Gregor öffnete die Hand, das Schwert fiel zu Boden. Es leuchtete von der roten Flüssigkeit, die zwar kein Blut war, aber genauso aussah. Als Gregor sich mit der Hand übers T-Shirt fuhr, hinterließ er einen großen roten Fleck. Auf einmal wurde ihm übel.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging weg von dem Schwert, weg von den Blutbällen und den Unterländern, die jetzt aufgeregt durcheinander redeten. Offenbar hatte seine Tat sich schon in der Arena herumgesprochen, denn jetzt kamen auch aus anderen Ecken Leute zu den Kanonen gelaufen. Er spürte schon, wie sie ihn bedrängten, und irgendjemand, vielleicht Mareth, rief seinen Namen. Gregor bekam kaum noch Luft.
Plötzlich stand Ares vor ihm. »Ich kann dich fortbringen«, sagte er nur.
Ohne zu überlegen, stieg Gregor auf Ares’ Rücken und sie hoben ab. Als sie aus dem Stadion flogen, hörte Gregor mehrere Leute nach ihm rufen, aber Ares ließ sich nicht beirren. Sie flogen nicht in Richtung Regalia, sondern in die Tunnel in der entgegengesetzten Richtung.
»Du wirst Licht haben wollen«, sagte Ares. Er neigte sich zu einer Reihe Fackeln an der Tunnelwand, und Gregor schnappte sich eine. Im Schein der Fackel glänzte seine Hand feucht und rot. Er wandte den Blick ab.
Ares tauchte in einen Seitentunnel ein, der sich immer weiter gabelte. Schließlich kamen sie zu einem kleinen unterirdischen See, der von unzähligen Höhlen umgeben war. Ares flog in eine Höhle mit schmalem Eingang. Drinnen öffnete sich die Höhle weit. Große Kristallgebilde wuchsen von der hohen Decke herab. Gregor ließ sich von Ares’ Rücken auf den Steinboden gleiten.
Er presste die Stirn an die Knie und blieb so sitzen, bis er wieder normal atmen konnte. Was war in der Arena geschehen? Wie hatte er es geschafft, alle fünfzehn Bälle zu treffen? Als er mit Mareth geübt hatte, war nichts Ungewöhnliches passiert, aber als diese Blutbälle auf ihn zugeflogen waren …
»Hast du das gesehen? Hast du gesehen, was ich gemacht habe?«, fragte er Ares. Er hatte während des Unterrichts einige Fledermäuse in der Arena herumfliegen sehen, aber Ares war ihm nicht aufgefallen.
Die Fledermaus saß einen Augenblick reglos da und sagte dann: »Du hast alle Blutbälle aufgestochen.«
»Ich hab sie alle getroffen«, sagte Gregor und versuchte immer noch, sich daran zu erinnern. »Dabei weiß ich noch nicht mal, wie man mit einem Schwert umgeht.«
»Wie es scheint, lernst du schnell«, sagte Ares, und darüber musste Gregor ein bisschen lachen. Er schaute sich in der Höhle um. Es gab Essensvorräte, Decken und Fackeln.
»Was ist das hier? Dein Versteck?«
»Ja, mein Versteck«, sagte Ares. »Und früher einmal war es auch Henrys. Wir pflegten herzukommen, wenn wir nicht in Gesellschaft anderer sein wollten. Heutzutage ist es weniger mein Versteck denn mein Zuhause.«
Erst nach einer Weile begriff Gregor, was das bedeutete. »Dann lebst du also nicht mehr mit den anderen Fledermäusen zusammen? Ich dachte, dadurch, dass ich mich mit dir verbunden hab, wär alles vergessen – die Geschichte mit Henry und so.«
»Es bewahrte mich vor der offiziellen Verbannung. Doch niemand außer Aurora und Luxa spricht mit mir«, sagte Ares.
»Nicht mal Vikus?« Für einen Moment vergaß Gregor seine eigenen Probleme.
»Ja, doch, Vikus. Aber Vikus spricht mit jedem«, sagte Ares ohne große Begeisterung.
Gregor hatte keine Ahnung gehabt, dass Ares in einer so schlimmen Lage war. Wenn er auch nicht physisch verbannt worden war, so war er doch aus seiner Welt verstoßen worden. Und dann war Gregor aufgetaucht und hatte ihn nur herumkommandiert. »Hör mal, das gestern tut mir echt leid«, sagte er. »Ich war sauer und außer mir vor Sorge um Boots, und das hab ich an dir ausgelassen.«
»Ich war auch erbost vieler Dinge wegen, die wenig mit dir zu tun hatten«, sagte Ares.
Damit war der Streit beigelegt. Trotzdem war Ares für Gregor immer noch ein Fremder.
»Wie bist du überhaupt an Henry geraten?«, platzte es aus ihm heraus. Es war vielleicht nicht sehr höflich, danach zu fragen, aber Gregor wollte es unbedingt wissen.
