22. Kapitel

In letzter Sekunde riss Gregor das Schwert herum und stieß es mit solcher Wucht in die Steinwand, dass die Klinge am Griff abbrach und klirrend zu Boden fiel. Beim Aufprall schlugen seine Zähne zusammen.

Er stolperte ein paar Schritte zurück. »Boots?«, sagte er heiser. Er wusste, dass es nicht Boots’ Stimme war. Doch etwas daran hatte ihn so sehr an Boots erinnert, wenn sie außer sich war, die hohe, gequälte Tonlage und die Art, wie sie das Wort in zwei lange Silben dehnte. »Ma-maa!«

Der Raum drehte sich in seinem Kopf. Wo war der Fluch? Was war das weiße Fellding ein paar Meter vor ihm? Denn eins war es ganz sicher nicht: eine drei Meter große Ratte, die ihn angreifen wollte!

Gregor zwang sich weiterzugehen und leuchtete mit der Taschenlampe in die Höhle. Da lag an die Wand gekauert, bebend vor Angst, eine kleine weiße Ratte. Plötzlich erschien ihm alles ganz logisch – weshalb man fast nichts über den Fluch wusste, weshalb er nicht die Herrschaft über das Königreich übernommen hatte, weshalb er ihn nicht angegriffen hatte. Er war noch ein Baby!

Trotzdem war es der Fluch. Gregor sollte ihm das Licht rauben. Sein Schwert war abgebrochen, er hatte nur noch eine krumme dolchartige Waffe in der Hand. Es wäre so einfach, das Wesen, das da vor ihm lag, zu töten. Aber … aber …

»Ma-maa!«

Aber es hörte sich genauso an wie Boots!

»O Gott. O Gott«, sagte Gregor und warf die Überreste seines Schwerts von sich. Er kniete sich hin und streckte die Hand nach dem Wesen aus, um es zu streicheln. »Ist schon gut. Es ist alles gut, Kleines.«

Die Ratte bebte vor Entsetzen, presste sich noch fester an die Wand und heulte aus Leibeskräften. »Ma-maa! Ma-maa!«

»Pscht! Pscht! Ist schon gut. Ich tu dir nichts«, sagte Gregor beruhigend. »Ares!«

Er hätte nicht so laut rufen sollen. Jetzt hatte er sie wieder erschreckt, sie schluchzte.

Ares kam eilig aus der letzten Kurve hervor und stolperte in den Raum. »Was ist? Wo ist der Fluch?«

»Hier drin«, sagte Gregor und zeigte auf die Höhle. »Und wir haben ein Problem.«

»Was? Was?« Ares hatte sich auf einen Kampf um Leben und Tod gefasst gemacht und war jetzt völlig verwirrt. »Wo ist das Problem?«

»Hier ist das Problem«, sagte Gregor. Er beugte sich hinab und hob das Rattenbaby hoch. Es war etwa so schwer wie ein ausgewachsener Cockerspaniel. Eines Tages würde es vermutlich drei Meter groß sein. Aber jetzt konnte er es hochheben und in den Armen wiegen. Er drehte sich um und zeigte es Ares.

»Was ist das? Das ist nicht der Fluch!«, sagte Ares.

»Das glaube ich aber doch. Jedenfalls ist es ein Babyfluch«, sagte Gregor.

»Das glaube ich nicht! Es ist ein Köder. Irgendein Trick der Nager, mit dem sie uns in die Falle locken wollen, um uns zu zerstören!«, sagte Ares.

»Bestimmt nicht. Guck dir doch mal sein Fell an. Wie viele weiße Ratten hast du in deinem Leben schon gesehen?«, fragte Gregor.

»Keine. Bis auf diese«, sagte Ares. »Aber vielleicht ist es gar keine Ratte! Vielleicht ist es eine Maus, die sie gefangen haben und mit der sie uns täuschen wollen! Weiße Mäuse habe ich schon gesehen!«

Gregor untersuchte das Baby, aber er war kein Spezialist für Nagetiere. Er hielt es hoch, damit Ares es in Augenschein nehmen konnte. »Sieh es dir an. Ist das eine Maus?«

»Nein. Es ist ganz eindeutig ein Nager«, sagte Ares.

»Dann glaubst du also, dass es zwei weiße Ratten gibt?«, sagte Gregor.

