11. Kapitel

Gregor hatte noch nie an den Fingernägeln gekaut, aber keine fünf Minuten nach Ankunft der Glühwürmer fing er damit an. Sie waren unglaublich! Sie stritten darüber, wer wo sitzen sollte, sie stritten darüber, wer die erste Schicht übernehmen sollte, sie stritten sogar darüber, wer Temp als Diener bekommen sollte, da er ja nur ein unbedeutender Krabbler war, doch da sagte der Kakerlak ungewohnt heftig: »Nur der Prinzessin dient Temp, dient nur der Prinzessin.«

Mareth bot ihnen etwas zu essen an, um sie abzulenken, aber da meckerten sie nur an den Tischmanieren des anderen herum.

»Musst du mit vollem Mund sprechen, Zack?«, sagte Photos Glimm-Glimm. »Da vergeht einem ja der Appetit.«

»Und das von jemandem, der gerade noch mit dem Hintern in der Milch gesessen hat!«, sagte Zack, und damit hatte sie Photos Glimm-Glimm offenbar getroffen, denn sein Hinterteil wurde flammend rot vor Zorn. Mindestens dreißig Sekunden lang kaute er schweigend auf einem Pilz herum.

»Sind die immer so?«, flüsterte Gregor Mareth zu.

»Offen gestanden sind diese beiden nicht so schlimm wie einige andere, mit denen ich schon gereist bin«, flüsterte Mareth zurück. »Einmal sah ich zwei, die sich wegen eines Kuchenstücks umzubringen versuchten.«

»Versuchten?«, sagte Gregor.

»Sie sind nicht sehr geschickt im Kampf und ermüden rasch. Am Ende warfen sie einander Schummelei vor und gaben auf. Dann schmollten sie mehrere Tage lang«, sagte Mareth.

»Brauchen wir sie wirklich?«, fragte Gregor.

»Leider ja«, sagte Mareth.

Sogar Boots, die sich auf dem Boden niedergelassen hatte und mit Temp einen Ball hin- und herrollte, schien sich über die Neuankömmlinge zu ärgern.

»Fo-Fo zu laut!«, sagte sie und zog ihn an einem Flügel. »Pscht, Fo-Fo!«

»Fo-Fo? Fo-Fo? Ich bin der, den man Photos Glimm-Glimm nennt, und werde auf nichts anderes antworten!«, sagte Photos Glimm-Glimm.

»Sie ist noch klein. Sie kann nicht Photos Glimm-Glimm sagen«, sagte Gregor.

»Nun, dann kann ich sie nicht verstehen!«, sagte der Glühwurm.

»Ich erlaube mir mal zu übersetzen«, sagte Twitchtip, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Sie sagt, wenn du nicht sofort mit dem unablässigen Gequatsche aufhörst, kommt die große Ratte, die im Boot neben dir sitzt, und reißt dir den Kopf ab.«

Die darauf folgende Stille war himmlisch. Gregor hatte auf einmal geradezu freundschaftliche Gefühle für Twitchtip und hätte gar nichts dagegen gehabt, mit ihr in einem Boot zu fahren.

Sie waren jetzt weit draußen auf dem Wasserweg. Mit der Ankunft der Leuchter waren die Fackeln gelöscht worden. Die Glühwürmer erhellten nur die unmittelbare Umgebung. Gregor schaltete kurz seine beste Taschenlampe an und leuchtete herum. Nirgends war mehr Land in Sicht.

Jetzt gab es auch Wellen und sogar eine ganz ordentliche Brise. Mareth und Howard hissten seidene Segel und hatten damit zu tun, die Boote zu steuern. Ihre Fledermäuse kauerten sich gemütlich zusammen und dösten ein. Gregor fiel auf, dass Ares sich nicht zu ihnen gesellte. Auf der ersten Reise hatten die Fledermäuse sich in den Flugpausen zusammengeschart und so geschlafen. Jetzt war Ares vielleicht nicht mehr willkommen.

»Hey, Ares, weißt du, wie lange wir mit den Booten bis zum Irrgarten brauchen?«, fragte Gregor.

»Mindestens fünf Tage«, sagte Ares. »Flögen wir, wären wir schneller, doch man glaubt, dass nur sehr wenige Fledermäuse dieser Reise gewachsen wären. Keiner von uns hat es bisher versucht.«

»Ich wette, du würdest es schaffen«, sagte Gregor, und das glaubte er auch. Henry hatte Ares nicht nur ausgesucht, weil er ein Unruhestifter war, er war auch beeindruckend stark und schnell.

»Ich habe erwogen, es eines Tages zu versuchen, um zu sehen, ob ich es kann«, gab Ares zu.

»Wie Lindbergh. Er war der Erste, der ganz allein den Atlantik überquert hat«, sagte Gregor.

»Hatte er Flügel?«, fragte Ares.

»Na ja, keine echten. Er war ein Mensch. Er hatte ein Flugzeug. Das ist eine Maschine, die fliegen kann. Heutzutage fliegen die Leute ständig mit riesigen Flugzeugen über den Ozean, aber zu Lindberghs Zeit noch nicht«, sagte Gregor.

»Ist er berühmt im Überland?«, fragte Ares.

»O ja, ich meine, das war er. Jetzt ist er tot, aber er war wirklich berühmt. Die Leute waren auch wütend auf ihn. Das hatte irgendwas mit einem Krieg zu tun«, sagte Gregor, aber er wusste nicht genau, was es damit auf sich hatte. Da war auch eine traurige Geschichte mit einem Baby, aber das wusste er auch nicht mehr genau.

Gregor nahm die Rolle mit der Prophezeiung des Fluchs und öffnete sie.

Stirbt das Kleine, stirbt sein Heil

verliert er seinen wichtigsten Teil.

