1. Kapitel

Als Gregor die Augen aufschlug, hatte er das deutliche Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Er schaute sich in seinem winzigen Zimmer um und versuchte sich dabei möglichst still zu verhalten. An der Decke war nichts. Auf der Kommode auch nicht. Dann sah er ihn auf der Fensterbank sitzen, reglos bis auf das leichte Zucken der Fühler. Ein Kakerlak.

»Du kriegst hier nur Ärger«, sagte Gregor leise zu dem Kakerlak. »Willst du etwa, dass meine Mutter dich erwischt?«

Der Kakerlak rieb die Fühler aneinander, machte jedoch keine Anstalten wegzukrabbeln. Gregor seufzte. Er nahm ein altes Mayonnaiseglas mit Stiften, kippte den Inhalt aufs Bett und fing den Kakerlak mit einer schnellen Bewegung unter dem Glas ein.

Für diese Aktion musste er noch nicht mal aufstehen. Sein Zimmer war gar kein richtiges Zimmer. Wahrscheinlich war es ursprünglich als Abstellkammer gedacht gewesen. Gregors Bett war so hineingequetscht worden, dass er, wenn er abends in sein Zimmer kam, direkt übers Kopfende reinsteigen musste. Am Fußende war eine kleine Nische in der Wand, in die so gerade eine schmale Kommode passte, auch wenn sich die Schubladen nur knapp zwanzig Zentimeter öffnen ließen. Seine Hausaufgaben machte er im Schneidersitz auf dem Bett mit einem Brett auf den Knien. Und das Zimmer hatte keine Tür. Aber Gregor beklagte sich nicht. Er hatte ein Fenster, das zur Straße hinausging, die Zimmerdecke war schön hoch, und er hatte mehr Privatsphäre als alle anderen in der Wohnung. In sein Zimmer kam kaum jemand rein … die Kakerlaken nicht mitgerechnet.

Was war in letzter Zeit überhaupt mit den Kakerlaken los? Ein paar hatten sie immer in der Wohnung gehabt, aber jetzt kam es ihm so vor, als würde er jedes Mal einen sehen, wenn er sich umdrehte. Sie liefen nicht weg und sie versuchten sich nicht zu verstecken. Sie saßen einfach da und beobachteten ihn. Es war verrückt. Und es machte ganz schön viel Arbeit, ihnen allen das Leben zu retten.

Im letzten Sommer, als viele Meilen unter der Stadt New York ein Riesenkakerlak sein Leben für Gregors zweijährige Schwester Boots gegeben hatte, hatte Gregor geschworen, nie mehr einen Kakerlak zu töten. Aber wenn seine Mutter sie entdeckte, war es um sie geschehen. Gregor musste sie aus der Wohnung schaffen, ehe ihr Kakerlakenradar zuschlug. Als es draußen noch warm war, hatte er sie einfach eingefangen und auf die Feuerleiter gesetzt. Aber jetzt im Dezember befürchtete er, die Kakerlaken könnten erfrieren, deshalb versteckte er sie immer möglichst tief in den Küchenabfällen. Dort fühlten sie sich hoffentlich wohl.

Gregor schubste den Kakerlak von der Fensterbank ins Mayonnaiseglas. Dann schlich er durch den Flur, vorbei am Badezimmer und an dem Schlafzimmer, das sich Boots, seine siebenjährige Schwester Lizzie und die Großmutter teilten, und ging ins Wohnzimmer. Seine Mutter war schon aus dem Haus. Offenbar hatte sie Frühschicht in dem Café, in dem sie am Wochenende bediente. Sie hatte eine Vollzeitstelle bei einem Zahnarzt an der Anmeldung, aber weil sie in letzter Zeit jeden Cent brauchten, hatte sie einen Nebenjob angenommen.

