21. Kapitel

Gregor konnte die eine Ratte schon fast mit dem Schwert berühren, als Ares abrupt wieder nach oben zog. Eine dritte Ratte mit ungewöhnlichem goldfarbenen Fell stürmte direkt unter ihnen in die Höhle.

Jetzt muss ich es mit drei Gegnern aufnehmen, dachte Gregor, als Ares schräg nach oben schoss. Doch als Gregor wieder sehen konnte, was sich unten abspielte, riss die goldene Ratte einem seiner Angreifer gerade die Kehle auf. Sie wirbelte zu der zweiten grauen Ratte herum, das Blut spritzte ihr aus dem Maul.

Gregor schüttelte leicht den Kopf, um besser denken zu können. Was sollte das?

»Sei nicht dumm, Goldshard! Er will den Fluch töten!«, knurrte die graue Ratte.

»Lieber ein toter Fluch als einer, der dir vertraut«, zischte die goldene Ratte zurück. Ihre Stimme klang etwas höher, wie Twitchtips, und Gregor war sich sicher, dass es ein weibliches Tier war.

»Damit unterzeichnest du dein eigenes Todesurteil!« Die graue Ratte duckte sich zum Angriff.

»Einer von uns wird sterben, Snare, die Frage ist nur, wer«, sagte Goldshard. Als Snare einen Satz auf sie zu machte, legte sie los.

Gregor hatte noch nie einen richtigen Rattenkampf gesehen. Ripred hatte damals, als sie unterwegs zu Gregors Vater waren, im Tunnel zwei Ratten getötet, aber die hatten gar keine Zeit gehabt, sich zu wehren. Später hatte Ripred es mit einigen von König Gorgers Soldaten aufgenommen. Doch Gregor war nicht dabei gewesen, weil er da gerade in seinen vermeintlichen Tod sprang. Jetzt konnte er sich die Sache von oben anschauen.

Als Goldshard die erste Ratte getötet hatte, hatte sie sich den Überraschungseffekt zunutze machen können. Diesmal ging ihr Gegner zum Angriff über. Und Snare, mit ziemlicher Sicherheit eine männliche Ratte, war wesentlich größer als sie.

Es war ein grauenhafter Kampf. Die Ratten umkreisten einander eine Weile und überlegten sich eine Angriffsmöglichkeit, dann ging die eine auf die andere los und man sah nur noch ein Gewirr von Zähnen und Klauen. Wenn sie sich dann trennten, um einander wieder zu umkreisen, hatten sie beide neue Wunden. Snare verlor ein Auge. Goldshards Ohr hing nur noch an einem Stück Fell. Man konnte Snares Schulterknochen sehen. Goldshards linke Vorderpfote war entzweigerissen.

Schließlich erwischte die goldene Ratte die ungeschützte Flanke des Gegners und hieb ihre Zähne in seinen Hals. Im Todeskampf bekam Snare die Hinterbeine zwischen Goldshard und sich selbst und schlitzte ihr den Bauch der Länge nach auf. Sie ließ los, taumelte zurück und brach zusammen. Ihre Eingeweide quollen heraus. Die Ratten lagen nur wenige Meter voneinander entfernt, zwei hilflose Körper, die Blicke hasserfüllt aufeinander geheftet. Mit einem schauderhaften Gurgeln erstickte Snare an seinem eigenen Blut.

Goldshard wandte den Blick zu Gregor. Es war ein flehender Blick, und er war sich sicher, dass sie ihm etwas sagen wollte. »Lass …«, flüsterte sie. Doch ehe sie den Satz beenden konnte, wurden ihre Augen glasig und sie bewegte sich nicht mehr.

»Was war das denn?«, platzte Gregor heraus.

»Ich weiß nicht«, sagte Ares.

»Sind sie tot?«, fragte Gregor.

»Mausetot. Alle drei«, sagte Ares. Er landete auf dem Boden und wich dabei den Blutlachen aus, die sich um die Ratten herum ausbreiteten.

»Weißt du, wer das war?«, fragte Gregor. »Sagen dir die Namen was? Goldshard? Snare?«

»Goldshard nicht«, sagte Ares. »Von Snare habe ich schon gehört. Er war einer von Gorgers Generälen. Er kämpfte an der Front, als Gorger fiel. Dann muss er sich dem Fluch angeschlossen haben. Das ist nicht verwunderlich. Wer der weißen Ratte nahe steht, wird viel Macht erlangen, wenn sie König wird«, sagte Ares.

