2. Kapitel

Boots!« Gregor spürte leichte Panik aufkommen. Vor einer Minute war sie noch hier gewesen. Oder? Oder war er so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie die Zeit verging? »Boots!«

Wo konnte sie hingegangen sein? Ins Gebüsch? Auf die Straße? Und wenn jemand sie mitgenommen hatte? »Boots!«

Es war noch nicht mal jemand da, den er hätte fragen können. Mit dem Einbruch der Dunkelheit war der Park wie leer gefegt. Während er sich bemühte, ruhig zu bleiben, versuchte Gregor die Fußspuren zu verfolgen, die sie im Schnee hinterlassen hatte. Aber da waren so viele Fußspuren! Und er konnte kaum etwas sehen!

Plötzlich hörte er ganz in der Nähe einen Hund bellen. Vielleicht hatte der Boots gefunden, oder wenigstens könnte der Besitzer Boots gesehen haben. Gregor rannte durch die Bäume zu einer kleinen Lichtung, die von einer Laterne etwas erhellt wurde. Ein quirliger kleiner Terrier lief ständig im Kreis um einen Stock herum und kläffte, was das Zeug hielt. Immer wieder nahm er den Stock ins Maul, schüttelte ihn und ließ ihn fallen, um dann wieder sein wildes Gekläff anzustimmen.

Eine hübsche Frau im Winter-Joggingdress kam angelaufen. »Petey! Petey! Was machst du denn da?« Sie hob den Hund hoch und schüttelte im Weitergehen zu Gregor gewandt den Kopf. »Tut mir leid, der spinnt manchmal ein bisschen.«

Aber Gregor antwortete nicht. Er starrte auf den Stock oder auf das, was er für einen Stock gehalten hatte. Er war glatt und schwarz glänzend. Gregor hob ihn auf und brach ihn entzwei. Das sah nicht aus wie ein Stock. Sondern wie ein Bein. Ein Insektenbein. Von einem Riesenkakerlak …

Schnell schaute er sich im Park um. Als sie im Sommer aus dem Unterland zurückgekehrt waren, waren sie durch mehrere Tunnel gereist, die zum Central Park führten. In der Nähe der Straße waren sie herausgekommen, es hatte ganz ähnlich ausgesehen wie hier.

Da, auf dem Boden. Diese große Steinplatte. Die war vor nicht langer Zeit bewegt worden – das sah man an den Spuren im Schnee – und dann wieder zurückgeschoben worden. Etwas Rotes klemmte unter dem Rand der Platte. Gregor zog es heraus. Es war Boots’ Handschuh.

Die Riesenkakerlaken aus dem Unterland hatten Boots angebetet. Sie hatten sie Prinzessin genannt und ihr zu Ehren einen besonderen rituellen Tanz aufgeführt. Und jetzt hatten sie sie direkt vor seiner Nase entführt.

»Boots …«, sagte er leise. Aber er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte.

Er holte sein Handy aus der Tasche. Eigentlich konnten sie sich kein Handy leisten, aber nachdem drei Mitglieder ihrer Familie auf mysteriöse Weise verschwunden waren, hatte seine Mutter darauf bestanden, dass sie sich eins anschafften. Er rief zu Hause an. Sein Vater ging an den Apparat.

»Dad? Hier ist Gregor. Hör mal, es ist was passiert. Was Schlimmes. Ich bin im Central Park, da, wo wir im Sommer wieder rausgekommen sind, und die Kakerlaken, du weißt schon, die Riesenkakerlaken, die waren hier und haben Boots mitgenommen. Ich hab nicht gut genug auf sie aufgepasst, es ist meine Schuld und … ich muss wieder runter!« Gregor wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte.

»Aber … Gregor …« Sein Vater klang verwirrt und ängstlich. »Du kannst doch nicht …«

»Ich muss, Dad. Sonst sehen wir sie vielleicht nie wieder. Du weißt doch, wie verrückt die Kakerlaken nach ihr sind. Hör zu. Diesmal soll Mom nicht die Polizei rufen. Die können sowieso nichts machen. Wenn ich nicht gleich zurückkomme, erzähl den Leuten, wir haben die Grippe oder so, ja?«

»Gregor, bleib, wo du bist. Ich komme mit. Ich bin so schnell wie möglich bei dir«, sagte sein Vater. Gregor hörte, wie er stöhnte, als er versuchte sich aufzurappeln.

