19. Kapitel

Das kannst du nicht. Du kannst es nicht allein machen«, sagte Howard und schüttelte den Kopf.

»O doch«, sagte Gregor. »Twitchtip, erklär ihnen, warum.«

Twitchtip sah Gregor an und zog eine Augenbraue hoch, um sich zu vergewissern, dass er es ernst meinte. Er nickte. »Also schön«, sagte sie. »Er könnte es schaffen. Er ist ein Wüter.«

Das Wort beeindruckte alle. Ares und Andromeda sträubten das Fell. Howard blieb der Mund offen stehen. »Ein Wüter?«, fragte er. »Woher weißt du das?«

»Wüter verströmen einen ganz bestimmten Duft, wenn sie kämpfen«, sagte Twitchtip. »Er ist sehr schwach, sogar für mich, aber ich kann ihn ausmachen. Ich habe es zum ersten Mal gerochen, als ich den Überländer kennen lernte, aber später war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn nicht mit Ripreds Geruch verwechselt hatte. Er hatte auch gekämpft.«

»An dem Tag hatte ich die Blutbälle getroffen«, sagte Gregor. »Das war das erste Mal, dass ich dieses Gefühl hatte.«

»Ja, und als uns dann die Tintenfische angegriffen haben, war ich mir sicher«, sagte Twitchtip. »Ein paar Tage später habe ich ihm erzählt, dass er ein Wüter ist, aber er hat es abgestritten.«

Es entstand ein Schweigen, und Gregor spürte die Blicke der anderen auf sich. »Weil ich nicht wollte, dass es so war. Aber es spielt keine Rolle, was ich will. Ich weiß nicht, was es ist; wenn ich kämpfe, passiert etwas mit mir. Etwas Seltsames. Und wenn Twitchtip meint, sie riecht dieses Wüter-Zeug an mir, dann hat sie wohl Recht.«

»Nun, nehmen wir einmal an, es ist wahr, Gregor, und du bist ein Wüter. Das macht dich nicht unsterblich. Es bedeutet nicht, dass du allein in einen Irrgarten voller Ratten marschieren kannst«, sagte Howard.

»Er wird nicht allein sein«, sagte Ares. »Ich werde bei ihm sein.«

»Und ich werde ihn in den Irrgarten führen, soweit ich kann«, sagte Twitchtip. »Bevor ich meine Nase verlor, habe ich eine gute Prise weißes Fell erhascht. Wenn ich ihn nicht zu dem Fluch führen kann, so kann ich ihn doch in die Nähe bringen.«

»Dann kommen Andromeda und ich auch mit«, sagte Howard.

»Du bist nicht eingeladen«, sagte Gregor.

»Was?«, sagte Howard.

»Ich möchte nicht, dass du mit in den Irrgarten kommst, Howard. Ich will, dass du Mareth zurückbringst und allen erzählst, was passiert ist. Das muss einer tun. Und wenn ich nicht zurückkomme, musst du die Nachricht irgendwie meiner Familie überbringen«, sagte Gregor.

»Du bist hier nicht der Befehlshabende«, sagte Howard. »Ich hatte Weisungen aus Regalia.«

»Kann schon sein, aber wenn du versuchst mir zu folgen, werde ich gegen dich kämpfen«, sagte Gregor.

»Du wirst keine Chance haben, wenn du zu Fuß gegen einen Wüter auf einem Flieger kämpfst«, sagte Ares.

»Schon gar nicht, wenn die beiden eine Ratte auf ihrer Seite haben«, warf Twitchtip ein.

Howard war jetzt nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Vielleicht gehe ich das Risiko ein. Und Andromeda vielleicht auch!«

»Bitte nicht, Howard. Bitte kehr um. Meine Eltern sollen nicht darauf warten, dass Boots und ich zur Tür hereinkommen, wenn das nie passieren wird. Und wenn wir nicht zurückkehren, werden sie früher oder später nach uns suchen«, sagte Gregor. »Und in Regalia müssen sie es auch erfahren. Das mit Luxa. Sie müssen sich jetzt eine neue Königin oder einen neuen König suchen, stimmt’s? Denn ganz gleich, was Luxa gesagt hat, Nerissa ist der Aufgabe wahrscheinlich nicht gewachsen. Also wird es Vikus werden, dann deine Mutter und dann du. Aber wenn du stirbst, wird es …«

»Stellovet. Oh, das hatte ich nicht bedacht«, sagte Howard.

»Willst du ihr die Verantwortung für Regalia überlassen?«, fragte Gregor.

»Nein, ich …« Howard presste die Handflächen an die Stirn. Der Verlust von Pandora und Luxa, die er eigentlich gerade erst gefunden hatte, und die Verantwortung für ein Königreich, die über ihm schwebte, waren zu viel für ihn. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Andromeda, was sagst du?«

»Ich werde nicht gegen den Überländer kämpfen und Gefahr laufen, ihn zu verletzen. Ich bringe Mareth nach Hause«, sagte Andromeda. »Und du solltest mich begleiten.«

»Oh …« Howard schien den Widerstand aufzugeben. »Ich kann nicht gegen euch alle kämpfen«, sagte er. Eine Weile saß er mit gesenktem Kopf da. Dann riss er sich zusammen und versuchte zur Tagesordnung überzugehen. »Nun denn, wenn wir Mareth lebend nach Hause bringen wollen, zählt jede Sekunde. Doch Andromeda kann die Strecke nicht ohne Pause fliegen, und es gibt keine sichere Landemöglichkeit.«

Das stimmte. Sie dachten alle darüber nach, dann meldete sich Ares zu Wort. »Im Humpen sind ein paar Stücke vom Boot. Sie sind nicht groß, doch sie schwimmen noch.«

»Vielleicht könntest du daraus ein Rettungsboot bauen«, sagte Gregor.