Gregors Vater lag auf dem ausgeklappten Sofa. Selbst im Schlaf fand er keine Ruhe. Seine Finger zuckten und zupften unruhig an der Decke, und er murmelte leise vor sich hin. Sein Vater. Sein armer Vater …

Nachdem er mehr als zweieinhalb Jahre lang tief unter der Stadt in der Gefangenschaft bösartiger Riesenratten zugebracht hatte, war Gregors Vater ein Wrack. Im Unterland, wie die Bewohner es nannten, hatte er ein Dasein ohne Licht und mit unzureichender Nahrung gefristet und war Foltermethoden ausgesetzt gewesen, über die er niemals sprach. Er wurde ständig von Albträumen gequält, und selbst wenn er wach war, fiel es ihm oft schwer, Wirklichkeit und Einbildung auseinander zu halten. Noch schlimmer war es, wenn er Fieber hatte, was häufig vorkam, denn trotz wiederholter ärztlicher Behandlung wurde er die merkwürdige Krankheit nicht los, die er aus dem Unterland mitgebracht hatte.

Bevor Gregor mit Boots durch ein Gitter im Wäschekeller gefallen war und seinen Vater wiedergefunden hatte, hatte er immer gedacht, wenn seine Familie nur wieder vereint wäre, würde alles ganz einfach sein. Natürlich war es tausendmal besser, den Vater wiederzuhaben. Aber einfach war es nicht.

Gregor ging leise in die Küche und ließ den Kakerlak in den Mülleimer gleiten. Er stellte das Mayonnaiseglas auf die Anrichte und sah, dass sie leer war. Im Kühlschrank fand er eine Packung Milch, eine Jumboflasche Apfelsaft, in der vielleicht noch ein Glas war, und eine Tube Senf. Gregor machte sich auf das Schlimmste gefasst, als er den Küchenschrank öffnete. Ein halbes Brot, ein bisschen Erdnussbutter und eine Packung Haferbrei. Er schüttelte die Packung und seufzte erleichtert. Sie hatten genug fürs Frühstück und fürs Mittagessen. Und da heute Samstag war, brauchte Gregor noch nicht mal zu Hause zu essen. Er würde zu Mrs Cormaci rübergehen und ihr helfen.

Mrs Cormaci. Es war schon komisch, wie sie sich in nur wenigen Monaten von der neugierigen Nachbarin in einen rettenden Engel verwandelt hatte. Kurz nachdem Gregor mit seinem Vater und Boots aus dem Unterland zurückgekehrt war, lief er ihr im Hausflur in die Arme.

»Na, was hast du getrieben?«, fragte sie ihn. »Außer das ganze Haus in Angst und Schrecken zu versetzen.« Gregor hatte ihr die Geschichte aufgetischt, auf die er sich mit seinen Eltern geeinigt hatte: An dem Tag seines Verschwindens war er mit Boots für ein paar Minuten auf den Spielplatz gegangen. Sie hatten seinen Vater getroffen, der gerade einen kranken Onkel in Virginia besuchen und die Kinder mitnehmen wollte. Gregor dachte, sein Vater hätte die Mutter angerufen, und sein Vater dachte, Gregor hätte sie angerufen, und erst als sie zurückkamen, erfuhren sie, was sie angerichtet hatten.

»Hm«, machte Mrs Cormaci und sah ihn streng an. »Ich dachte, dein Vater lebt in Kalifornien.«

»Da hat er auch gelebt«, sagte Gregor. »Aber jetzt wohnt er wieder bei uns.«

»Aha«, sagte Mrs Cormaci. »Das ist also deine Geschichte?«

Gregor nickte. Er wusste, wie unglaubwürdig sich das anhörte.

»Hm«, machte Mrs Cormaci wieder. »Also, ich an deiner Stelle würde da noch dran arbeiten.« Und damit ließ sie ihn stehen.

Gregor dachte, sie wäre wütend, aber ein paar Tage darauf klopfte es und sie stand mit einem Kuchen vor der Tür. »Der ist für deinen Vater«, sagte sie. »Ein kleiner Willkommensgruß. Ist er zu Hause?«

Gregor wollte sie gar nicht reinlassen, doch sein Vater rief gewollt fröhlich: »Ist das Mrs Cormaci?«, und da kam sie mit ihrem Kuchen direkt hereingestürmt. Beim Anblick von Gregors Vater, wie er, klapperdürr und grauhaarig, gebeugt auf dem Sofa saß, verstummte sie jäh. Falls sie vorgehabt hatte ihn auszufragen, verwarf sie das auf der Stelle. Stattdessen plauderte sie ein wenig mit ihm übers Wetter und ging dann wieder.