»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Zwei weiße Ratten zur selben Zeit, das ist höchst unwahrscheinlich. Es muss der Fluch sein. Ohhh. Oh, Überländer. Was wirst du mit ihm machen?«, fragte Ares.

»Tja, ich kann ihn ja nicht umbringen, oder? Er ist doch noch ein Baby!«, sagte Gregor.

»Ah! Ich bezweifle, dass sie diesen Grund in Regalia gelten lassen werden!«, sagte Ares. Gregor hatte Ares noch nie aus der Fassung gesehen. Er flatterte im Raum herum, er war so aufgeregt, dass er gegen eine Wand stieß.

»Hey, du bist gegen etwas gestoßen!«, sagte Gregor. Das kam bei Fledermäusen nie vor.

»Kannst du es mir verdenken? Ich bin … wir sind … bist du dir darüber im Klaren, was du da in den Armen hältst?«, sagte Ares.

»Den Fluch, denke ich«, sagte Gregor.

»Ja! Ja! Den Fluch! Die Geißel des Unterlands! Das Ungetüm, das die Flieger, die Menschen und zahllose andere auslöschen kann. Was wir in diesem Moment tun, bestimmt das Schicksal all jener, die das Unterland ihr Zuhause nennen!«, sagte Ares.

»Was soll ich tun, Ares? Ihm mein Schwert in den Kopf stoßen? Sieh dir das Ding doch an!« Der Fluch wand sich aus seinen Armen und rannte zum Tunnel. »He! Warte mal! Bleib stehen, du!«

Gregor verfolgte das Rattenbaby durch die Korkenzieherkurven und bis zum Tunnelausgang. Der Anblick, der sich ihm dort bot, stach ihm ins Herz.

Die kleine weiße Ratte versuchte sich in Goldshards Halsbeuge zu schmiegen. »Ma-maa«, wimmerte sie. »Ma-maa.« Als keine Antwort kam, fasste sie ihr verzweifelt mit der Pfote ins Gesicht. »Ma-maa!«

Gregor hörte das Rascheln von Ares’ Flügeln hinter sich. »Jetzt verstehe ich. Sie war seine Mutter. Und als sie ›Lass …‹ gesagt hat …« Gregor musste einen Moment innehalten. »Da wollte sie wahrscheinlich sagen: ›Lass mein Baby am Leben.‹«

»Sie muss verzweifelt versucht haben, es vor Snare zu beschützen. Er hätte es genommen und dazu erzogen, ihm zu gehorchen«, sagte Ares ruhig.

Blutflecken waren jetzt auf dem weißen Fell des Babys. Seine Schreie waren herzzerreißend. Und als hätten sie damit nicht genug Sorgen, riss Ares plötzlich den Kopf hoch.

»Wie viele diesmal?«, fragte Gregor.

»Mindestens ein Dutzend«, sagte Ares. »Du musst entscheiden, was zu tun ist, Überländer.«

Gregor biss sich auf die Lippe. Er konnte sich nicht entscheiden. Es ging alles zu schnell. Er brauchte mehr Zeit. »Na gut, na gut«, sagte er. Er beugte sich vor und nahm das Baby in die Arme. »Wir nehmen es mit.«

»Wie bitte?«, sagte Ares, als wäre das ein völlig abwegiger Gedanke.

»Ja. Denn ich werde es nicht töten, aber ich will es auch nicht den Ratten für ihre Zwecke überlassen«, sagte Gregor.

In einer Mischung aus Wut und Widerspruch schüttelte Ares den Kopf, aber er bot Gregor den Rücken.

Gregor schnappte mit einer Hand seinen Rucksack, schwang ein Bein über Ares’ Rücken und setzte den Fluch vor sich. »Okay«, sagte er. »Jetzt müssen wir laufen wie der Fluss.«

In dem Moment, als Ares sich in die Luft erhob, kam ein Dutzend Ratten in den kegelförmigen Raum geflitzt. Sie sahen die Toten, die Fledermaus, das Baby in Gregors Armen.

»Der Überländer hat den Fluch!«, rief eine Ratte, und die ganze Bande flippte aus. Sie heulten, sprangen hoch und schlugen mit den Klauen nach den Eindringlingen.

