Pandora!«, schrie Howard entsetzt. »Pandora!« Er kletterte über die Bootswand und wollte ins Wasser springen, als Mareth ihn zurückzerrte.
»Lass mich los, Mareth! Ich bin mit ihr verbunden!«, rief Howard. Mit aller Kraft versuchte er sich loszureißen.
»Sie ist nicht mehr, Howard! Du kannst ihr nicht helfen!«, sagte Mareth.
Doch Howard konnte das nicht akzeptieren. Er wand sich aus Mareths Griff und versuchte wieder über Bord zu klettern. Mareth packte ihn am Arm, wirbelte ihn herum und schlug ihn mit einer einzigen Bewegung bewusstlos. Luxa fing Howard auf, als er nach hinten fiel. Sie taumelte unter seinem Gewicht ein wenig zurück, konnte seinen Sturz jedoch abfangen.
Unterdessen machte Ares, der in einem ersten Impuls Pandora hinterherfliegen und ihr helfen wollte, eine 180-Grad-Wende und flog, so schnell er konnte, aufs offene Meer hinaus. Die Mückenwolke, die nur wenige Meter von ihm entfernt war, erhob sich in die Luft und nahm die Verfolgung auf. So schnell er auch flog, die Wolke blieb dicht hinter ihm.
Jetzt wurde Gregor von der gleichen Panik ergriffen wie eben noch Howard. »Ares!«, schrie er. »Schneller! Sie sind direkt hinter dir!« Er kam sich hilflos vor. Er konnte nicht ins Wasser springen, um seine Fledermaus zu retten. Es wäre zwecklos, und außerdem würde Mareth ihn auch k. o. schlagen. Und selbst wenn er zu Ares gelangen könnte, wie sollte er eine Wolke Fleisch fressender Mücken stoppen? Denk nach, Gregor, befahl er sich selbst. Was kannst du tun? Die Wolke holte jetzt auf. Der schwarze Rand berührte schon fast Ares’ Schwanz. Sie würden ihn auffressen! Er würde von Insekten verspeist werden und sein Skelett würde ins Wasser fallen und … und … Nein, Moment! Das war’s!
»Tauch unter, Ares!«, schrie Gregor. »Unter Wasser!« Erst war Gregor sich nicht sicher, ob Ares ihn gehört hatte. »Tauch!«, kreischte er.
Und als die Mücken Ares’ Schwanz erreicht hatten, stürzte er sich ins Wasser. Gregor wusste nicht genau, was er sich davon versprach, aber er wusste, dass man ins Wasser laufen konnte, um Insekten abzuschütteln. Jedenfalls Bienen und so. Wenn Ares im Wasser war, konnten sie ihn nicht kriegen, weiter dachte Gregor nicht. Der Erfolg war fragwürdig, früher oder später würde Ares wieder auftauchen müssen, um Luft zu holen. Doch es sollte sich zeigen, dass Gregor den richtigen Gedanken gehabt hatte, denn in diesem Moment kamen die Fische – all die wunderbaren Fische – an die Wasseroberfläche und begannen die Mücken zu verspeisen. Die Wolke machte Halt und griff nun die Fische an. Als Ares hochkam und nach Luft schnappte, hatten die Mücken ihn vergessen. Sie kämpften schon gegen einen neuen Feind und hofften auf eine weitere Mahlzeit.
»Flieger! An die Seile!«, befahl Mareth. Aurora und Andromeda fassten die Schlaufen vorn am Boot und begannen, es durchs Wasser zu ziehen. Ares holte sie ein, fasste hinten an und sie erhoben sich in die Luft. So ließen sie die Insel schon bald weit hinter sich. Mehrere Meilen mussten sie fliegen, ehe Mareth ihnen erlaubte, das Boot wieder ins Wasser zu lassen und zu verschnaufen.
