20. Kapitel

Twitchtip führte Gregor und Ares durch den Irrgarten. Sie ließ sich von ihrer Erinnerung an das Tunnelgewirr leiten, die sie noch aus der Zeit vor ihrer Nasenverletzung hatte. Fast sofort kamen sie an eine Gabelung. Einige Wege zweigten sich vier- oder fünffach. Andere waren gewunden wie ein Korkenzieher, sodass man zehn Minuten für einen Weg brauchte, den man auf gerader Strecke in einer Minute zurückgelegt hätte. Je tiefer sie in den Irrgarten eindrangen, desto unvorhersehbarer wurden die Tunnel. Ein schmaler Durchgang, durch den sie sich kaum hindurchquetschen konnten, öffnete sich plötzlich zu einer riesigen Höhle, die wiederum in einen Gang voller Felsbrocken führte.

Ares hatte am meisten zu leiden, da sie hauptsächlich zu Fuß gehen mussten. Flatternd hüpfte er vorwärts, trippelte mit schnellen Fledermausschritten durch die schmaleren Durchgänge und breitete erleichtert die Flügel aus, sobald der Platz es zuließ.

Ratten begegneten ihnen nicht.

»Wahrscheinlich haben sie schon vom Los deiner Schwester erfahren«, sagte Twitchtip. »Die Nager glauben, sie hätten dich besiegt und der Fluch sei in Sicherheit. Aber früher oder später werden sie dich riechen und dann geht der Kampf los.«

Etwa eine Stunde lang quälten sie sich weiter, dann machten sie eine Verschnaufpause.

»Kannst du dich an all das erinnern? Nur von einmal Schnuppern beim Humpen?«, fragte Gregor.

»Das und die Tatsache, dass ich mit dem Irrgarten vertrauter bin als die meisten. Vor meiner Verbannung habe ich ein Jahr lang hier gelebt«, keuchte Twitchtip. Es ging ihr nicht besonders gut. Die Verbände an ihrer Nase und ihrem Schwanz waren blutdurchtränkt und ihr Blick wirkte heiß und fiebrig.

»Ich dachte, du hättest im Land des Todes gelebt«, sagte Gregor.

»Nicht von Anfang an. Ich hielt mich in einer Höhle am Humpen versteckt. Wegen der Riesenschlangen kamen die Ratten dort nicht hin. Es war nicht ideal, aber es war dort sicherer für mich als im Land des Todes. Eines Tages schlief ich beim Pilzesuchen ein und wurde von einer Patrouille entdeckt. Ich musste fliehen, und da blieb mir nur noch das Land des Todes«, sagte Twitchtip. »Jahrelang habe ich mit keiner Seele gesprochen. Dann stellte ich fest, dass es dort noch eine Ratte gab.«

»Ripred«, sagte Ares.

»Wenn er nicht da war, durfte ich manchmal sein Versteck benutzen. Ihr wart auch schon mal in der Nähe. Dort habt ihr zum ersten Mal mit ihm gesprochen«, sagte Twitchtip. »Jetzt hat er eine ganze Rattenbande um sich geschart. Aber er sagt, ich darf nur bleiben, wenn ich euch helfe, den Fluch zu finden«, sagte Twitchtip. »Sonst muss ich wieder allein leben.« Diese Vorstellung schien sie anzutreiben. »Wir müssen weiter.«

Als sie sich erneut auf den Weg machten, dachte Gregor über Ripred nach. Dass Twitchtip im Land des Todes in seiner Nähe sein durfte, dass sie sein Versteck benutzen und sich seiner Bande anschließen durfte, das konnte man fast als Freundlichkeit verstehen. Aber war es Freundlichkeit? Schließlich verlangte Ripred eine Gegenleistung von ihr. Ripred wusste, dass er sich Twitchtip und ihre unglaubliche Nase zunutze machen konnte. Twitchtip sehnte sich verzweifelt danach, wieder irgendwo dazuzugehören. Sie waren aufeinander angewiesen. So wie Ripred und Gregor aufeinander angewiesen waren. Ebenso wie Gregor konnte Twitchtip sich fragen, was passieren würde, wenn Ripred sie nicht mehr brauchte.

