregor nahm einen Fisch und zog mit den Zähnen einen Hautstreifen ab. Dann biss er in das kalte Fleisch. Howard hatte die Fische immer mit dem Messer ausgenommen und einzelne Stückchen fein säuberlich aus den Gräten herausgeschnitten. Gregor besaß kein Messer, er hatte noch nicht mal ein Schwert. Aber was spielte das jetzt auch für eine Rolle? Wie er so auf dem Felsvorsprung über seinen Fisch gebeugt dasaß, kam er sich vor wie auf einer Zeitreise. Er hatte sich in einen Neandertaler verwandelt, der die Zähne in rohes Fleisch schlug, nur um seinen Körper mit den lebensnotwendigen Kalorien zu versorgen. Das musste ein hartes Leben gewesen sein. Sein eigenes war allerdings auch nicht gerade ein Sonntagsspaziergang.
Sehnsüchtig dachte er an alle möglichen schweren, fetten Gerichte. An Mrs Cormacis Lasagne mit viel Soße und Käse. Schokoladenkuchen mit dicker Glasur. Kartoffelbrei mit Soße. Mit einem Stöhnen riss er ein zähes Stück Fisch ab. Wenn man Hunger hat, dachte er, lassen sich Hunderte oder auch Tausende Jahre zivilisatorischer Entwicklung im Nu auslöschen.
Gregor wischte sich die Hände an der Hose ab und lehnte sich zurück an den Felsen. Er starrte in den Schein seiner Taschenlampe, das einzige bisschen Licht an diesem riesigen, dunklen Ort. Er war jetzt bei den letzten Batterien angelangt. Wenn die verbraucht waren, war er ganz auf Ares angewiesen. Aber er war ja sowieso vollkommen abhängig von der Fledermaus. Ihr Verhältnis schien ihm ziemlich unausgewogen. Zu etwa neunzig Prozent sorgte Ares allein dafür, dass sie am Leben blieben. Gregor hatte nicht das Gefühl, ein brauchbarer Bündnispartner zu sein.
Also, hör jetzt damit auf, in die Taschenlampe zu starren, und guck lieber, ob dir was Verdächtiges auffällt!, rief er sich selbst zur Ordnung. Voller Selbstverachtung schwenkte er den Schein über die Felsen. Nichts Neues zu sehen. Trotzdem, er musste mehr auf der Hut sein, wenn er Wache hielt. Howard hatte gesagt, es gebe Tricks, sich wach zu halten. Eine Weile ging Gregor das große Einmaleins durch, das schien zu helfen. Als Nächstes versuchte er sich an die Hauptstädte aller fünfzig Staaten der USA zu erinnern. Aber das reichte nur für, na ja, fünfzig Staaten. Schließlich zwang er sich dazu, etwas auszurechnen, was er bisher verdrängt hatte: die Zahl der Tage, die er sich im Unterland befand.
Es war fast unmöglich, das auszurechnen. Als sie in See stachen, war er noch keine zwei Tage in Regalia gewesen, da war er sich ziemlich sicher. Dann meinte er sich zu erinnern, dass jemand gesagt hatte, bis zum Irrgarten wären es fünf Tage. Und dann noch ein oder zwei Tage, bis sie Ripred getroffen hatten? Insgesamt also neun Tage? Zehn?
Seine Familie war bestimmt schon am Boden zerstört. Pünktlich zu Weihnachten würde er wieder nach Hause kommen. Ohne Boots. Für immer.
Gregor machte sich wieder ans große Einmaleins.
Als Ares aufwachte, gab es noch mehr rohen Fisch und dann zogen sie weiter. Die nächsten ein oder zwei Tage folgten demselben Rhythmus. Gregor schlief, während Ares flog, Ares schlief, während Gregor Wache hielt, bis Gregor plötzlich mit den Worten geweckt wurde: »Überländer, wir sind da.«
Sie waren gelandet. Gregor setzte sich auf und rieb sich die Augen. Hier war es heller, als er es seit Tagen erlebt hatte. Er ließ sich von Ares’ Rücken auf einen glänzenden Steinfußboden gleiten und schaute sich um. Sie befanden sich in der Hohen Halle. Sie war verlassen. Irgendwo in nicht allzu weiter Ferne erklang Musik.
