9. Kapitel

Ultraschallortung?«, sagte Gregor verblüfft. »Du willst mir Ultraschallortung beibringen?« Er befand sich in einer runden Höhle irgendwo weit unterhalb Regalias und hatte nichts als seine Minitaschenlampe bei sich.

Ripred stand lässig an der Wand gelehnt. Selbst für eine Ratte hatte er eine miserable Haltung. Wenn er kämpfte, schien sich sein ganzer Körper zu straffen, dann strotzte er nur so vor Energie und Kraft. Ansonsten machte er nicht viel her. Er erinnerte Gregor an diese unförmigen Baseball-Pitcher, deren Bauch fast das Trikot sprengte, während sie sich vorwärts schleppten. Man traute ihnen kaum zu, dass sie es ohne Verschnaufpause einmal um die Bases schaffen würden. Aber stellte man sie auf die Pitcher’s Plate, feuerten sie einen Ball ab, der mit hundert Sachen durch die Luft sauste und den Schlagmann das Schielen lehrte.

Jetzt ließ Ripred sich an der Wand herunterrutschen, als fände er es sogar zu anstrengend, angelehnt zu stehen. »Ja, Ultraschallortung. Was weißt du darüber?«

»Ich weiß, dass Fledermäuse sich damit orientieren. Vielleicht auch Delphine. Es ist so was wie Radar. Sie geben einen Laut von sich, und wenn der von einem Gegenstand abprallt, können sie den Gegenstand orten, ohne ihn zu sehen«, sagte Gregor. »Aber Menschen können das nicht. Ich auch nicht.«

»Bis zu einem gewissen Grad kann das jeder. Im Überland machen einige blinde Menschen davon Gebrauch, mit hervorragenden Resultaten«, sagte Ripred. »Die Unterlandmenschen schenken dem Phänomen keine große Beachtung, aber das ist sehr töricht. Alle anderen hier unten machen es sich in irgendeiner Form zunutze.«

»Du meinst die Kakerlaken und die Spinnen und …«, setzte Gregor an.

»Wir alle. Da wir seit Generationen in der Dunkelheit leben, haben wir die Fähigkeit besser entwickeln können. Doch selbst wenn du nur die einfachsten Ansätze erlernen könntest, wäre Ultraschallortung unschätzbar wertvoll für dich«, sagte Ripred. »Stell dir zum Beispiel vor, du befindest dich mit einer Ratte in einer Höhle und verlierst deine Lampe.«

Gregor sah Ripreds Schwanz auf sich zukommen und hob die Hand, um ihn abzufangen, doch diesmal war die Ratte schneller als er. Ripred schlug ihm mit einer Hinterpfote die Taschenlampe aus der Hand und schleuderte sie fünf Meter weiter an die gegenüberliegende Wand. Der Strahl zeigte zur Wand, sie waren im Dunkeln.

Gregor zuckte zusammen, als er Ripreds Stimme hörte. »Und jetzt bin ich wieder hier«, sagte die Ratte hinter ihm. Gregor fuhr herum, als Ripred irgendwo links von ihm flüsterte: »Und jetzt hier.«

Die Taschenlampe kam über den Boden gesaust und stieß gegen Gregors Fuß. Er hob sie auf und sah, dass Ripred wieder an der Wand lehnte, diesmal auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle, wo eben noch die Taschenlampe gelegen hatte.

»Also, bring’s mir bei«, sagte Gregor entnervt.

Als Erstes musste er die Augen schließen und mit der Zunge schnalzen. Er sollte genau darauf lauschen, wie es sich anhörte. Wenn er vor der Höhlenwand stand, sollte es anders klingen, als wenn er vor Ripred stand. Dann musste er die Taschenlampe ausschalten und schnalzen und mit der Taschenlampe dorthin leuchten, wo er Ripred vermutete.

Gregor gab wirklich sein Bestes, aber er hatte in den letzten beiden Tagen nur etwa drei Stunden geschlafen und sich noch nicht daran gewöhnt, dass er wieder im Unterland war. Dazu die Prophezeiung und der Schwertunterricht und …

»Konzentration, Überländer! Es könnte dir das Leben retten!«, knurrte Ripred, als Gregor sich zum zehnten Mal hintereinander geirrt hatte.