»Was ist das, ein Rettungsboot?«, fragte Howard.

»Im Überland führen große Boote und Schiffe Rettungsboote mit sich. Das sind kleine Boote, die man nehmen kann, wenn das Schiff sinkt«, sagte Gregor.

»Wenn das Boot leicht genug wäre, dass ich es tragen kann, und ich mich ab und an ein paar Stunden ausruhen kann, könnte ich es schaffen«, sagte Andromeda.

Ares erklärte sich bereit, nach Wrackteilen zu suchen.

»Ich komme mit«, sagte Gregor. Er musste mit seiner Fledermaus reden. Er wartete, bis sie über dem Humpen flogen, dann sagte er: »Du musst das nicht tun, Ares. Du musst mich nicht zum Fluch begleiten. Ich gehe allein.«

»Nein. Wir gehen zusammen«, sagte Ares. »Außerdem haben die Nager mir jeden Grund genommen, nach Regalia zurückzukehren. Sollten wir durch ein seltsames Geschick überleben und solltest du in deine Heimat zurückkehren, bricht für mich die Stille an.«

Ares hatte Recht. Jetzt, da Luxa und Aurora nicht mehr lebten, würde er zu niemandem mehr Kontakt haben. Er könnte wahrscheinlich jahrelang in seinem Versteck hocken, ohne dass jemand nach ihm schauen würde. Gregor würde mit gebrochenem Herzen nach Hause zurückkehren und Ares wäre so gut wie verbannt.

»Na gut«, sagte Gregor. »Wir gehen gemeinsam.« Er hatte das Gefühl, dass sie darüber nie wieder streiten würden – darüber, ob sich einer von ihnen ohne den anderen in Gefahr begeben würde. Er machte sich nicht die Mühe, Ares zu danken. Darüber waren sie hinaus. Es wäre fast so, als würde er sich selbst danken. Gregor wurde sich bewusst, dass diese Reise mit ihren Tintenfischen und Strudeln und Mücken und Riesenschlangen und dem Verlust, so großem Verlust, ihr Verhältnis verändert hatte. Diese Reise hatte den Eid, den sie vor der wütenden Menge in Regalia geschworen hatten, wahr werden lassen. Er erinnerte sich an das Gefühl von Ares’ Fuß in seiner Hand und dachte an die Worte, die er mit Luxas Hilfe gesprochen hatte.

»Ares der Flieger, mein Los ist deins,

Wir sind zwei, unser Leben und Tod sind eins.

Ob sich Flammen, Kriege oder Kämpfe erheben,

Ich werde dich retten wie mein Leben.«

Ares war seine Fledermaus. Gregor war Ares’ Mensch. Jetzt waren sie wirklich miteinander verbunden.

Etwas Erfreuliches gab es immerhin, sie machten einen guten Fang. Ares fand drei Teile vom Boot und Howard baute sie mit dem letzten Rest Klebeband zu einer Art Floß zusammen. Den Wasserweg würde man damit nicht überqueren wollen, aber als sie es im Wasser ausprobierten, hielt es dem Gewicht von Gregor, Ares und Howard stand.

»Einige Stunden dürfte es halten«, sagte Howard. »Lange genug, dass Andromeda ein wenig schlafen kann.«

Fast ebenso wichtig wie die Wrackteile waren die beiden Taschen, die sie wiederfanden. Sie waren von den hohen Wellen in einen Tunnel gespült worden. Eine davon enthielt Proviant. Die andere war zu Howards großer Erleichterung seine Erste-Hilfe-Tasche.

»Oh! Dies ist so gut wie Licht!«, sagte er. Sofort öffnete er die Tasche und behandelte alle. Er wechselte Mareths und Twitchtips Verbände und gab Medizin auf die Wunden. Er bandagierte Gregors Arm neu, der jetzt tatsächlich etwas besser aussah, und betupfte Ares’ Insektenbisse mit Salbe.

Howard bestand darauf, dass Gregor das restliche Essen behielt, da Mareth sowieso nichts essen konnte und er selbst und Andromeda sich von rohem Fisch ernähren konnten. »Und wer weiß, was du im Irrgarten finden wirst?«

Gregor nahm Mareths Schwert, Howard hatte immer noch sein eigenes.

Schließlich verteilten sie die Taschenlampen. Sie hatten zwei funktionstüchtige Taschenlampen; Howards war beim Angriff der Schlangen kaputtgegangen, und zwei waren mit Luxa und Boots im Meer verschwunden. Es gab also für jede Gruppe eine Taschenlampe, doch Howard wollte, dass Gregor alle Reservebatterien nahm. »Andromeda wird uns auch ohne Licht nach Hause geleiten. Dir werden viel mehr Widrigkeiten begegnen.«

Gregor nickte. Er packte die Schokoriegel, den Proviant und die Batterien in seinen Rucksack. Mareths Schwert klemmte er zwischen zwei Riemen. Die Taschenlampe war immer noch an seinem gesunden Arm befestigt.

Andromeda machte den Rücken ganz flach und sie legten Mareth darauf. Howard umwickelte ihn mit der Decke aus der Erste-Hilfe-Tasche. Dann schwang er sich auf die Fledermaus. »Fliege hoch, Gregor der Überländer.«

»Fliege hoch«, sagte Gregor. Obwohl ihm »War schön dich gekannt zu haben« passender erschien. Er rechnete eigentlich nicht damit, Howard je wiederzusehen.

Andromeda hob ab und schnappte sich das Floß, bevor sie aus dem Tunnel flog. Im Nu waren sie außer Sicht.

Gregor, Ares und Twitchtip drehten sich um und gingen ohne ein Wort in den Tunnel.