Oder urteilte er zu hart über Ripred? Immerhin schien er mit Vikus und Solovet befreundet zu sein. Manchmal meinte Gregor hinter Ripreds Sarkasmus und Zähnefletschen echtes Mitgefühl zu spüren.

Vielleicht war für einen Wüter alles etwas komplizierter. Für Gregor galt das ganz bestimmt.

Twitchtip fing an zu stolpern, und Gregor sah, dass die Kräfte sie bald verlassen würden. Schließlich glitt sie ein letztes Mal aus, fiel auf den Bauch und kam nicht wieder hoch. Er hockte sich neben sie. Ihr Atem ging schnell und flach.

»Ich kann nicht weiter«, sagte sie. »Aber das macht nichts – ich bin sowieso am Ende meiner Duftkarte angelangt. Wenn du weitergehst, gabelt sich der Weg in drei Richtungen. Da müsste ich genauso raten wie du«, sagte sie.

»Sollen wir dich denn einfach hier liegen lassen?«, fragte Gregor.

»Ich ruhe mich eine Weile aus. Wenn die Ratten mich nicht finden, schaffe ich es vielleicht zurück zu meiner alten Höhle. Aber du … du musst jetzt weiter. Du bist dem Fluch ganz nah. Ich weiß es. Die Ratten werden dich bald riechen. Geh … geh …«, keuchte sie.

Gregor holte ihr ein Stück Fleisch und etwas altes Brot aus dem Rucksack. Was konnte er sagen? »Fliege hoch, Twitchtip.«

Sie lachte, und Blut tropfte aus dem Verband um ihre Nase. »Das sagt man nicht zu Ratten.«

»Was sagt man bei euch in so einer Situation?«, fragte Gregor.

»Wie jetzt? Lauf wie der Fluss«, sagte Twitchtip.

»Lauf wie der Fluss, Twitchtip«, sagte Gregor.

»Du auch«, sagte Twitchtip.

Und Gregor und Ares ließen sie im Tunnel auf dem Boden liegen. Als sie zu der Gabelung kamen, blieben sie stehen. Gregor sah Twitchtip vor sich, wie sie im Dunkeln lag und verblutete.

Ares erriet seine Gedanken. »Sie ist stark und schlau, sonst hätte sie nicht allein im Land des Todes überlebt. Und sie kennt ein Versteck in der Nähe.«

»Ich weiß«, sagte Gregor.

»Sie verabscheut ihr einsames Leben. Ihre einzige Hoffnung liegt darin, dass du den Fluch tötest. Ich an Twitchtips Stelle würde nicht wollen, dass du umkehrst«, sagte Ares.

Gregor nickte und nahm die Tunnel in Augenschein. »Welchen würdest du nehmen?«

»Den linken«, sagte Ares.

Sie folgten ihm eine Weile, kamen auf einen gewundenen Weg und landeten wieder am Ausgangspunkt.

»Bei genauer Betrachtung scheint mir der rechte besser«, sagte Ares.

Sie gingen in den rechten Tunnel, doch schon nach fünf Minuten mündete er in eine Sackgasse und sie mussten wieder kehrtmachen.

»Ich glaube, du solltest wählen«, sagte Ares.

Sie gingen in den mittleren Tunnel und gelangten nach zwanzig Minuten in eine große runde Höhle. Sie war fast ein perfekter Kegel, die schrägen, etwa sieben Meter hohen Wände trafen sich oben in einem einzigen Punkt. Von der Höhle aus führten mindestens ein Dutzend Tunnel in alle Richtungen, wie die Speichen eines Fahrradrades.

»Na super«, sagte Gregor. »Wo geht’s jetzt lang?«

Ares hatte keine Ahnung. »Überländer, es sind viele Stunden vergangen, seit wir zuletzt unsere Mägen füllen konnten. Wenn wir weitergehen wollen, müssen wir essen.«

Wann hatten sie zuletzt etwas gegessen? Gregor ging in Gedanken zurück – zurück zu der Zeit mit Twitchtip, zu dem Angriff der Riesenschlangen, zurück durch den Tunnel in den Humpen, zu Temps Stimme, die ihn geweckt hatte, durch die Nacht zu dem Abend, als sie alle zusammen waren. Er hatte ein Stück rohen Fisch gegessen und Boots sein ganzes Brot und sein Fleisch gegeben.