Er ließ die Rolle wieder zuschnappen. Er schaute zu Boots, die leise »Jetzt fahrn wir übern See« sang und dazu auf Temps Panzer trommelte. Sie war so vollkommen und so unschuldig wie alle kleinen Kinder. Wie konnte man irgendein Problem dadurch lösen wollen, dass man sie umbrachte? Und doch wusste Gregor, dass im selben Moment Truppen von Ratten das Unterland durchkämmten, um genau das zu tun.

»Können Ratten schwimmen?«, fragte Gregor und schaute ins Wasser.

»Ja, aber nicht so weit hinaus. Hier können die Ratten sie nicht erreichen«, sagte Ares, der seine Gedanken erriet.

Doch irgendwann würden sie an Land gehen. Und dort würde der Fluch sein.

»Hast du schon mal eine Ratte getötet?«, fragte Gregor.

»Nicht allein. Zusammen mit Henry, ja. Ich flog, während er das Schwert führte«, sagte Ares.

Da fiel Gregor ein, dass er die Ratte Fangor durch Henrys Schwert hatte sterben sehen, damals am Kristallstrand. Doch die Erinnerung daran war verschwommen.

»Wie macht man das? Ich meine, wo genau ist die beste … wo ersticht man sie?« Die Wörter fühlten sich seltsam in seinem Mund an.

»Der Hals ist verwundbar. Und das Herz, doch man muss durch die Rippen kommen. Durch die Augen ins Hirn. Unterm Vorderbein liegt eine Ader, die stark blutet. Wenn du sie am Bauch triffst, tötest du sie vielleicht nicht auf der Stelle, doch die Ratte wird wahrscheinlich in den folgenden Tagen an einer Entzündung sterben«, sagte Ares.

»Ich verstehe«, sagte Gregor. Aber das stimmte nicht. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, dass er das tun würde. Dass er die weiße Riesenratte töten würde. Das Ganze kam ihm unwirklich vor.

»Darf ich dabei auf dir fliegen? Oder muss ich auf dem Boden sein?«, fragte Gregor.

»Wenn irgend möglich, werde ich da sein«, sagte Ares.

»Danke«, sagte Gregor. »Tut mir leid, dass ich dich in diese schreckliche Geschichte mit reinziehe.«

»Du hast mich auch schon einmal aus einer befreit«, sagte Ares. Und dabei ließen sie es bewenden.

Mareth rief zum Abendessen und reichte Proviant herum. Die Glühwürmer aßen mit großem Appetit, obwohl sie gerade erst etwas bekommen hatten.

Als alle fertig waren, holte Mareth in seinem Boot die Segel ein und machte den Bug mit einem Tau am Heck von Howards Boot fest. »Howard und ich werden abwechselnd das vordere Boot segeln, während ihr anderen schlaft. Aber wir brauchen die ganze Zeit eine Wache und einen Leuchter.«

»Zack übernimmt die erste Schicht«, sagte Photos Glimm-Glimm. »Mein Licht braucht mehr Energie.«

»Das ist gelogen!«, heulte Zack. »Ich kann zwar nur in einer Farbe leuchten, aber das ist kein bisschen weniger anstrengend. Er sagt das nur, damit er mehr zu essen bekommt und weniger arbeiten muss!«

»Photos Glimm-Glimm übernimmt die erste Schicht«, sagte Twitchtip. »Oder ich reiß ihm die Flügel in Fetzen.« Damit war das beschlossen. »Wer möchte mit ihm zusammen Wache halten?«

»Wir sind viele, wir können uns alle zwei Stunden ablösen«, sagte Mareth.

Gregor war völlig erschöpft, aber die Vorstellung, nach zwei Stunden Schlaf geweckt zu werden, um Wache halten zu müssen, war so schrecklich, dass er sich freiwillig meldete.

Im vorderen Boot bezog Howard seinen Posten am Steuer. Seine Fledermaus legte die Flügel an, um zu schlafen. Twitchtip, die sich seit der Abreise aus Regalia kaum geregt hatte, schloss die Augen. Zacks schwaches gelbes Licht erlosch und sie fing an zu schnarchen.

Gregor befreite Boots von der Schwimmweste, wickelte sie in eine warme Decke und legte sie im Heck neben Temp auf den Boden. Ares hockte sich neben die beiden. Mareth legte sich neben Andromeda. Photos Glimm-Glimm schaltete sein Licht auf ein gleich bleibendes Orange und setzte sich wenige Meter vor Mareth auf den Bug, sodass der Raum zwischen den Booten erleuchtet war.

Gregor setzte sich auf einen Stapel Vorräte und legte den Unterarm auf den Bootsrand. Es war still bis auf das Plätschern der Wellen, die leisen Atemzüge und das Schnarchen der Glühwürmer. Das Schaukeln des Boots hatte eine hypnotische Wirkung. Seine Lider wurden schwer.

Seit Tagen hatte er kaum geschlafen … die Ratten waren hinter Boots her … vielleicht konnte er nur einen Moment den Kopf auf der Schulter ausruhen … er musste Ripred töten … nein, den Fluch … er musste den Fluch töten … wie viele Nächte war er schon hier unten? … Er musste irgendwen töten …

Boots’ kalte kleine Hand legte sich um sein Handgelenk. »Was ist, Boots?«, murmelte er. Jetzt drückte sie zu. Fest. »Was ist los? Brauchst du eine Decke?«

Er versuchte den Arm wegzuziehen. Ihre Finger gruben sich tiefer in seine Haut und krochen seinen Arm hinauf. Es tat jetzt richtig weh. Gregor riss die Augen auf. Boots schlief ein paar Meter weiter friedlich neben Temp. Er drehte den Kopf zur Seite.

Um seinen Unterarm war ein schleimiger roter Tentakel geschlungen.