»Wo sind sie alle?«, fragte Gregor.
»Ich weiß es nicht. Doch wenn Musik spielt, muss es eine Art Versammlung geben«, sagte Ares. »Ich glaube, die Musik kommt aus dem Thronzimmer.«
Sie schlurften durch mehrere Flure und gelangten zum Eingang eines riesigen Raums, den Gregor noch nie gesehen hatte. Der Fußboden war leicht ansteigend, wie in einem Kino, und steinerne Bänke standen in vielen Reihen hintereinander. Lauter Fledermäuse und Menschen waren da, und die Menschen waren eleganter gekleidet als gewöhnlich. Viele hatten etwas in der Hand, das in Stoff eingewickelt und mit Bändern zusammengebunden war. Geschenke vielleicht? Alle schauten nach vorn zu einem großen steinernen Thron. Auf dem Thron saß Nerissa.
Sie hatten sie für diese Gelegenheit zurechtgemacht. Ihr ungekämmtes Haar war zu komplizierten Zöpfen geflochten und hochgesteckt worden. Von ihren knöchernen Schultern hing ein mit Edelsteinen verziertes Kleid herab. Hinter ihr stand Vikus. Er ließ eine große goldene Krone auf Nerissas Kopf sinken und hielt dazu eine Rede. Beide hätten kaum trauriger aussehen können als in diesem Moment.
»Was ist hier los?«, flüsterte Gregor.
»Eine Krönung. Nerissa wird zur Königin gekrönt«, sagte Ares leise.
Luxa hatte Recht gehabt. Nach ihrem Tod wurde Nerissa gekrönt, nicht Vikus. Jedenfalls jetzt noch nicht.
»Dann sind Howard und die anderen also zurück«, sagte Gregor. Wie konnten sie in Regalia sonst wissen, dass Luxa tot war?
»Es sieht ganz so aus«, sagte Ares.
Wenn Mareth überlebt hatte, musste er unten im Krankenhaus sein, aber Howard und Andromeda müssten hier sein. Gregor schaute sich im Saal um, konnte sie jedoch nicht entdecken.
Mit den letzten Worten seiner Ansprache setzte Vikus Nerissa die Krone auf den Kopf. Als er sie losließ, beugte sich Nerissas dünner Hals unter dem Gewicht nach vorn. Gregor dachte, wie ungeeignet sie als Königin dieses brutalen, von Kriegen geschüttelten Reichs war. Es war gar nicht die Frage, ob sie seelisch labil war oder ob sie tatsächlich in die Zukunft blicken konnte. Das Mädchen war zu schwach, um eine Krone auf dem Kopf zu tragen. Gregor sah Luxa vor sich, wie sie ihr goldenes Haarband zurückschob. Ob sie nun Königin sein wollte oder nicht, er zweifelte nicht daran, dass sie der Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Aber Luxa lebte nicht mehr.
Howard hatte Recht: Sie hätten Vikus zum König krönen sollen. Vikus wäre ein gutes Oberhaupt, er war klug und diplomatisch. Und er war jemand, dem die Macht nicht zu Kopf steigen würde.
Als Nerissa die Armlehnen des Throns umfasste und es schaffte, den Kopf zu heben, fand ihr Blick Gregor. Im selben Moment veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und dann sank sie ohnmächtig hin. Mit einem Klirren fiel die Krone hinunter und rollte über den Boden.
Es gab einen großen Aufruhr. Fast sofort kamen Leute mit einer Trage und trugen Nerissa fort. In den Reihen gab es viel Raunen und Kopfschütteln, vermutlich von jenen, die von vornherein dagegen gewesen waren, Nerissa zur Königin zu machen.
Dann entdeckte jemand Gregor und Ares. Die ganze Zeit hatten sie unbemerkt im Eingang gestanden, da die Aufmerksamkeit aller nach vorn gerichtet war. Jetzt drehten sich Hunderte von Leuten zu ihnen um und bombardierten sie mit Fragen. Vikus winkte Gregor zu sich. Er hatte nicht vorgehabt, die Geschichte von dem Fluch in einer solchen Situation zu erzählen. Er wollte mit Vikus allein sprechen und dann nach Hause zurückkehren. Aber das ging jetzt nicht mehr.
