4. Kapitel

Sie zu töten? Warum das denn?«, fragte Gregor fassungslos.

»So sagt es die ›Prophezeiung des Fluchs‹ voraus«, sagte Ares.

»Die Prophezeiung des Fluchs.« Jetzt fiel es Gregor wieder ein. Als er das Unterland damals verlassen hatte, hatte er zu Luxa gesagt, er würde nie wiederkommen, und sie hatte geantwortet: »Davon ist in der nächsten Prophezeiung nicht die Rede.« Und dann hatte er Vikus danach gefragt, aber der hatte sich herausgeredet, ihn gedrängt, auf die Fledermaus zu steigen, und den Befehl zur Abreise gegeben. Gregor wusste also nicht, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hatte, aber die erste Prophezeiung, in der er erwähnt wurde, hatte den Tod von vier Mitgliedern eines zwölfköpfigen Suchtrupps bedeutet und einen Krieg ausgelöst, in dem zahllose weitere ihr Leben gelassen hatten.

Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. »Was steht da drin, Ares?«

»Frag Vikus«, sagte Ares kurz angebunden. »Ich bin es leid, immer unterbrochen zu werden.«

Gregor stieg auf Ares’ Rücken, und sie flogen weiter nach Regalia, ohne noch ein Wort zu wechseln. Gregor war wütend auf Ares, noch wütender war er jedoch auf sich selbst, weil er seine Familie schon wieder in Gefahr gebracht hatte. Ja, Luxa hatte etwas von einer weiteren Prophezeiung gesagt. Aber nachdem seine Mutter und er den Schacht im Wäschekeller dicht gemacht hatten, hatte er keinen Gedanken mehr daran verschwendet, ins Unterland zurückzukehren. Halt dich vom Wäschekeller fern, dann landest du auch nicht im Unterland, hatte er sich gesagt. Aber wie hatte er Boots nur mit in den Central Park nehmen können? Er wusste doch, dass es dort noch einen Eingang gab! Und er wusste auch, dass es eine zweite Prophezeiung gab. Es war dumm von ihm gewesen, sich in Sicherheit zu wiegen.

Als sie in die wunderschöne Stadt aus Stein kamen, war es dort so still, dass Gregor dachte, es müsse mitten in der Nacht sein. Im Unterland war »Nacht« relativ, denn es gab dort weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht wie im Überland. Aber Gregor dachte sich, es müsse die Zeit sein, zu der die meisten Bewohner der Stadt schliefen.

Ares steuerte den Palast an und landete sanft in der Hohen Halle, in dem großen Raum ohne Decke, wo viele Fledermäuse gleichzeitig ankommen konnten.

Dort stand Vikus ganz allein und erwartete sie geduldig. Er sah genauso aus, wie Gregor ihn in Erinnerung hatte, das silberne Haar und den Bart kurz geschoren, die violetten Augen von einem Netz aus Falten umgeben, die vor allem sichtbar wurden, wenn er lächelte. Jetzt, als Gregor abstieg, lächelte er.

»Hallo, Vikus«, sagte Gregor.

»Ah, Gregor der Überländer! Ares hat dich gefunden. Ich dachte, es wäre am besten, dich in dem Durchgang eures Wäschekellers zu suchen, doch er bestand darauf, am Wasserweg Ausschau zu halten. Ich stelle fest, dass ihr, die ihr miteinander verbunden seid, bereits auf die gleiche Weise denkt«, sagte Vikus.

Weder Ares noch Gregor erwiderten etwas darauf. Da sie noch nicht einmal miteinander sprachen, wäre es albern gewesen, so zu tun, als bestünde zwischen ihnen so etwas wie eine Seelenverwandtschaft.

Vikus schaute rasch von einem zum anderen und fuhr fort: »Also dann … sei willkommen! Du siehst gut aus. Und deine Familie?«

»Danke, auch gut. Wo ist Boots?«, sagte Gregor. Er konnte Vikus gut leiden, aber jetzt, da die Kakerlaken Boots entführt hatten und die Prophezeiung drohend über ihm schwebte, war ihm nicht nach Smalltalk.

»Ah, die Krabbler müssten in Kürze mit ihr kommen. Mareth hat sie mit einer Abordnung aufgesucht, und ich konnte Luxa nicht davon abhalten mitzugehen. Gewiss hat Ares dir unsere missliche Lage geschildert«, sagte Vikus.

»Nicht direkt«, sagte Gregor.

Wieder schaute Vikus von einem zum anderen, aber weder Gregor noch Ares gaben eine Erklärung ab.