»Halt dich gut fest!«, rief Ares. Von den zwölf Tunneln, die aus dem Kegel hinausführten, waren etwa vier groß genug für Ares. Er flog in einen hinein und weg waren sie.

Es war wie die schrecklichste Karussellfahrt, die Gregor je erlebt hatte. Er hasste Karussellfahrten, aber im Vergleich zu dem hier waren sie harmlos – ruckartige Drehungen und Windungen in der Finsternis, eine Taschenlampe als einzige Lichtquelle und hinter jeder Biegung echte Ratten, die wie wahnsinnig auf ihn zusprangen. Mit den Beinen und mit einer Hand klammerte Gregor sich an Ares fest, mit der anderen Hand hielt er das Rattenbaby umschlungen.

Als sie um eine Höhle herumsausten und nur mit knapper Not den vielen gefährlichen Rattenmäulern entwischten, rief Ares: »Gebrauche dein Schwert!«

»Das hab ich nicht mehr! Es ist zerbrochen, ich hab es in der Höhle gelassen!«, sagte Gregor. Er fand es schrecklich, dass er Ares mit allen Schwierigkeiten allein lassen musste, aber was sollte er tun?

Ares schwenkte ruckartig zur Seite und schaffte es, in einen Tunnel einzubiegen. Die Ratten waren immer noch dicht hinter ihnen.

Das Rattenbaby hatte sein Ma-maa-Gebrüll aufgegeben und stieß jetzt nur noch eine Reihe hoher panischer Kiekser aus. »Iek! Iek! Iek!«

»Sieh zu, dass es damit aufhört, Überländer. Seine Stimme ist überall zu hören. Jede Ratte im Irrgarten kann hören, dass das Baby bedroht ist!«, rief Ares.

Gregor erinnerte sich daran, wie weit Boots’ Gebrüll immer zu hören war – durch Türen und Flure, man konnte sie sogar schon im Aufzug hören, wenn man hochfuhr. Offenbar hatte die Natur es so eingerichtet, dass das Weinen kleiner Kinder weithin zu hören war. Bei Ratten schien das nicht anders zu sein.

Zuerst versuchte er den Fluch durch gutes Zureden zu beruhigen. Aber das nützte nichts. Es hätte vielleicht geholfen, wenn sie irgendwo still auf dem Boden gesessen hätten, doch hier in diesem Hochgeschwindigkeitsalbtraum war es zwecklos. Er streichelte ihr über den Rücken und über den Kopf, aber auch das half nicht. Gregors menschliche Stimme, seine Berührungen und sein Geruch stellten für die Ratte nur eine weitere unbekannte Bedrohung dar. Schließlich gelang es ihm, mit einer Hand in den Rucksack zu fassen und einen Schokoriegel herauszuholen. Er riss ihn auf, brach ein Stück ab und steckte es dem Rattenbaby in den brüllenden Mund.

Es gab ein überraschtes »Iek!« von sich, dann ein Schmatzen, und dann war es vollauf damit beschäftigt, die erste Schokolade seines Lebens zu genießen.

»Mehr!« Es war absurd, dass das Rattenbaby sprechen konnte, aber so war es. »Mehr!«, rief es wieder, genau wie Boots es in solchen Situationen getan hatte.

Gregor steckte der kleinen Ratte noch ein Stück Schokolade ins Maul, und sie verschlang es sofort. Jetzt, da er ihr Schokolade gegeben hatte, schien sie nicht mehr solche Angst vor ihm zu haben. Sie entspannte sich und ließ sich dadurch besser halten.

»Meinst du, wir sind hier bald raus?«, fragte Gregor, als sie aus einem Tunnel hinaus- und in einen neuen hineinsausten.

»Sieh selbst«, sagte Ares.

Gregor leuchtete mit der Taschenlampe in dem Tunnel herum. Auf dem Boden lagen Goldshard, Snare und die dritte Ratte. »Nein! Wieso sind wir denn schon wieder hier?«, stieß er hervor.

»Wie wäre es, wenn du mal sagst, wo es langgeht!«, rief Ares. Gregor merkte, dass Ares mit ihm, der darauf bestanden hatte, den Fluch mitzunehmen, der kein Schwert besaß und im Moment auch sonst zu nicht viel nutze war, allmählich die Geduld verlor.