Gregor hatte sich bisher keine Gedanken über die politischen Kämpfe der Ratten gemacht, aber jetzt, wo er damit anfing, kam ihm etwas komisch vor. »Warum ist der Fluch denn noch nicht König? So eine große, starke Ratte müsste doch schon längst an der Macht sein«, sagte Gregor. »Worauf wartet sie noch?«

»Selbst der Fluch muss eine Armee um sich versammeln«, sagte Ares. »Er hat auch Feinde unter den Ratten. Ripred zum Beispiel. Der will ihn tot sehen.«

Das stimmte. Zu Ripreds Plan seines eigenen Aufstiegs an die Macht gehörte es, den Fluch zu töten. Snare hatte versucht ihn zu retten, doch Goldshard wollte auf keinen Fall, dass er Snare vertraute – lieber sollte Gregor ihn töten.

Da war noch etwas mit Goldshard. Dieser Blick, mit dem sie ihn zum Schluss angesehen hatte. Als wollte sie ihn um etwas bitten. Was hatte sie ihm sagen wollen? Lass? Was sollte er lassen?

Ares’ Kopf fuhr ruckartig zum Tunneleingang herum.

»Wie viele?«, fragte Gregor.

»Nur eine, glaube ich«, sagte Ares. »Es ist schwer zu sagen. Der Weg verläuft spiralförmig.« Wieder fuhr sein Kopf hoch. Diesmal brauchte Gregor nicht zu fragen, er hörte selbst das Scharren. Das Geräusch verstummte. Nichts kam aus dem Tunnel zum Vorschein. Plötzlich wusste Gregor auch, warum.

»Es ist der Fluch«, flüsterte er Ares zu. Die Fledermaus nickte. So musste es sein. Jede andere Ratte würde einfach angreifen, während der Fluch wusste, dass jemand Jagd auf ihn machte. Ein Mensch. Ein Überländer. Der Krieger.

Die Worte aus der Prophezeiung des Fluchs fielen ihm wieder ein:

In der Tiefe haust die Ratte

die Schneegleiche, Nimmersatte

die Teuflische mit weissem Gesicht

Raubt der Krieger dir das Licht?

Ja, das würde er tun. Deshalb war der Krieger gekommen.

Wieder hörte er ein leises Scharren. Sie war also da drin. Nur wenige Meter entfernt. Sie wartete.

Der Tunneleingang war klein, nur etwa einen Meter fünfzig hoch und kaum mehr als einen Meter breit. Ares würde darin nicht fliegen können. Vermutlich wusste der Fluch das. Er wollte Gregor allein hineinlocken. Nun gut. Er würde sich ihm allein stellen.

Gregor ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und zu Boden fallen. Er wollte durch nichts behindert werden. Er prüfte seine Taschenlampe, die voll aufgedreht war. Er nahm das Schwert und ging auf den Tunnel zu.

Ares hielt ihn mit einem Flügel zurück. »Du kannst dort drinnen nicht gegen sie kämpfen, Überländer.«

»Tja, sie kommt aber nicht raus«, sagte Gregor.

»Dann warte«, sagte Ares.

»Worauf? Dass noch ein Haufen Ratten auftaucht?«, sagte Gregor.

Widerstrebend ließ Ares den Flügel sinken.

»Weißt du, ich hab das Gefühl, dass es sowieso so gedacht war. Dass ich es allein machen soll«, sagte Gregor. »Aber halt dich bereit; wenn ich sie getötet habe, müssen wir schnell von hier verschwinden. In Ordnung?«

»Ich werde bereit sein«, sagte Ares. Er streckte einen Fuß aus und Gregor ergriff ihn mit der Hand.

Dann wandte er sich zum Tunnel. Während er die zehn Schritte zum Eingang zurücklegte, spürte er, wie der Wüter in ihm durchkam, die geschärften Sinne, das Adrenalin in den Adern, die selektive Wahrnehmung. Er war von Kopf bis Fuß aufs Töten eingestellt.

Er schlüpfte hinein und stieß fast sofort auf den spiralförmigen Weg, von dem Ares gesprochen hatte. Noch so ein Weg, der an einen Korkenzieher erinnerte. Während er sich mit der verletzten Hand an der Mauer entlangtastete und in der guten das Schwert hielt, machte er ein, zwei, drei Drehungen und landete plötzlich in einem quadratischen Raum.

Er versuchte sich vor ihm zu verstecken, der Fluch. Nur ganz kurz blitzte weißes Fell auf, dann ein rosa Schwanz in einer Höhle seitlich des Raums.

Gregor dachte an Luxa, die niemals Königin sein würde, an Twitchtip, die blutend am Boden lag, an seinen Vater, der am Telefon weinte, und an Boots … süße, vertrauensvolle Boots …

Mit klopfendem Herzen, blind für alles bis auf das weiße Fell, machte er einen Satz zu der Höhle hin. Er riss das Schwert hoch, sodass er im schrägen Winkel zustoßen konnte. Er nahm die verletzte Hand dazu und bewegte die Klinge mit aller Kraft nach unten.

Doch kurz bevor er zustieß, gab das Wesen einen Laut von sich, der Gregor traf wie ein Donnerschlag.

»Ma-maa!«