Ares ließ das Heck ins Wasser, gesellte sich jedoch nicht gleich wieder zu ihnen. Immer wieder tauchte er ins Wasser und kam erst etwa zwanzig Minuten später triefnass, zitternd und erschöpft zurück ins Boot. »Die Mücken«, erklärte er. »Einige haben sich gehalten und fraßen an mir herum. Jetzt dürfte ich sie alle ertränkt haben.«
»Geht es?«, fragte Gregor und tätschelte ihn unbeholfen.
»Ja, es geht mir gut«, sagte Ares. »Ich habe nur einige kleine Wunden. Nicht wie …« Er unterbrach sich selbst. Sie alle wussten, wen er meinte.
Gregor trocknete Ares ab. Luxa half ihm das schwarze Fell Zentimeter für Zentimeter abzusuchen und an den Stellen, wo die Mücken ihm ins Fleisch gebissen hatten, eine Salbe aufzutragen. Sie entdeckten viele Wunden, doch Ares hatte Recht: Die Insekten hatte er alle abgewaschen.
»Das war gut, Überländer. Deine Idee zu tauchen«, sagte Ares.
»Ja, es war sehr klug vorauszusehen, dass die Fische Jagd auf die Mücken machen würden«, sagte Luxa.
»Hm, so weit hatte ich eigentlich gar nicht gedacht«, gestand Gregor. »Aber ich bin natürlich froh, dass sie da waren.«
Als sie Ares verarztet hatten, schmiegten sich Aurora und Andromeda an ihn und die drei Fledermäuse schliefen ein. Gregor war erleichtert, dass Andromeda seine Fledermaus nicht länger schnitt. Vielleicht war ihr klar geworden, dass Aurora eher zu Ares halten würde als zu ihr und dass sie dann allein dastehen würde. Ganz gleich, was der Grund war, Ares konnte jetzt wirklich Gesellschaft gebrauchen.
Mareth hatte alle Hände voll damit zu tun, das Boot zu steuern, deshalb kümmerten sich Gregor und Luxa, so gut es ging, um Howard. Er war immer noch bewusstlos. Sie bauten ihm ein Bett, deckten ihn zu und hielten ihm abwechselnd kalte Lappen an die geschwollene Wange.
»Sollen wir versuchen ihn zu wecken?«, fragte Gregor.
Luxa schüttelte den Kopf. »Er kann noch sein ganzes restliches Leben um sie trauern.«
An diesem Tag waren sie alle sehr still. Die Fledermäuse schliefen einen unruhigen Schlaf, Twitchtip starrte aufs Wasser hinaus, Mareth steuerte, Boots und Temp spielten ein bisschen, die Glühwürmer flüsterten auf dem Bug miteinander und beklagten sich nicht.
Gregor und Luxa saßen nebeneinander und schauten Boots und Temp zu. Lange Zeit sagten sie nichts. Gregor sah immer wieder Pandoras schrecklichen Tod vor sich, und Luxa ging es vermutlich nicht anders.
Als könnte sie es nicht länger ertragen, brach Luxa schließlich das Schweigen. »Erzähl mir vom Überland, Gregor«, sagte sie.
»Na gut«, sagte er. Er konnte selbst etwas Ablenkung gebrauchen. »Was möchtest du wissen?«
»Ach, irgendwas. Erzähl mir … wie ein Tag aussieht, vom Erwachen bis zum Zubettgehen«, sagte sie.
»Hm, das kann aber ganz unterschiedlich sein, je nachdem, wer man ist«, sagte Gregor.
»Dann erzähl mir von einem deiner Tage«, sagte Luxa.
Also tat er das. Er erzählte ihr von seinem letzten Tag über der Erde, denn der war ihm noch am besten in Erinnerung. Er erzählte ihr, dass es ein Samstag war und er nicht zur Schule musste, dass er Mrs Cormaci geholfen hatte, Kartoffelgratin zu machen, und das Rätselheft für Lizzie gekauft hatte und dann mit Boots Schlitten gefahren war. Er hielt sich nicht damit auf, von ihrer Geldnot oder der Krankheit seines Vaters zu erzählen, denn das regte ihn nur auf, und außerdem hatten sie hier auch so genug Sorgen. Er beschränkte sich auf die erfreulichen Aspekte des Tages.