»Wir machen heia?«, hörte er ihr Stimmchen sagen, und ein brennender Schmerz durchfuhr sein Herz. Er atmete tief ein, schob Boots aus seinen Gedanken und stellte sich vor, wie die Ratten lachten. Das Eis schloss sich wieder um seine Brust.

»Du hast Recht. Wir müssen essen«, sagte Gregor und machte den Rucksack auf. Sie saßen auf dem Steinboden, würgten an dem trockenen Essen und spülten es mit Wasser aus einer Ledertasche herunter, die aussah wie ein Weinschlauch.

»Irgendetwas stimmt da nicht. Dass ich immer noch am Leben bin«, sagte Ares in die Finsternis hinein.

»Wie meinst du das?«, fragte Gregor.

»Wenn Henry und Luxa und Aurora nicht länger sind. Wie viele Tage sind seit deinem ersten Fall ins Unterland vergangen?«, fragte er.

»Ich weiß nicht. Vielleicht fünf oder sechs Monate«, sagte Gregor.

»An dem Tag hatten wir ein Spiel. Henry und ich haben sieben Mal getroffen. Am Abend sollte es ein Fest zu Nerissas Geburtstag geben. Die Ratten schienen weit weg. Und dann stürmtest du mit deiner Schwester und den Krabblern in die Arena, und seitdem ist nichts mehr, wie es war. Was ist mit jener Welt passiert? Wie konnte sie sich so schnell verändern?«, sagte Ares.

Gregor wusste, was er meinte. Auch seine Welt hatte sich einmal völlig verwandelt – in der Nacht, als sein Vater verschwand. Und sie war seitdem nie wieder ganz heil gewesen. »Ich weiß nicht. Aber eins kann ich dir sagen, diese Welt – sie kommt nie wieder.«

»Ich ließ den mir Verbundenen sterben. Ich bin ein Ausgestoßener. Luxa und Aurora sind nicht mehr. Es kommt mir vor wie ein Verbrechen, dass ich noch lebe«, sagte Ares.

»Es war nicht deine Schuld, Ares. Nichts von alldem«, sagte Gregor. »Es ist so, wie Vikus einmal zu mir gesagt hat: Wir sind alle in einer von Sandwichs Prophezeiungen gefangen.«

Das schien Ares nicht aufzuheitern. Eine Weile schwieg er, dann suchte er Gregors Blick. »Glaubst du, es wird uns besser gehen, wenn wir den Fluch getötet haben?«

»Ich weiß nicht«, sagte Gregor. »Aber schlechter wird es uns danach auch nicht gehen.«

Ares hob ruckartig den Kopf, eine Bewegung, die Gregor inzwischen kannte.

»Ratten?«, fragte er.

»Zwei«, sagte Ares. »Sie kommen auf uns zugerannt.«

In wenigen Sekunden saß Gregor auf Ares’ Rücken und Ares schoss in den Kegel empor. Als die Ratten hereinstürmten, kreisten sie unter der Decke. Wie Ares vorausgesagt hatte, waren es zwei, mit schlammfarbenem Fell und gefletschten Zähnen.

»Da ist er!«, schrie die eine.

»Es war dumm von uns, ihn bei Goldshard zu lassen«, sagte die andere.

»Das werden wir in Ordnung bringen, sobald die hier tot sind!«, knurrte die erste.

Obwohl Gregor außer Reichweite war, sprangen die Ratten sofort hoch. Sie erwischten ihn nicht, doch sie hinderten Ares daran, in eine der Tunnelöffnungen abzutauchen. Früher oder später würde Gregor gegen sie kämpfen müssen, und es war besser, es sofort zu tun, ehe Ares ermüdete oder noch mehr Ratten kamen.

Kaum hatte er das Schwert aus dem Riemen an seinem Rucksack gezogen, stellte sich das Wütergefühl ein. Diesmal bekämpfte er es nicht. In seiner Vision zersplitterten die Ratten in Einzelteile – als sähe er sie in einem zerbrochenen Spiegel, doch nur bestimmte Teile waren erleuchtet. Ein Auge blitzte auf, eine Stelle unter einer erhobenen Pfote, ein Hals … und irgendwo in seinem Kopf begriff er, dass das die Angriffspunkte waren.

»Jetzt«, sagte Gregor ruhig. Und Ares setzte zum Sturzflug an.