Ein paar Wochen nachdem die Schule wieder angefangen hatte, kam seine Mutter dann eines Abends nach Hause und sagte: »Mrs Cormaci hat einen Job für dich. Sie möchte, dass du ihr jeden Samstag ein bisschen hilfst.«

»Ich soll ihr helfen?«, fragte Gregor argwöhnisch. »Wobei?« Er hatte keine Lust, Mrs Cormaci zu helfen. Sie würde ihm lauter Fragen stellen, und wahrscheinlich wollte sie ihm mit ihren Tarotkarten die Zukunft voraussagen und …

»Ich weiß nicht. In ihrer Wohnung. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn du dir ein bisschen Taschengeld verdienen kannst«, sagte seine Mutter.

Und da wusste Gregor, dass er es machen würde, aber nicht um sich Taschengeld für Kino, Comics und so weiter zu verdienen. Er würde es für die Familie tun. Denn obwohl sein Vater zu Hause war, konnte er noch lange nicht wieder als Naturkundelehrer arbeiten. Er hatte die Wohnung erst ein paarmal verlassen, um zum Arzt zu gehen. Die sechsköpfige Familie lebte von dem Geld, das Gregors Mutter nach Hause brachte. Für die Arztrechnungen, Schulausgaben, Kleidung, Essen, Miete und was man sonst noch alles zum Leben brauchte, reichte es vorn und hinten nicht.

»Um wie viel Uhr soll ich bei ihr sein?«, fragte Gregor.

»Sie sagte, zehn Uhr wäre gut«, sagte seine Mutter.

An diesem ersten Samstag vor ein paar Monaten war auch nicht besonders viel zu essen in der Wohnung gewesen, also hatte Gregor nur ein paar Gläser Wasser getrunken und war dann zu Mrs Cormaci rübergegangen. Als sie ihm öffnete, wurde er von einem himmlischen Duft aus der Küche überwältigt, das Wasser lief ihm im Mund zusammen und er musste erst mal schlucken, bevor er guten Tag sagen konnte.

»Ah, gut, dass du da bist«, sagte Mrs Cormaci. »Komm mit.«

Unsicher folgte Gregor ihr in die Küche. Auf dem Herd stand ein riesiger Topf mit blubbernder Soße. In einem anderen Topf waren Lasagnenudeln. Auf der Anrichte türmten sich verschiedene Gemüse. »Heute Abend werden bei uns in der Kirche Spenden gesammelt, und ich hab zugesagt, eine Lasagne mitzubringen. Frag mich nicht, wieso.« Mrs Cormaci schöpfte mehrere Kellen Soße auf einen Teller, knallte ihn auf den Tisch, legte ein großes Stück Brot daneben und drückte Gregor auf einen Stuhl. »Probier mal.«

Gregor sah sie zweifelnd an.

»Na los! Ich muss wissen, ob sie gut ist«, sagte Mrs Cormaci.

Er tunkte das Brot in die Soße und biss ab. Es war so köstlich, dass ihm Tränen in die Augen traten. »Mann«, sagte er, als er geschluckt hatte.

»Du findest sie ekelhaft. Sie ist völlig misslungen. Am besten schütte ich das ganze Zeug weg und kaufe Fertigsoße aus dem Supermarkt«, sagte Mrs Cormaci.

»Nein!«, sagte Gregor erschrocken. »Nein. Es ist die beste Soße, die ich je gegessen hab!«

Mrs Cormaci knallte ihm einen Löffel hin.