»Schon gut, schon gut, tut mir leid«, sagte Gregor.

»Es ist unser Geruch, Überländer«, sagte Ares. »Sie können uns mühelos aufspüren. Ich kann sie nicht abschütteln.«

»Hey, ich weiß was!«, sagte Gregor. »Vielleicht können wir sie reinlegen!« Er hatte mal in einem Film gesehen, wie ein Typ ein Rudel Bluthunde abhängte, das ihn verfolgte. »Wir müssen ihre Nasen verwirren.« Aber womit?

Gregor riss sich den Verband vom Arm. Er war durchtränkt von Blut, Eiter und Salbe. »Flieg einmal um den Kegel herum, Ares! Ich muss den Eingang jedes Tunnels berühren.«

Ares befolgte seine Anweisung, wenn ihm der Zweck der Übung auch nicht ganz klar war. »Warum tun wir das?«

Gregor nahm den Verband und wischte ihn im Vorbeifliegen an jedem Tunneleingang ab. »Ich versuche nur, unseren Geruch zu verbreiten.«

Sie flogen die ganze Runde, bis sie an jeder Tunnelöffnung vorbeigekommen waren. Gregor warf den Verband in den letzten Eingang.

»Sie kommen!«, rief Ares warnend.

»Raus hier! Flieg jetzt hier raus!«, sagte Gregor.

Ares tauchte in einen Tunnel ein, den sie noch nicht kannten. Nach etwa dreißig Sekunden hörten sie, dass die Ratten den Kegel erreicht hatten. Und sie waren tatsächlich verwirrt. Jede Ratte hatte eine andere Meinung dazu, welchen Tunnel es zu verfolgen gelte. Schon bald war ein großer Streit im Gange, und dann hörte Gregor Kampfgeräusche.

Die Geräusche wurden immer leiser, je weiter sie wegflogen, bis nichts mehr zu hören war.

Sie flogen im Zickzack in einen Tunnel hinein, und kurz darauf war unter ihnen ein weiter, seichter Bach.

»Ich muss ein wenig verschnaufen … ich muss etwas trinken …« Keuchend landete Ares am Ufer des Bachs. Er tauchte das Gesicht ins Wasser und trank in gierigen Schlucken.

Gregor stieg ab und schöpfte mit den Händen Wasser für sich und den Fluch. Zwar war der Bach nicht tief, doch die Strömung war ziemlich stark und Gregor wollte nicht das Risiko eingehen, dass das Rattenbaby fortgespült wurde.

Ares hob das nasse Gesicht. »Mir kam gerade eine Idee«, sagte er. »Dieser Bach. Was glaubst du, wohin er führt?«

»Ich weiß nicht. Zu einem größeren Bach. Vielleicht mündet er in einen Fluss oder …« Jetzt begriff Gregor, worauf Ares hinauswollte. In seiner allerersten Nacht in Regalia hatte er beim Versuch zu fliehen das Wasser vom Palast aus verfolgt. Es hatte ihn zu einem Fluss geführt, der in den Wasserweg mündete. »Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.«

Gregor stieg mit dem Fluch auf Ares’ Rücken und sie hoben wieder ab.

Zunächst sah es nicht sehr vielversprechend aus. Über den Bach ließ sich vor allem sagen, dass er lang war und genauso viele Biegungen und Windungen hatte wie die Tunnel im Irrgarten. Gregor spürte, wie Ares’ Flügel erlahmten; sehr bald würde er eine richtige Pause einlegen müssen. Doch im Irrgarten anzuhalten bedeutete den sicheren Tod. Die Ratten würden sie garantiert einholen. Gregor hatte kein Schwert. Das Baby würde wieder anfangen zu weinen und dann würden sie …

»Ein Fluss«, sagte Ares außer Atem. »Ganz in der Nähe ist ein Fluss.«

Kurz darauf führte der Bach sie aus dem Tunnel hinaus in eine riesige Höhle. Mitten hindurch floss ein Fluss. Sie waren aus dem Irrgarten heraus!

Ares flog hoch überm Wasser. Der Fluss wurde von Felsklippen gesäumt.

»Gibt’s hier irgendwo Ratten?«, fragte Gregor.

»Nur die eine auf meinem Rücken«, sagte Ares.

»Willst du am Ufer landen und eine Pause machen?«, fragte Gregor.