»Nun denn. Als Erstes sollten wir uns die Prophezeiung des Fluchs gemeinsam ansehen. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich sie, als du das Unterland verließest, kurz erwähnte«, sagte Vikus.

»Sehr kurz«, murmelte Gregor. Er erinnerte sich vor allem daran, dass Vikus ihn zur Abreise gedrängt und kein Sterbenswörtchen verraten hatte.

»Dann wollen wir uns jetzt in Sandwichs Zimmer begeben. Ares, du begleitest uns bitte«, sagte Vikus und ging in den Palast.

Gregor folgte ihm und Ares flatterte hinterher.

Vikus sprach erst wieder, als sie vor einer massiven Holztür standen. Er nahm einen Schlüssel aus seinem Umhang und schloss auf. »Du findest sie zu deiner Rechten«, sagte er und ließ Gregor vorgehen.

Gregor nahm eine Fackel aus einem Halter neben der Tür und betrat den Raum. Alle Wände waren über und über mit Wörtern bedeckt, die der Gründer Regalias, Bartholomäus von Sandwich, im siebzehnten Jahrhundert dort eingemeißelt hatte. Die Wörter bildeten Prophezeiungen, Visionen von Sandwich, nach denen die Unterländer lebten und starben. Als Gregor diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte, war die Wand gegenüber der Tür von einer kleinen Öllampe erleuchtet gewesen. Dort hatte Sandwich die graue Prophezeiung eingemeißelt. Jetzt lag diese Stelle im Schatten. Die Lampe stand an der Wand rechts von ihm. Darüber war etwas, das aussah wie ein Gedicht. Das musste es sein. Die Prophezeiung des Fluchs.

Gregor hielt die Fackel hoch, um besser sehen zu können, und begann zu lesen:

Wenn Unten fällt, wenn Oben springt

wenn Leben Tod ist, Tod Leben bringt

steigt etwas aus dem Finstern auf

und das Sterben nimmt seinen Lauf.

In der Tiefe haust die Ratte

die Schneegleiche, Nimmersatte

die Teuflische mit weissem Gesicht

Raubt der Krieger dir das Licht?

Was könnte unseren Krieger schwächen?

Wie werden die zornigen Nager sich rächen?

Ein Junges, das noch nicht mal zählt

haben sie dafür auserwählt.

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Der Frieden der Stunde wird zur Schlacht.

Die Nager haben den Schlüssel zur Macht.

Ebenso wenig, wie Gregor damals die graue Prophezeiung verstanden hatte, verstand er jetzt diese Verse. Aber er blieb an drei Wörtern hängen, die ihn innerlich frösteln ließen: Stirbt das Kleine … Stirbt das Kleine … Stirbt das Kleine … Boots …

»Okay, ich will das Ding durchgehen, hier und jetzt«, sagte Gregor.

Vikus nickte. »Ja, es ist sicher ratsam, die Prophezeiung sofort zu entschlüsseln. Sie ist nicht so kryptisch wie die erste, doch das eine oder andere solltest du wissen. Wollen wir von vorn beginnen?« Er ging zu der Prophezeiung und fuhr mit den Fingern über die ersten beiden Zeilen. »Dein Blick ist frisch, während ich das hier schon tausendfach gelesen habe. Lass hören, Gregor, was sagen dir diese Worte?«

Diesmal schaute Gregor sich die Zeilen genauer an …

Wenn Unten fällt, wenn Oben springt

wenn Leben Tod ist, Tod Leben bringt

… und stellte fest, dass er wusste, was sie bedeuteten. »Das handelt von mir und Henry. Ich bin Oben, ich bin gesprungen. Henry ist Unten, er ist gefallen. Ich lebe, und er ist gestorben.«

»Ja, und auch König Gorger und seine Ratten starben, was dem Unterland Leben brachte«, sagte Vikus.

»Mann, wieso haben Sie mir das nicht vorher gesagt? Dann hätte ich vielleicht gewusst, was auf mich zukommt!«, sagte Gregor.

»Nein, Gregor, erst im Nachhinein ist es deutlich. ›Unten‹ musste sich nicht unbedingt auf Henry beziehen, es konnte auch jeder andere im Unterland gemeint sein oder das Unterland selbst. ›Oben‹ hätte auch dein Vater sein können. Dein Sprung hätte kein Sprung im wörtlichen Sinn sein müssen, es hätte ein geistiger oder seelischer Sprung sein können. Henrys Fall hätte eine Anspielung auf einen physischen Tod sein können oder auch ein Verlust von Macht oder Ehre. Tatsächlich war die Deutung, dass ein menschlicher Unterländer in den Tod stürzen könnte, nicht sonderlich verbreitet. Henry hätte nie vermutet, dass er auf eine solche Weise ums Leben kommen würde«, sagte Vikus.