»Dann iss und wasch dir die Hände mit Seife, danach gibt’s nämlich was zu schnippeln.«

Nachdem er die Soße und das Brot verdrückt hatte, schnippelte er Berge von Gemüse, das Mrs Cormaci in Olivenöl dünstete, und verrührte Eier und Gewürze mit Ricotta. Gemeinsam schichteten sie große flache Nudeln mit Käse, Soße und Gemüse in drei riesige Auflaufformen. Gregor half beim Abwasch, und dann verkündete Mrs Cormaci, es sei Zeit zum Mittagessen.

Sie setzten sich ins Wohnzimmer, aßen Thunfisch-Sandwiches, und Mrs Cormaci erzählte von ihren drei Kindern, die alle schon erwachsen waren und in verschiedenen Staaten lebten, und von ihrem Mann, der vor fünf Jahren gestorben war. Gregor erinnerte sich vage an einen freundlichen Mann, der ihm Fünfundzwanzig-Cent-Stücke und einmal eine Eintrittskarte für ein Baseballspiel geschenkt hatte. »Es gibt keinen Tag, an dem ich ihn nicht vermisse«, sagte Mrs Cormaci. Dann servierte sie einen Früchtekuchen.

Nach dem Essen half Gregor ihr einen Schrank sauber zu machen und trug ihr ein paar Kisten in die Abstellkammer. Um zwei sagte sie, er könne gehen. Sie hatte ihm keine Fragen gestellt, nur wie es ihm in der Schule gefalle. Als er ging, gab sie ihm vierzig Dollar, einen Wintermantel, den ihre Tochter als kleines Mädchen getragen hatte, und eine Schale Lasagne. Als er abwehren wollte, sagte sie nur: »Ich kann nicht mit drei Schalen Lasagne in der Kirche ankommen. Alle bringen zwei mit. Wenn man mit dreien ankommt, sieht das nur angeberisch aus. Und was soll ich sonst damit machen? Soll ich sie etwa selber essen? Bei meinem Cholesterinspiegel? Nimm sie mit und iss sie. Und jetzt geh. Bis nächsten Samstag.« Und damit machte sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Das war alles viel zu viel. Aber er konnte seine Mutter überraschen, wenn er Gemüse kaufte und vielleicht ein paar Glühbirnen, denn bei ihnen gingen drei Lampen nicht mehr. Lizzie brauchte einen Mantel. Und die Lasagne … sie war fast das Beste von allem. Plötzlich hätte er am liebsten bei Mrs Cormaci geklopft und ihr die Wahrheit über das Unterland und alles, was dort passiert war, erzählt und sich dafür entschuldigt, dass er sie angelogen hatte. Aber das ging nicht …

Lizzie, die im Schlafanzug in die Küche getapst kam, riss Gregor aus seiner Erinnerung an diesen ersten Besuch bei Mrs Cormaci. Sie war klein für ihr Alter, doch mit ihrer besorgten Miene wirkte sie älter als sieben. »Haben wir irgendwas zu essen da?«, fragte sie.

»Klar, jede Menge«, sagte Gregor und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich gerade eben dieselbe Frage gestellt hatte. »Guck, hier ist Haferbrei, den könnt ihr zum Frühstück essen, und heute Mittag gibt es Brote mit Erdnussbutter. Ich mache schon mal den Haferbrei.«

Lizzie durfte den Herd nicht bedienen. Sie öffnete den Schrank mit den Schälchen, nahm vier heraus und zögerte dann. »Frühstückst du auch, oder …?«

»Nö, ich hab keinen Hunger«, sagte er, obwohl sein Magen knurrte. »Außerdem muss ich gleich rüber zu Mrs Cormaci.«

»Gehen wir nachher Schlitten fahren?«, fragte sie.

Gregor nickte. »Ja, ich geh mit dir und Boots in den Central Park. Wenn es Dad gut geht.«

Sie hatten eine große fliegende Untertasse im Sperrmüll gefunden. Sie hatte einen langen Riss, aber Gregors Vater hatte sie mit Klebeband geflickt. Gregor hatte versprochen, jede Woche mit seinen Schwestern rodeln zu gehen. Aber wenn sein Vater Fieber hatte, musste jemand bei ihm und der Großmutter bleiben, die meistens dachte, sie sei auf der Farm ihrer Familie in Virginia. Und am Nachmittag stieg das Fieber für gewöhnlich an.