»Das ist doch bescheuert, Ripred – ich höre überhaupt keinen Unterschied!«, fuhr Gregor ihn an. »Ich kann es einfach nicht, okay?«

»Nein, es ist nicht okay. Du wirst üben. Und zwar bei jeder Gelegenheit, sowohl hier unten als auch zu Hause, falls du je wieder nach Hause kommst«, befahl Ripred. »Du wirst es vielleicht nie beherrschen, aber du kannst in jedem Fall nur besser werden!«

»Na gut. Okay. Ich werde üben. War’s das?«, fragte Gregor leicht überheblich. Er hatte jetzt langsam genug von der Ratte.

Plötzlich war Ripreds Nase direkt vor seiner eigenen. Die Augen der Ratte waren schmal vor Wut.

»Jetzt hör mir mal zu, du Krieger«, zischte Ripred. »Eines Tages wirst du feststellen, dass es keine Rolle spielt, ob du dreitausend Blutbälle treffen kannst, wenn du nicht einen davon im Dunkeln orten kannst. Capito?«

»Ja«, brachte Gregor heraus. Ripred zeigte keine Regung. »Also, ich werde üben«, sagte Gregor. »Ganz bestimmt.«

»Gut. Dann lass uns jetzt zusehen, dass wir ein wenig Schlaf kriegen. Wir sind beide erledigt«, sagte Ripred.

Während sie sich schweigend auf den Weg zurück in die Stadt machten, fragte sich Gregor, ob Ripred wohl Skrupel hätte, ihn zu töten. Als sie zusammen ausgezogen waren, Gregors Vater zu suchen, hatte Ripred ihn am Leben gelassen, weil sie aufeinander angewiesen waren: Gregor brauchte Ripred, um seinen Vater zu finden, und Ripred brauchte Gregor, um König Gorger zu besiegen, damit er selbst eines Tages Oberhaupt der Ratten werden konnte. Offenbar brauchte Ripred Gregor auch für die Prophezeiung des Fluchs. Aber wenn Ripred Gregor nicht mehr brauchen konnte, würde er ihn dann im Zweifel opfern?

Gregor konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als er die Treppen hinaufging, die, wie er hoffte, zu seinem Zimmer führten. Es war sehr spät hier unten – vermutlich etwa so spät wie gestern, als er in die Stadt gekommen war – und alle schliefen. Er konnte den Weg nicht finden und sah niemanden, den er hätte fragen können. Als er herumirrte und nach einer Wache Ausschau hielt, stand er plötzlich vor der Holztür, die zu dem Raum mit Sandwichs Prophezeiungen führte.

Die Tür stand einen Spalt offen. Das war merkwürdig; Gregor dachte, sie sei immer verschlossen. Es musste jemand drin sein.

Er stieß die Tür weiter auf und trat ein. »Hallo? Ist hier jemand?«

Zuerst dachte er, der Raum sei leer. Das Licht unter der Prophezeiung des Fluchs brannte noch immer, aber niemand stand davor. Dann hörte er ein schwaches Rascheln in der hinteren Ecke, und sie trat ins Licht.

»Oh!« Gregor fuhr zusammen, weil sie so gespenstisch aussah. Er hatte Nerissa erst einmal gesehen. Damals hatte sie ihren Bruder Henry verabschiedet, als sie zur Suche aufbrachen. Er wusste noch, dass sie sehr dünn war und einen nervösen Eindruck machte. Sie hatte ihm eine Kopie der grauen Prophezeiung mit auf die Reise gegeben. Luxa hatte etwas davon erzählt, dass sie in die Zukunft blicken konnte.

Wenn sie damals dünn gewesen war, so war sie jetzt ausgezehrt. Riesig und hohl wirkten ihre Augen im Schein der Fackel. Wo Luxa lila Ringe unter den Augen hatte, wurden Nerissas durch dunkelpurpurne Halbmonde betont. Das Haar, das ihr bis weit über die Taille fiel, war zerzaust. Obwohl sie in einen dicken Mantel gehüllt war, schien sie zu frösteln.

»Oh, das tut mir leid. Ich wollte nicht … ich wollte nur … Ich habe nur meinen Schlaf gesucht … ich meine, das Zimmer, wo ich schlafe. Mein Schlafzimmer. Entschuldigung.« Gregor wandte sich zum Gehen.