»Bald. Wenn die Nager in weiterer Ferne sind. Sie werden kommen, Überländer. Wir haben den Fluch«, sagte Ares.

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass die sauer sind«, sagte Gregor. Er streichelte dem Fluch über den Kopf. Die kleine Ratte hatte sich allmählich an ihn gewöhnt. Sie kuschelte sich an ihn und gähnte herzhaft. »Das war ein ziemlich aufregender Tag für dich, was, Kleines?« Es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen.

Eine Weile flogen sie schweigend weiter. Dann sagte Ares mit seltsamer Stimme: »Überländer, ich glaube, ich kenne diesen Ort. Ich glaube, wir kennen ihn beide.«

»Was?«, sagte Gregor. Wie sollte er hier irgendetwas kennen?

»Leuchte mit deinem Lichtstab nach unten«, sagte Ares.

Gregor gehorchte. Unter ihnen war der Fluss, der jetzt sehr breit und stark war. Auf beiden Seiten hingen von den hohen Ufern die Überreste einer zerstörten Brücke herunter.

»Oh«, sagte Gregor. Und die Erinnerung an jenen Tag blitzte vor seinen Augen auf. Wie er über die Brücke gerannt war und versucht hatte, Boots zu holen, wie Ripred ihn an seinem Rucksack hochgehoben hatte, als die Brücke unter ihm Schwindel erregend schwankte, wie er von Ripreds Schwanz zu Boden geschlagen wurde, wie Ripred, Luxa, Henry und Gox auf die Seile einhieben, von denen die Brücke getragen wurde, wie die Rattenbande die Kakerlaken und seine kleine Schwester einholten und … und …

Hier war Tick ums Leben gekommen.

»Du hast Recht«, sagte Gregor. »Wie sind wir denn bloß hier gelandet?«

»Der Humpen, der Irrgarten und die Überreste dieser Brücke liegen alle im Revier der Ratten«, sagte Ares. »Wenigstens haben wir jetzt eine gewisse Vorstellung, wo wir uns befinden.«

Ares flog am Ufer entlang und landete gegenüber der Stelle, an der die Brücke zum Einsturz gebracht worden war. »Auf dieser Seite sind wir sicherer. Für die Ratten dürfte es sehr schwierig sein, durch den Fluss zu schwimmen, der, wie wir wissen, voller Fleisch fressender Fische ist.«

Mit dem leise schnarchenden Fluch im Arm stieg Gregor von Ares’ Rücken. Sie befanden sich am Eingang eines Tunnels. Er leuchtete mit der Taschenlampe über die Felsen ringsherum und erinnerte sich daran, dass sie damals voller Ratten gewesen waren, die ihnen aufgelauert hatten. Jetzt war auf den Felsen niemand zu sehen. »Ist irgendwer im Tunnel?«, fragte er Ares.

Die Fledermaus schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, nicht. Ich glaube, für den Moment sind wir in Sicherheit. Überländer, ich muss rasten.«

Gregor sah, wie Ares die müden Augen zufielen.

»Schlaf du nur, ich halte Wache«, sagte er. »Du, Ares? Du warst echt unglaublich.«

»Ich war nicht schlecht«, stimmte Ares zu und schlief, den Rücken an die Tunnelwand gelehnt, augenblicklich ein.

Gregor ließ den Strahl der Taschenlampe durch den Tunnel schweifen. Falls Eindringlinge kommen sollten, würde er gewappnet sein. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Fluch auf dem Schoß. Die kleine Ratte bewegte sich unruhig im Schlaf, vermutlich verarbeitete sie die traumatischen Erlebnisse der letzten Stunden. Er streichelte ihr über den Rücken, um sie zu beruhigen. Ihr Fell war steif vom Blut ihrer toten Mutter.

Sie schmiegte sich noch enger an ihn. Es erinnerte ihn so sehr daran, Boots im Arm zu halten. Boots. Warum weinte er nicht um sie? In einer Höhle auf der anderen Seite dieses Flusses hatte er um einen Kakerlak geweint, aber für seine Schwester hatte er keine Träne vergossen. Ihm fiel ein, dass Luxa ihm in jener Höhle erzählt hatte, sie habe seit dem Tod ihrer Eltern nicht mehr geweint. So schlimm war es gewesen. Vielleicht erlebte Gregor gerade etwas Ähnliches.

