Aah!« Gregor konnte gerade noch schreien, bevor der Tentakel heftig an seinem Arm riss. Gregor flog über die Bootswand und wäre im Wasser gelandet, wenn er nicht mit einem Stiefel am Rand hängen geblieben wäre. »Ares!« Ein zweiter Ruck zog ihn kopfüber bis zur Taille ins Wasser. Bevor er untertauchte, konnte er noch einmal tief Luft holen. Jetzt glitten auch seine Beine ins Wasser. Er spürte, wie das kalte Wasser über seine Oberschenkel kroch, über die Knie, die Knöchel – oh! Jemand packte seine Füße und zog daran!
Jetzt gab es ein Tauziehen, mit Gregor als Tau. Eine furchtbare Minute lang ging es immer hin und her: Das Vieh zog ihn weiter in die Tiefe und Ares zog ihn wieder heraus. Mit der freien Hand schlug Gregor nach dem Tentakel, aber das schien nicht viel zu nützen. Schließlich schaffte er es, das Gesicht zum Arm zu drehen und die Zähne, so tief er konnte, in den Tentakel zu hauen. Er wusste nicht, ob er das Tier damit ernsthaft verletzt hatte, aber immerhin war es so überrascht, dass es ein wenig locker ließ. Genau in diesem Moment gab es einen großen Ruck und Ares zog den hustenden und japsenden Gregor aus dem Wasser. Eine Weile baumelte er mit dem Kopf nach unten, die Stiefel in Ares’ Klauen, bis Ares ihn losließ. Gregor fiel ins Boot und würgte einen Schwall Wasser aus. Er registrierte schwach, dass es salzig war wie Meerwasser.
»Überländer!«, hörte er Mareth schreien. »Kannst du kämpfen?«
Kämpfen? Gregor rappelte sich auf, und erst als er auf Händen und Knien dahockte, überschaute er die Lage.
Rechts und links schossen Fangarme über die Bootswände und hefteten ihre Saugnäpfe an alles, was sie zu fassen bekamen. Die Besatzung wehrte sich mit allen Mitteln – mit Schwertern, Zähnen, Klauen und Zangen – und versuchte, die Tentakel von den grausigen Wesen dort unten im dunklen Wasser abzutrennen.
»Fang!«, schrie Mareth, und Gregor sah, wie ein Schwert auf ihn zugeflogen kam. Er fing es gerade rechtzeitig auf, um einen Tentakel zu zerschlagen, der sich um seinen Knöchel geschlungen hatte.
Photos Glimm-Glimm und Zack leuchteten auf höchster Stufe. Doch selbst ohne ihre Hilfe hätte Gregor sehen können, denn das Wasser schimmerte in einem unheimlichen phosphoreszierenden Grün. »Tintenfische! Es ist eine Art Tintenfisch!«, rief er.
Die drei Fledermäuse, die überm Wasser flogen, stürzten immer wieder hinab und rissen mit den Klauen an den Angreifern. Mareth und Howard hieben mit Schwertern auf sie ein. Twitchtip war ein Wirbelwind aus Reißzähnen.
»Überländer, deine Schwester!«, warnte Ares.
Gregor fuhr herum und sah Temp, der über der noch schlafenden Boots stand. Der Kakerlak schnappte mit dem Maul nach den Eindringlingen. Viele Tentakel setzte er außer Gefecht, doch es kamen immer neue. Drei erfassten seine Schwimmweste und zogen ihn ins Wasser, sodass Boots ohne Schutz war. Als Ares sich in die Fluten stürzte, um Temp zu retten, schlang sich ein außergewöhnlich großer Fangarm übers Heck.
Gregor sah, wie sich die Saugnäpfe an Boots’ Decke hefteten, und da passierte wieder dasselbe wie in der Arena mit den Blutbällen. Alles um ihn herum verschwamm und es gab nur noch ihn und die Tentakel. Irgendwo waren Stimmen, dumpfe Schläge und leuchtend grünes Wasser, das zu schäumender Gischt geschlagen wurde. Doch im Grunde nahm er nichts wahr als die Angreifer. Sein Schwert legte los – nicht geplant, sondern mit einer instinktiven Präzision und Kraft, die er überhaupt nicht unter Kontrolle hatte. Er zerhackte Tentakel nach Tentakel nach Tentakel und …
»Überländer!« Er hörte Mareths Stimme. »Es ist genug, Überländer!« Er hörte nicht auf.
»Ge-go, nicht hauen! Nicht hauen!« Boots weinte.
Jetzt wurde alles wieder scharf. Gregor stand mitten im Boot. Abgetrennte Tentakel schlängelten sich um ihn herum auf dem Boden. Er keuchte heiser.
Mareth fasste ihn bei der Schulter und rüttelte ihn heftig. »Sie schwimmen weg. Es ist vorüber.«
Gregors Arm zitterte – der Arm, den der Tintenfisch erwischt hatte, nicht der Arm mit dem Schwert. Vier wütende rote Kreise, Abdrücke von Saugnäpfen, zeichneten sich auf seinem Unterarm ab. Gregor triefte vor Schweiß und Meerwasser und Tintenfischschleim.