Als Gregor und Ares sich einen Weg durch den Gang nach vorn bahnten, machte die Menge ihnen Platz und verstummte allmählich. Als sie den Thron erreicht hatten, schienen alle den Atem anzuhalten.
»Seid gegrüßt, Gregor der Überländer, Ares, wir freuen uns, euch lebend zu sehen. Was bringt ihr uns für Neuigkeiten?«, sagte Vikus. »Habt ihr den Fluch gefunden?«
»Wir haben ihn gefunden«, sagte Gregor.
Sofort redeten alle im Saal aufgeregt durcheinander. Mit einer Handbewegung brachte Vikus sie zum Schweigen. »Und hast du ihm das Licht geraubt?«, fragte er.
»Nein, wir haben ihn zu Ripred gebracht«, sagte Gregor.
Einen Moment schwiegen alle fassungslos, dann brach ein Tumult los. Er sah, wie sich die Gesichter, die der Menschen und die der Fledermäuse, zu wütenden Grimassen verzogen. Etwas traf ihn seitlich am Kopf. Er fasste an die Stelle und sah, dass seine Hand voller Blut war. Zu seinen Füßen lag ein kleiner verzierter Krug. Er war wohl als Geschenk für die neue Königin gedacht gewesen. Jetzt hagelte es weitere Gegenstände. Ein Tintenfass. Ein Medaillon. Ein Kelch. Allen gemein war, dass sie aus Stein waren. Es waren allesamt Kunstwerke, doch das war Gregor herzlich egal. Er merkte nur, dass Ares und er gerade gesteinigt wurden.
Ares versuchte sich zwischen Gregor und die Menge zu stellen, aber das war zwecklos. Sie kamen immer näher und drängten die beiden an die Wand. Stimmen wurden laut, die ihren Tod forderten.
Gregor erinnerte sich an Ripreds Worte: »Und du weißt auch, dass in Regalia die Hölle los sein wird.« Er hätte sich ruhig etwas präziser ausdrücken können!
Mitten in dem Chaos hörte Gregor, wie ein Horn geblasen wurde, und da zog sich die Menge wieder zurück. Mehrere Wachen stellten sich im Halbkreis um Gregor und Ares auf, und sie wurden aus dem Saal geleitet.
»Ihr kommt mit mir«, sagte eine Frau, die offenbar das Kommando hatte, und Gregor, der nur zu froh war, von hier wegzukommen, tat wie ihm geheißen.
Es ging mehrere Treppen hinunter, bis sie schließlich in einem stillen Flur tief unter dem Palast anlangten. Die Frau hielt ihnen eine steinerne Tür auf. Das kam Gregor merkwürdig vor, denn im Palast gab es fast überhaupt keine Türen.
Zusammen mit Ares ging er in den von Fackeln erleuchteten Raum, und die Tür schloss sich hinter ihnen. Dann hörte er ein Geräusch, das so klang, als würde ein Riegel vorgeschoben. »Wo sind wir?«, fragte er Ares. »Sollen wir hier vor den anderen geschützt werden?«
»Die anderen sollen vor uns geschützt werden«, sagte Ares. »Dies ist der Kerker. Sie haben uns wegen Hochverrats verhaftet.«
»Was?«, sagte Gregor. »Wieso das denn?«
»Weil wir Verbrechen gegen den Staat Regalia begangen haben«, sagte Ares. »Hast du die Anklage nicht gehört?«
Gregor hatte nur eine Menge Leute durcheinander brüllen hören.
»O nein!« Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Lasst mich hier raus! Ich will mit Vikus reden!« Es kam keine Antwort. Er gab bald auf, weil es ziemlich wehtat, mit der Faust gegen die Steintür zu schlagen.
Er wandte sich wieder zu Ares. »Verrat also, hm? Das ist ja super. Und was passiert, wenn wir für schuldig befunden werden? Werden wir dann verbannt oder was?«
»Nein, Überländer«, sagte Ares. »Auf Verrat steht bei uns der Tod.«