»Warum nicht?«, fragte Gregor.

Vikus schaute schnell zu Ares und zögerte.

»Weil er gedacht hätte, ich würde ihn auffangen«, sagte Ares geradeheraus.

»Ja«, sagte Vikus. »Du siehst also, dass die erste Prophezeiung für uns wirklich grau war, während sie uns jetzt natürlich klar wie Wasser erscheint. Sollen wir fortfahren?«

Gregor las die nächsten Zeilen still für sich.

steigt etwas aus dem Finstern auf

und das Sterben nimmt seinen Lauf.

»Es wird also etwas Böses kommen, etwas Tödliches«, sagte Gregor.

»Es wird nicht nur kommen, es ist schon da, und zwar seit geraumer Zeit. Nur haben die Ratten es bisher verborgen gehalten, sogar vor ihresgleichen. In der folgenden Strophe wirst du darüber mehr erfahren.« Vikus zeigte auf die nächsten vier Zeilen.

In der Tiefe haust die Ratte

die Schneegleiche, Nimmersatte

die Teuflische mit weissem Gesicht

Raubt der Krieger dir das Licht?

Gregor betrachtete die Zeilen eine Weile. »Es geht also um eine Ratte. Eine weiße Ratte?«

»Eine Ratte in der Farbe von Schnee. Hier im Unterland haben wir keinen Schnee, aber ich stelle ihn mir sehr schön vor«, sagte Vikus ein bisschen wehmütig.

»Ja, er ist wirklich schön«, sagte Gregor. »Jetzt gerade liegt überall Schnee. Dann sieht alles besser aus.« Das stimmte, jedenfalls wenn es Neuschnee war. Er bedeckte den Schmutz und den Müll, und eine Zeit lang sah die Stadt sauber und frisch aus. Und dann wurde er zu Matsch. »Und diese weiße Ratte …?«

»Um sie ranken sich viele Legenden. Schon als er noch im Überland lebte, kannte Sandwich Erzählungen über die weiße Ratte. In der Geschichte taucht alle paar Jahrhunderte eine solche auf, versammelt andere Ratten um sich und errichtet eine Schreckensherrschaft. Geschick, Stärke und Größe dieser Ratte sind außergewöhnlich«, sagte Vikus.

»Größe?«, sagte Gregor. »Ist sie etwa noch größer als die anderen Ratten hier unten?«

»Bedeutend größer«, sagte Vikus. »Wenn man der Legende glauben will. Zur Stunde gibt es nur einen, der zwischen diesem Untier und dem Unterland steht, und das bist du. Der Krieger. Du stellst eine Bedrohung für sie dar. Deshalb halten sie die weiße Ratte so sorgsam versteckt. Sie wollen nicht, dass du sie findest. Doch auch du hast einen wunden Punkt.«

Vikus tippte auf die dritte Strophe und Gregor las weiter.

Was könnte unseren Krieger schwächen?

Wie werden die zornigen Nager sich rächen?

Ein Junges, das noch nicht mal zählt

haben sie dafür auserwählt.

»Weißt du, was ein ›Junges‹ ist?«, fragte Vikus.

»So hat Ripred Luxa und Henry mal genannt, als sie nicht gehorchen wollten«, sagte Gregor. Und plötzlich fragte er sich, wie viel die große narbige Ratte, die bei der Rettung seines Vaters geholfen hatte, von alldem hier wusste.

»Er hat es zweifellos sarkastisch gemeint, er wollte sie daran erinnern, dass er das Sagen hatte. Denn für die Ratten ist ein ›Junges‹ ein kleines Kind. Das einzige kleine Kind, das dir nahe steht, ist Boots«, sagte Vikus.

Gregors Blick wurde von der letzten Strophe der Prophezeiung angezogen.

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Der Frieden der Stunde wird zur Schlacht.

Die Nager haben den Schlüssel zur Macht.

»Die denken also, wenn sie« – Gregor konnte es kaum aussprechen – »Boots umbringen, wird mir etwas zustoßen.«

»Es wird dich auf irgendeine Art brechen«, sagte Vikus. »Und wenn das geschieht, werden die Ratten uns alle übermannen.«

»Das setzt einen ja gar nicht unter Druck«, sagte Gregor spöttisch, aber er hatte große Angst. »Sind Sie sich sicher, dass es um Boots geht?«

»So sicher, wie wir in diesem Moment sein können. Es ist allgemein bekannt, wie nahe du ihr stehst. Dass du dein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hast, dass du in die Tiefe sprangst, damit König Gorger sie nicht töten konnte – das hat alle tief beeindruckt. Fällt dir ein anderes kleines Kind ein, das gemeint sein könnte, Gregor?«, fragte Vikus ernst.