»Ge-go, nicht hauen! Nach Hause! Boots nach Hause!«, rief Boots hinter ihm.
Er wand sich aus Mareths Griff und sah sie da sitzen, immer noch halb in ihre Decke gewickelt, schluchzend, aber unverletzt. Auch sie war mit Tintenfischdreck bespritzt. Neben ihr saß Temp. Er hatte zwei Beine verloren.
Gregor warf das Schwert weg und nahm Boots ganz fest in die Arme. »Jetzt ist alles wieder gut, Kleines. Alles gut. Nicht weinen.«
»Ge-go, Boots nach Hause. Zu Mama«, schluchzte sie. »Ma-ma! Ma-ma!«
Das rief sie immer, wenn sie ganz und gar verzweifelt war. Wenn sie außer sich war und kein anderer helfen konnte. »Mamaa!«
Gregor ließ sich auf einen Sitz sinken und wiegte sie hin und her, streichelte ihr den Rücken und versuchte sie zu trösten. Wie viel hatte sie gesehen? Hatte sie gesehen, was er getan hatte?
Während er sie auf dem Schoß hatte, kam Howard mit einem Kübel Wasser und wusch ihr den Schleim ab. Irgendwie schaffte er es, sie mit einem albernen Reim über ihre Zehen abzulenken.
»Zehn kleine Zehen
darauf kann Boots gut stehen
einer hat eine Blase
und ärgert meine Nase.«
Bei diesen Worten drückte Howard ihren Fuß an seine Nase, schnupperte an ihren Zehen und machte »Puh!«, als würde er von dem Gestank fast in Ohnmacht fallen.
»Auf zehn kleinen Zehen
kann Boots ins Wasser gehen
und wie durch einen Zauber
sind sie wieder sauber.«
Zwischen den Schluchzern musste Boots lachen, vor allem wenn Howard »Puh!« machte, und schon bald ging sie ganz darin auf, den Reim mitzusprechen. Gregor hatte viel Zeit damit verbracht, seine kleinen Schwestern bei Laune zu halten. Er sah sofort, dass Howard gut mit kleinen Kindern umgehen konnte.
»Hast du dir das ausgedacht?«, fragte er ihn.
»Ja. Für Schimmi. Sie ließ sich immer nur schwer dazu bewegen, sich zu waschen.« Howard wich seinem Blick aus. Plötzlich dachte Gregor, dass er nicht besonders nett zu Howard gewesen war. Er hatte ihn mit Stellovet und den anderen in einen Topf geworfen, aber Howard war nicht einverstanden gewesen, als seine Schwester die gemeine Bemerkung über Henry gemacht hatte. Und er hatte nicht damit geprahlt, dass sein Vater am Quell das Regiment führte.
Sie zogen Boots frische Sachen an und gaben ihr einen Keks. Sie zog ab, um den Reim Temp beizubringen, dem nicht nur Zehen, sondern ganze Beine fehlten.
»Temp, brauchst du einen Verband oder Medizin?«, fragte Gregor.
»Nein. Beine wachsen wieder, Beine wachsen«, sagte Temp. Der Verlust schien ihn nicht besonders aufzuregen.
Photos Glimm-Glimm und Zack waren unverletzt und ganz begeistert über die reichen Tintenfischabfälle im Boot. Für Glühwürmer war Tintenfisch anscheinend die reinste Delikatesse. Die beiden stürzten sich sofort in ein großes Wettessen, das ihnen noch nicht einmal Zeit zum Zanken ließ.
Andromeda und Twitchtip hatten einige Abdrücke von Saugnäpfen, doch Gregor war am schlimmsten dran, weil der Tintenfisch ihn am längsten festgehalten hatte und seine Haut nicht durch Fell geschützt wurde. Als sie sich alle den Schleim abwuschen, sah er, dass aus den geschwollenen roten Kreisen Eiter austrat. Er fühlte sich am ganzen Körper heiß und zittrig.
»Vielleicht hat er mich vergiftet oder so«, sagte Gregor. Da gaben seine Knie plötzlich nach und er lag im Boot. Alles drehte sich. Jemand drückte ihm etwas an die Lippen und befahl ihm zu schlucken. Er gehorchte, und dann verlor er das Bewusstsein.
Er landete in einem Fiebertraum. Darin kämpfte er in sprudelndem, fluoreszierend grünem Wasser mit sich schlängelnden Tentakeln, während abscheuliche Fische ihm wieder und wieder in den Arm bissen. Seine ganze Familie schaute vom Boot aus zu und versuchte ihn zu fassen und in Sicherheit zu bringen. Er schrie Boots zu, sie solle sich wieder ins Boot setzen, doch sie sang immer weiter den Reim von den Zehen. Im Wasser neben ihm tauchte Temp auf und schwamm in seiner Schwimmweste herum. Er riss sich die Beine aus und bot sie Gregor an. Zum Glück sank Gregor irgendwann ins Nichts.
Als er wieder zu sich kam, wusste er, dass viel Zeit vergangen war. Sein Arm war verbunden und pochte schmerzhaft. Es tat weh, die Augen zu öffnen.
Und als er sie öffnete, war er einen Moment lang verwirrt.
Denn da saß im Bug des Boots Luxa und lächelte zu ihm herab.