Luxa stellte hin und wieder eine Frage, vor allem wenn er ein unbekanntes Wort gebrauchte, doch die meiste Zeit hörte sie einfach zu. Als er fertig war, saß sie eine Zeit lang gedankenverloren da. Dann sagte sie: »Wie gern würde ich den Schnee sehen.«
»Du müsstest mal hochkommen«, sagte Gregor, und sie lachte. »Nein, im Ernst, du müsstest mal für einen Tag hochkommen. Oder wenigstens für ein paar Stunden. Es ist ziemlich cool da, wo ich wohne. Also, es ist kein Palast oder so. Aber New York City ist schon was Besonderes.«
»Glaubst du nicht, die Überländer würden mich seltsam finden?«, fragte Luxa.
Das war allerdings ein Problem. Mit der durchscheinenden Haut und den violetten Augen … »Wir ziehen dir was Langärmeliges an und setzen dir einen Hut und eine Sonnenbrille auf«, sagte Gregor. »Dann siehst du nicht merkwürdiger aus als die meisten anderen Leute in New York.« Er war auf einmal fast begeistert von der Idee. »Und wir könnten in der Dämmerung rausgehen, damit die Sonne dich nicht blendet. Selbst wenn wir nur die Straße runtergehen und eine Pizza holen würden, wär das schon anders als alles, was du bisher kennst!«
Für eine Weile waren sie beide glücklich. Über die Vorstellung, in New York zu sein. Über die Vorstellung, woanders zu sein.
Dann seufzte Luxa und schob mit dieser gewissen Handbewegung ihre Krone zurück. »Aber natürlich würde der Rat mir niemals die Erlaubnis geben zu gehen.«
»Ach ja, und das würde dich natürlich davon abhalten«, sagte Gregor.
Sie grinste und wollte gerade etwas sagen, als Howard aufstöhnte.
»Pandora?«, sagte er. Er setzte sich so hastig auf, dass er sich an Temp festhalten musste, um nicht umzukippen. Er schaute schnell hin und her und entdeckte die drei Fledermäuse, die zusammengekauert dasaßen. Er sah nach oben, als hätte er das Ganze vielleicht nur geträumt und Pandora könnte über seinem Kopf fliegen. »Pandora?«, sagte er. Er befühlte seine geschwollene Wange und wandte sich zu Mareth.
»Du konntest sie nicht retten, Howard. Keiner von uns konnte etwas tun«, sagte Mareth sanft.
Gregor konnte beinahe sehen, wie sich Pandoras Tod schwer auf Howard senkte und ihn niederdrückte. Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Es sah herzzerreißend aus.
Boots ging zu ihm und tätschelte ihm den Nacken. »Ist schon gut. Schon gut. Schon gut«, sagte sie beruhigend. Das sagten sie immer zu ihr, wenn sie weinte. Doch Howard weinte jetzt nur noch heftiger. Boots schaute zu Gregor herüber. »Ge-go, er weint.«
Sie wollte, dass er half. Dass er es wieder gutmachte. Aber ihm fiel nichts ein. Da geschah etwas Unerwartetes.
Luxa stand auf, ihr Gesicht war noch blasser als sonst. Sie ging zu ihrem Cousin, setzte sich neben ihn und umarmte ihn. Sie legte die Stirn auf seine Schulter und sagte: »Sie wird immer mit dir fliegen, das weißt du. Sie wird immer mit dir fliegen.«
Howard vergrub das Gesicht in ihrer Schulter. Sie legte die Wange auf seinen Kopf. Und es dauerte lange, bis sie aufhörten zu weinen.