Er zeichnete mit den Fingern eins der weichen Ohren des Rattenbabys nach.

Sandwich hatte also wieder einmal Recht behalten. Die Ratten hatten Boots umgebracht, und er konnte den Fluch nicht umbringen. Allerdings glaubte Gregor, dass er den Fluch auch dann nicht hätte töten können, wenn Boots überlebt hätte. Oder doch? Wenn er geglaubt hätte, nur einer von beiden könnte überleben? Er wusste es nicht. Aber jetzt kam es auch nicht mehr darauf an.

Was jetzt?, dachte er. Was jetzt? Er musste versuchen klar zu denken. Er musste entscheiden, was mit dem Fluch geschehen sollte.

Ins Land der Ratten konnte er ihn nicht zurückbringen. Goldshard hatte beim Versuch, ihn vor den anderen Ratten zu beschützen, ihr Leben gelassen. Doch wenn er mit der kleinen Ratte in Regalia auftauchte, würden die Menschen dort garantiert beschließen, sie zu töten. Sollten sie sie am Leben lassen, was unwahrscheinlich war, würden die Ratten auf jeden Fall die Stadt überfallen, um sie zurückzuholen. Einen kurzen Moment lang überlegte er, ob er sie mit nach Hause nehmen könnte, aber er wusste, dass er seine Mutter nicht dazu überreden konnte, eine drei Meter große Ratte aufzuziehen, vor allem, da Boots …

Na gut, was für eine Möglichkeit blieb ihm also? Eigentlich keine.

Er schaute aufs Wasser.

Es war so ein trauriger Ort. Nicht nur wegen Tick, sondern auch, weil sie damals, auf der ersten Reise, zu zehnt gewesen waren – und wie viele waren von den zehn noch übrig? Drei. Mehr nicht. Tick war hier gestorben. Kurz darauf Henry und Gox. Luxa, Aurora, Temp und die geliebte Boots waren beim Humpen ertrunken. Jetzt waren nur noch er, Ares und Ripred übrig.

Ripred. Der würde ausrasten, wenn er erfuhr, dass Gregor den Fluch nicht getötet hatte. Er wollte die weiße Ratte tot sehen. Deshalb hatte er Twitchtip angeschleppt und Gregor in Ultraschallortung unterrichtet. Aber Ripred hatte auch nicht gewusst, dass der Fluch ein Baby war. Würde das für ihn etwas ausmachen? Vielleicht, ganz vielleicht.

Allmählich nahm in Gregors Kopf ein Plan Gestalt an.

Nach etwa drei Stunden wachte Ares mit einem Bärenhunger auf. Er flog zum Fluss hinunter und kehrte mit einem großen Fisch zurück, der nicht zu der Fleisch fressenden Sorte gehörte. Der Fluch wachte auf und machte sich zusammen mit Ares über den Fisch her, während Gregor den Schimmel von einem Stück Käse kratzte und den letzten Rest Brot aß.

Während sie aßen, platzte Gregor mit seinem Plan heraus. »Hör zu, ich hab eine Idee, was wir mit dem Fluch machen können.«

»Ich höre«, sagte Ares.

»Dieser Tunnel führt doch zurück zu Ripreds Versteck«, sagte Gregor.

»Ja?«, sagte Ares.

»Ja, weißt du nicht mehr? Twitchtip hat gesagt, sein Versteck ist da, wo wir ihn kennen gelernt haben. Und wir haben ihn am anderen Ende dieses Tunnels kennen gelernt«, sagte Gregor.

»O ja, nach dem Kampf gegen die Spinner«, sagte Ares.

»Genau. Deshalb würde ich vorschlagen, wir suchen jetzt Ripred und übergeben ihm den Fluch. Dann soll er sehen, was er damit macht«, sagte Gregor. Ares öffnete das Maul, um zu widersprechen, doch Gregor hob eine Hand. »Moment! Du darfst nur sagen, dass das nicht geht, wenn du einen besseren Plan hast.«

Darauf folgte ein sehr langes Schweigen. »Ich habe keinen besseren Plan, doch dieser wird nicht gut ausgehen«, sagte Ares.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Gregor. »Also, sollen wir es versuchen?«