»Nein, warte, Überländer«, sagte Nerissa mit bebender Stimme. »Warte einen Moment.«

»Oh, na gut, klar«, sagte Gregor und wünschte sehnlichst, er könnte von hier verschwinden. »Und, wie geht’s dir so, Nerissa?«, fragte er und erschrak über seine eigenen Worte. Wie sollte es ihr schon gehen?

»Ich hatte keine gute Zeit«, sagte Nerissa matt. Aber sie sagte es ohne Selbstmitleid, was es irgendwie noch trauriger machte.

»Das mit deinem Bruder, mit Henry, das tut mir leid«, sagte Gregor.

»Es ist wohl besser, dass er tot ist«, sagte Nerissa.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Gregor, verblüfft über ihre Offenheit.

»Wenn wir bedenken, wie es andernfalls gekommen wäre«, sagte Nerissa. »Wäre es ihm gelungen, sich mit den Nagern zu verbünden, wären wir alle tot. Du, deine Schwester, dein Vater. Mein ganzes Volk. Auch Henry. Doch natürlich vermisse ich ihn sehr.«

So schwach Nerissa auch wirkte, sie scheute sich jedenfalls nicht, den Tatsachen ins Auge zu blicken. »Weißt du, warum er es getan hat?«, fragte Gregor vorsichtig.

»Er fürchtete sich. Das weiß ich. Und ich glaube, dass er im tiefsten Innern dachte, ein Bündnis mit den Nagern würde ihm die ersehnte Sicherheit geben«, sagte Nerissa.

»Da hat er sich getäuscht«, sagte Gregor.

»Wirklich?«, sagte Nerissa und lächelte. Das machte es noch unheimlicher.

»Dachte ich. Du hast doch gerade selbst gesagt … wenn es so gekommen wäre, wie er wollte, wären wir alle tot?«, sagte Gregor. Vielleicht war sie doch irgendwie verrückt.

»O ja. Seine Methoden waren zweifellos verfehlt.« Nerissa verlor das Interesse an dem Gespräch und ging zu der Prophezeiung des Fluchs hinüber. Sie streckte den Arm aus und fuhr mit den knöchrigen Fingern über die Buchstaben, als läse sie Blindenschrift. »Und wie steht es mit dir, Krieger? Bist du bereit, dich dem Fluch zu stellen?«

Der Fluch. Ripred hatte etwas von dem Fluch gesagt. »Du meinst … der Prophezeiung?«, fragte Gregor verwirrt.

»Hat Vikus es dir nicht erzählt? Wir nennen die weiße Ratte ›den Fluch‹«, sagte Nerissa.

»Ach so«, sagte Gregor. »Tja, die Ratte. Vikus sagt, ich bin eine Bedrohung für sie oder so. Ich soll euch helfen, sie zu töten.«

Nerissa sah verwirrt aus. »Uns helfen? O nein, Gregor, du musst ihr das Licht rauben. Sieh nur, hier steht es geschrieben.« Ihre Finger fuhren schnell über eine Zeile auf der Mauer.

Raubt der Krieger dir das Licht?

Als Vikus die Prophezeiung letzte Nacht mit ihm durchgegangen war, hatte Gregor nur daran denken können, dass die Ratten Boots umbringen wollten. Da hatte er auf diese Zeile nicht so geachtet, und Vikus war nicht näher darauf eingegangen. Für die Unterländer war das Wort »Licht« gleichbedeutend mit »Leben«. Wenn sie also davon sprachen, einem Lebewesen das Licht zu rauben, meinten sie damit, es zu töten. Der Auftrag bestand darin, den Fluch zu töten. Das wusste er. Aber er war davon ausgegangen, dass ihm die Unterländer jede Menge Soldaten zur Seite stellen würden. Ausgebildete Soldaten.

Die Zeile hämmerte sich in sein Hirn.

Raubt der Krieger dir das Licht?

Eine schlimme Ahnung beschlich Gregor. »O Mann«, sagte er. »Heißt das, da ist diese weiße Riesenratte … und ihr erwartet von mir, dass ich sie … ganz allein … du meinst, ich soll …«

»Sie töten, Gregor«, sagte Nerissa. »Durch deine Hand allein muss der Fluch sterben.«