»Wenn nicht, bleib ich zu Hause. Dann kannst du mit Boots gehen«, sagte Lizzie.

Er wusste, dass sie für ihr Leben gern mitkommen wollte. Sie war erst sieben. Warum musste sie es so schwer haben?

Die nächsten paar Stunden verbrachte Gregor damit, zusammen mit Mrs Cormaci mehrere große Schalen Kartoffelgratin zu machen, ihre merkwürdige Sammlung alter Uhren zu putzen und ihren Weihnachtsschmuck aus der Abstellkammer zu holen. Als sie Gregor fragte, was er sich zu Weihnachten wünschte, zuckte er nur die Achseln.

Bevor er mit dem Geld und einer großen Schale Kartoffelgratin ging, gab Mrs Cormaci ihm etwas Wunderbares. Es war ein Paar alte Arbeitsstiefel, die ihrem Sohn gehört hatten. Sie waren ein bisschen abgenutzt und etwas zu groß, aber sie waren robust und wasserfest und ließen sich bis über die Knöchel schnüren. Gregors Turnschuhe, die einzigen Schuhe, die er besaß, rissen an den Zehen allmählich ein, und manchmal, wenn er durch die matschigen Straßen lief, hatte er in der Schule den ganzen Tag nasse Füße.

»Will er die wirklich nicht mehr haben?«, fragte Gregor.

»Mein Sohn? Natürlich will er sie haben. Er will, dass sie bei mir Platz wegnehmen, damit er einmal im Jahr kommen und sagen kann: ›Ach, da sind ja meine alten Stiefel‹, um sie dann wieder in meine Abstellkammer zu stopfen. Immer wenn ich das Bügeleisen holen will, stolpere ich über die Dinger. Noch einmal und ich enterbe ihn. Schaff sie bloß hier weg, ehe ich sie aus dem Fenster schmeiße!«, sagte Mrs Cormaci mit einer verächtlichen Handbewegung. »Bis nächsten Samstag dann.«

Als Gregor nach Hause kam, ging es seinem Vater gar nicht gut.

»Geht ihr ruhig. Geht Schlitten fahren. Ich bleibe hier bei Großmutter, kein Problem«, sagte er, aber er klapperte vor Schüttelfrost mit den Zähnen.

Boots tanzte mit der fliegenden Untertasse auf dem Kopf herum. »Slitten fahren? Wir Slitten fahren, Ge-go?«

»Ich bleib hier«, flüsterte Lizzie Gregor zu. »Aber kannst du noch Fiebertabletten besorgen, bevor ihr losgeht? Wir haben gestern die letzte verbraucht.«

Gregor überlegte auch, ob er zu Hause bleiben sollte, aber Boots kam kaum raus, und Lizzie war noch zu klein, um allein mit ihr rodeln zu gehen.

Er lief zur Drogerie und kaufte eine Packung fiebersenkende Tabletten. Auf dem Rückweg blieb er an einem Tisch mit gebrauchten Büchern stehen, die ein Mann an der Straße verkaufte. Vor ein paar Tagen hatte Gregor dort ein Rätselheft entdeckt. Es sah ziemlich mitgenommen aus, aber Gregor hatte beim Durchblättern gesehen, dass erst ein oder zwei Kreuzworträtsel ausgefüllt waren. Der Mann überließ es ihm für einen Dollar. Schließlich kaufte Gregor noch einige Navelorangen, die teuren mit der dicken Schale, die Lizzie so gern aß.