Gregor schüttelte den Kopf. Es war Boots. Und in einem hatten sie Recht: Wenn sie Boots töteten, würde etwas in ihm zerbrechen. »Warum habt ihr sie dann hier runtergeholt? Wieso habt ihr sie nicht einfach im Überland gelassen, wo sie in Sicherheit war?«

»Weil sie nicht in Sicherheit war. Und auch du nicht. Die Krabbler beobachten dich Tag und Nacht, um dich zu beschützen«, sagte Vikus.

Gregor sah plötzlich den Kakerlak vor sich, den er heute Morgen in dem Mayonnaiseglas gefangen hatte. »Sie meinen die kleinen?«

»Ja, sie stehen im Austausch mit den großen hier unten. Doch auch die Ratten beobachten dich. Seit du das Unterland verlassen hast, haben sie deine Familie auf Schritt und Tritt verfolgt und deiner Schwester nach dem Leben getrachtet«, sagte Vikus. »Bei euch zu Hause war das nicht möglich. Aber heute hast du dich mit ihr sehr nahe an eins der Tore gewagt.«

»Wir waren Schlitten fahren im Central Park«, sagte Gregor.

Da meldete sich Ares zu Wort. »Der Überländer wurde in den Tunneln von den Nagern gejagt. Er musste sich in den Wasserweg fallen lassen, um ihnen zu entkommen.«

»Dann haben die Krabbler Boots offenbar gerade noch rechtzeitig gerettet. Auf sie hatten die Nager es heute abgesehen, Gregor«, sagte Vikus.

»Warum bringen sie nicht einfach mich um?«, fragte Gregor wie betäubt.

»Das würden sie nur zu gern. Doch sie haben gesehen, wie du sprangst und den Sprung überlebtest, deshalb trauen sie sich das nicht zu«, sagte Vikus. »Und im Augenblick sind sie mehr mit der Prophezeiung beschäftigt. Sie wollen dich zerstören, indem sie Boots töten.«

»Ich glaube trotzdem, dass wir im Überland sicherer wären. Wir gehen einfach nicht mehr in den Central Park. Wir sorgen dafür, dass Boots drinnen bleibt …« Aber so ganz überzeugt war Gregor doch nicht, dass sie zu Hause sicherer wäre.

»Wenn du das wirklich willst, schicke ich euch auf dem schnellsten Weg zurück. Aber sie werden sie finden, Gregor, jetzt, da sie darauf aus sind. In ihrer Vorstellung ist es ein Wettrennen. Sie müssen Boots töten, ehe die weiße Ratte getötet wird. Nur einer von beiden kann überleben. Ob du es glaubst oder nicht, wir haben sie ins Unterland geholt, um sie zu schützen«, sagte Vikus.

»Und um euch selbst zu schützen«, sagte Gregor rundheraus.

»Ja. Und um uns selbst zu schützen«, sagte Vikus. »Doch da unsere Schicksale miteinander verwoben sind, schien es ein und dasselbe zu sein. Also, wie wirst du dich entscheiden? Sollen wir euch nach Hause bringen oder willst du an unserer Seite kämpfen?«

Gregor dachte an das scharrende Geräusch, das er zu Hause manchmal in den Wänden gehört hatte. Es hatte seine Mutter nervös gemacht, obwohl sein Vater meinte, es seien wahrscheinlich nur Mäuse. Aber wenn es nun Ratten waren? Und wenn sie nur ein paar Zentimeter Putz entfernt waren und Boots belauerten? Sie belauerten und warteten und alles den Riesenratten im Unterland berichteten.

Von der Tür her kam ein Rascheln. Als Gregor hinschaute, sah er Boots, die auf dem Rücken eines Riesenkakerlaks mit verbogenem Fühler hereinkam.

»Ge-go!« Sie kicherte. »Ich reiten! Boots reitet auf Temp!«

Sie war so fröhlich … und so klein … und hilflos … er konnte nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf sie aufpassen … er musste zur Schule … niemand sonst konnte sie beschützen … selbst er hatte heute versagt … wenn das wieder passierte, konnten die Ratten sie binnen einer New Yorker Minute umbringen. Sogar noch schneller.

»Wir bleiben«, sagte Gregor. »Wir bleiben, bis das alles vorbei ist.«