»Nein, Dad! Nein, das schaffst du nie. Du kommst ja nicht mal bis zur nächsten Straßenecke!«, sagte Gregor.

»Aber ich … aber ich kann dich doch nicht …« Gregor hörte, wie sein Vater anfing zu weinen.

»Mach dir keine Sorgen. Ich schaff das schon. Ich war ja schon mal da unten. Aber jetzt muss ich los, Dad, sonst hole ich sie nicht mehr ein.« Gregor keuchte beim Versuch, die Steinplatte zur Seite zu schieben.

»Gregor? Hast du Licht?«, fragte sein Vater.

»Nein!«, sagte Gregor. Das war in der Tat ein Problem. »Warte, doch! Ja!« Mrs Cormaci hatte ihm eine Minitaschenlampe geschenkt für den Fall, dass es mal einen Stromausfall geben sollte, wenn er mit der U-Bahn unterwegs war. Er hatte sie an seinem Schlüsselbund befestigt. »Ich hab eine Taschenlampe. Dad, ich muss jetzt los.«

»Ich weiß, mein Junge. Gregor … Ich hab dich lieb.« Die Stimme seines Vaters zitterte. »Pass auf dich auf, ja?«

»Mach ich. Ich hab dich auch lieb. Bis bald, ja?«, sagte Gregor.

»Bis bald«, flüsterte sein Vater heiser.

Und dann ließ Gregor sich in das Loch hinab. Er steckte das Handy ein und holte das Schlüsselbund heraus. Als er die kleine Taschenlampe einschaltete, war er überrascht, wie viel Licht sie spendete. Er schob den Steindeckel wieder über die Öffnung und ging eine lange steile Treppe hinunter.

Unten angekommen, blieb er stehen und schloss einen Moment lang die Augen. Er versuchte sich den Weg zu vergegenwärtigen, der ihn im Sommer hierher geführt hatte. Sie waren geflogen, auf dem Rücken einer großen schwarzen Fledermaus namens Ares, mit der er verbunden war. Im Unterland konnten ein Mensch und eine Fledermaus einen Bund schließen, indem sie sich mit einem ganz bestimmten Eid schworen, einander auch in der schlimmsten Notlage beizustehen.

Ares hatte Gregor, seinen Vater und Boots aus dem Unterland zurückgeflogen, sie unten an der Treppe abgesetzt und war dann weitergeflogen nach … rechts! Gregor war sich ziemlich sicher, dass Ares nach rechts geflogen war, also lief er in diese Richtung.

Der Tunnel war kalt und dunkel und verlassen. Er war von Menschen erbaut worden – von richtigen Menschen, nicht von den lilaäugigen blassen Unterländern, die er tief unter der Erde kennen gelernt hatte –, doch die New Yorker hatten ihn bestimmt schon lange vergessen.

Der Schein seiner Taschenlampe fing eine Maus ein, zu Tode erschrocken huschte sie davon. Hier unten kam niemals Licht hin. Hier kamen keine Menschen her. Was hatte er hier unten zu suchen?

Ich fasse es nicht, dachte Gregor. Ich fasse es nicht, dass ich dorthin zurückkehren muss! Zurück in das seltsame dunkle Land der Riesenkakerlaken und Spinnen und, was das Schlimmste war, Ratten! Die Vorstellung, eins von diesen ein Meter achtzig großen Wesen mit den Reißzähnen und dem fiesen Grinsen zu sehen, versetzte ihn in Angst und Schrecken.

Und wie es erst für seine Mutter sein musste.

Im Sommer, als sie schließlich eines Nachts nach Hause gekommen waren, war sie ausgerastet. Erst tauchen ihre beiden verschwundenen Kinder mit dem verschwundenen Vater auf, der sich kaum auf den Beinen halten kann, und dann erzählen sie ihr auch noch eine verrückte Geschichte über ein Land meilenweit unter der Erde.

Gregor wusste, dass sie ihnen zuerst nicht geglaubt hatte. Wohl niemand hätte ihnen geglaubt. Aber Boots’ Geplapper konnte sie nicht einfach abtun.