Lizzie strahlte, als er ihr das Heft gab. »Oh! Oh, ich hole gleich einen Stift«, sagte sie und rannte los. Rätsel waren ihre große Leidenschaft. Zahlenrätsel, Kreuzworträtsel, egal was. Und obwohl sie erst sieben war, konnte sie schon eine Menge Rätsel lösen, die für Erwachsene gedacht waren. Schon als sie ganz klein war, sagte sie bei jedem Stoppschild: »Stop, Post, Tops, Spot …« In Sekundenschnelle bildete sie aus den Buchstaben eines Wortes sämtliche Wörter, die ihr einfielen. Es schien fast ein innerer Zwang zu sein.

Als Gregor ihr vom Unterland erzählt und den Namen des schrecklichen Rattenkönigs Gorger erwähnt hatte, hatte sie einen Moment lang die Luft angehalten. »Gorger! Der heißt genau wie du, Gregor!« Sie meinte nicht, dass er genauso hieß, sie meinte, dass Gorger, wenn man die Buchstaben vertauschte, zu Gregor wurde. Wer außer Lizzie hätte das bemerkt?

Deshalb hatte er kein schlechtes Gewissen, als er sie allein ließ. Die Großmutter schlief, der Vater hatte seine Medizin und Lizzie hatte sich in einen Sessel neben ihn gekuschelt, saugte an einem Stück Orange und knobelte selig an einem Kryptogramm.

Boots’ Vorfreude war so groß, dass Gregor sich davon anstecken ließ. Er hatte zwei Paar Socken angezogen und die neuen Stiefel vorn mit Klopapier ausgestopft, damit seine Füße schön warm und trocken blieben. Sie hatten so viel Kartoffelgratin zu Hause, dass sie eine kleine Armee durchfüttern könnten. Leichter Schnee schwebte herab, und sie würden Schlitten fahren. Wenigstens für den Moment war alles in Ordnung.

Sie fuhren mit der U-Bahn zum Central Park, wo es eine großartige Rodelbahn gab. Es waren viele Leute da, einige mit schicken Schlitten, andere mit ramponierten fliegenden Untertassen. Ein Junge rodelte den Hügel einfach auf einem großen Müllsack runter. Boots quiekte jedes Mal vor Vergnügen, wenn sie den Hügel runtersausten, und sobald sie zum Stehen kamen, rief sie »Noch mal, Ge-go. Noch mal!«. Sie rodelten, bis es anfing zu dämmern. In der Nähe eines Ausgangs zur Straße machte Gregor Halt, um Boots spielen zu lassen. Er stand an einen Baum gelehnt da, während sie begeistert Fußabdrücke in den Schnee machte.

Mit den vielen Schlitten fahrenden Kindern, den schneebedeckten Nadelbäumen und den witzigen plumpen Schneemännern wirkte der Park wie zu Weihnachten. Große glitzernde Sterne hingen von den Straßenlaternen herab. Die Leute gingen mit Einkaufstüten vorbei, die mit Rentieren und Weihnachtssternen bedruckt waren. Gregor hätte sich freuen sollen, doch beim Gedanken an Weihnachten wurde er nervös.

Sie hatten überhaupt kein Geld. Ihm machte das nicht so viel aus. Er war schon elf. Aber Boots und Lizzie waren noch klein, und sie sollten sich freuen, für sie musste es Überraschungen geben, einen Weihnachtsbaum und Geschenke und Strümpfe an der Garderobe (dort hängten sie ihre Strümpfe auf, weil sie keinen Kamin hatten) und etwas Schönes zu essen.

Gregor hatte versucht, einen Teil des Geldes von Mrs Cormaci zu sparen, aber irgendwie brauchte er es immer für andere Sachen, für Fiebertabletten, Milch oder Windeln. Auch jetzt brauchte Boots vermutlich eine frische Windel, aber er hatte keine mitgenommen, also mussten sie nach Hause.

»Boots!«, rief Gregor. »Wir müssen los!« Er schaute sich im Park um und sah, dass die Laternen an den Wegen angegangen waren. Es war jetzt fast dunkel. »Boots! Komm!«, sagte er. Er trat aus dem Schatten des Baums, drehte sich einmal um die eigene Achse und erschrak.

In der kurzen Zeit, in der er seinen Gedanken nachgehangen hatte, war Boots verschwunden.