»Goße Käfer, Mama! Goße Käfer lieb! Reiten!«, hatte Boots gesagt und war dabei vergnügt auf dem Schoß ihrer Mutter herumgehüpft. »Ich auf Federmaus fliegt. Ge-go auch.«

»Hast du eine Ratte gesehen, Süße?«, sagte ihre Mutter leise.

»Ratte schlecht«, sagte Boots stirnrunzelnd. Und Gregor erinnerte sich daran, dass mit denselben Worten die Kakerlaken die Ratten beschrieben hatten. Sie waren schlecht. Sehr schlecht. Jedenfalls die meisten …

Sie hatten ihre Geschichte dreimal erzählt, während ihre Mutter ihnen hunderttausend Fragen gestellt hatte. Sie hatten ihr die eigenartigen Unterlandkleider gezeigt, die von den riesigen Spinnen dort gewebt worden waren. Und dann war da noch Gregors Vater, weißhaarig, zitternd und ausgezehrt.

Bei Tagesanbruch hatte sie sich entschlossen, ihnen zu glauben. Und keine Minute später war sie unten im Wäschekeller und tat dort mit Nägeln, Schrauben und Klebstoff alles, um den Schacht, durch den sie gefallen waren, zu verschließen. Zusammen mit Gregor schob sie einen Wäschetrockner näher heran. Gerade so nah, dass es nicht auffiel, dass aber auch niemand hingehen und den Schacht wieder öffnen konnte.

Dann erklärte sie den Wäschekeller für tabu. Keiner von ihnen durfte jemals wieder dort runter. Von jetzt an musste Gregor ihr einmal in der Woche helfen, die Wäsche drei Straßen weiter zu einem Waschsalon zu schleppen.

Aber an den Eingang im Central Park hatte seine Mutter nicht gedacht und er selbst ebenso wenig – bis heute.

Als der Tunnel sich gabelte, zögerte er einen Augenblick, dann lief er nach links in der Hoffnung, dass es der richtige Weg war. Allmählich veränderte sich der Tunnel. Statt aus Backstein waren die Wände jetzt aus Naturstein.

Gregor ging noch eine letzte Treppe hinunter. Sie war in Naturstein gehauen und sah sehr alt aus. Er nahm an, dass sie vor Hunderten von Jahren von den Menschen erbaut worden war, die tief in die Erde hinabgestiegen waren, um eine neue Welt zu gründen.

Die Tunnel wurden jetzt immer kurviger und gewundener, und Gregor verlor schon bald die Orientierung. Was wäre, wenn er sich in diesem Tunnellabyrinth völlig verirrte, während die Kakerlaken Boots in eine ganz andere Richtung schleppten? Wenn er an der Treppe in die falsche Richtung gelaufen war … wenn … nein, da! Der Schein seiner Taschenlampe fiel auf etwas Rotes, und Gregor hob Boots’ zweiten Handschuh vom Boden auf. Sie verlor sie andauernd. Zum Glück.

Im Weiterlaufen spürte Gregor ein Knirschen unter den Füßen. Als er mit der Taschenlampe über den Boden leuchtete, sah er, dass er mit ganz vielen verschiedenen kleinen Insekten bedeckt war, die, so schnell sie konnten, durch den Tunnel krabbelten.

Während er stehen blieb, um sich das Ganze genauer anzusehen, huschte etwas über seinen Stiefel. Eine Maus. Zahllose Mäuse flitzten an ihm vorbei. Und dort an der Wand – hatte er da nicht gerade ein maulwurfartiges Tier gesehen? Der ganze Boden wimmelte von kleinen Viechern, die in wilder Panik in dieselbe Richtung liefen wie Gregor. Sie kämpften nicht miteinander. Sie rannten nur, genauso wie die Tiere, die er mal in einem Nachrichtenbeitrag über einen Waldbrand gesehen hatte. Vor irgendetwas hatten sie Angst. Aber wovor?

Gregor leuchtete mit der Taschenlampe hinter sich und dort war die Antwort. Etwa fünfzig Meter entfernt sah er zwei Wesen, die auf ihn zugerast kamen. Ratten – die Unterlandsorte.