»Henry erwählte mich, weil ich wild war und dafür bekannt, dass ich vielen Regeln meines Landes trotzte. Ich erwählte Henry, weil ich mich geschmeichelt fühlte, weil er königlicher Abstammung war und weil ich wusste, dass ich unter seinem Schutz von vielen Vergehen freigesprochen werden würde«, sagte Ares. »Es war nicht alles nur schlecht. Wir flogen gut zusammen und teilten viele Vorlieben. In vielerlei Hinsicht passten wir zusammen. Nur in einer nicht.«
Dann war Ares unter den Fledermäusen also eine Art Rebell gewesen. Kein Wunder, dass Henry sich so einen ausgesucht hatte. Gregor hatte sich für Ares entschieden, weil er alles aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm das Leben zu retten – aber hätte er ihn auch unter weniger spektakulären Umständen erwählt? Er wusste es nicht.
Vom Eingang der Höhle her war ein Rascheln zu hören, und Aurora kam mit Luxa hereingeflogen.
»Wir wussten, dass wir dich hier finden würden!«, rief Luxa. Sie sprang von Auroras Rücken, klatschte in die Hände und tanzte fast über den Boden. »War das nicht herrlich? Habt ihr das gesehen? Habt ihr Stellovets Gesicht gesehen?«
»Als hätte sie in eine Zitrone gebissen«, schnurrte Aurora, offenbar auch bester Laune.
»Warum?«, fragte Gregor.
»Warum? Wegen dir und der Blutbälle!«, sagte Luxa, als wäre er etwas beschränkt. »Sie wollte dich zum Gespött machen, und stattdessen hast du sie alle auf einen Streich getroffen! Noch fast niemand hat das vollbracht, Gregor! Es war großartig!«
Erst jetzt war Gregor auch ein kleines bisschen stolz auf seine Leistung. Er hatte vielleicht überreagiert, weil die Sache so blutig ausgesehen hatte. Vielleicht hatte er in Wirklichkeit etwas richtig Cooles gemacht, wie beim Poolbillard den Tisch abzuräumen oder den Ball beim Baseball so zu werfen, dass der Schlagmann ihn nicht trifft. »Echt?«, sagte er.
»O ja! So verstimmt habe ich Stellovet seit dem Picknick nicht mehr gesehen!«, sagte Luxa und kicherte, als sie daran dachte.
Beide Fledermäuse machten »höh, höh, höh«, und es dauerte einen Moment, bis Gregor begriff, dass sie lachten.
»Ach Gregor, das hättest du erleben müssen. Vikus hat uns alle zu einem Picknick mit meinen Verwandten vom Quell gezwungen, weil er hoffte, wir könnten dabei unseren Zwist beilegen. Doch Stellovet gab die ganze Zeit vor, Ratten zu hören, um Nerissa zu ängstigen. Da hat Henry sie dazu gebracht, Mottenkokons zu essen. Den ganzen Nachmittag hat sie sich die Seide aus den Zähnen gepult und gesagt: ›Dath werde ich euch nie vergethen!‹« Es hörte sich tatsächlich so an, als hätte Luxa lauter Fusseln im Mund.
»Sie hat Mottenkokons gegessen? Wie hat er das denn geschafft?«, fragte Gregor gleichzeitig belustigt und angeekelt.
»Er erzählte ihr, sie seien eine Köstlichkeit, die Mitgliedern der königlichen Familie vorbehalten sei, deshalb könne er ihr nichts davon anbieten. Natürlich stahl sie sich eine Hand voll und stopfte sie sich in den Mund«, sagte Luxa.
»Henry konnte ihr alles vormachen«, sagte Ares, gefolgt von noch mehr Höh-höh-höhs. Doch plötzlich erstarb sein Lachen. »Er konnte uns allen alles vormachen.«
Es war, als würde sich eine dunkle Wolke auf Luxa und die beiden Fledermäuse senken. Ihnen hatte Henry noch viel übler mitgespielt als Stellovet.
»Henry mag sich in vielem getäuscht haben, in unseren Verwandten vom Quell hat er sich nicht getäuscht«, sagte Luxa grimmig. »Insbesondere Stellovet. Sie sähe Nerissa und mich am liebsten tot, denn sie glaubt, dann würde Vikus König werden und sie als seine Enkelin wäre Prinzessin.«
Eine Weile schwiegen alle, dann stimmte Aurora optimistischere Töne an. »Gregors Meisterleistung wird dir nützen, Ares.«
»Das wird sich zeigen«, sagte Ares.
»Ganz gewiss. Es wird dir nicht schaden, mit jemandem verbunden zu sein, der alle Bälle auf einen Streich trifft«, sagte Luxa. »Niemand wird es jetzt noch wagen, dich zu schneiden.«
Gregor hoffte, dass sie Recht hatte. So, wie es war, erschien ihm Ares’ Leben nicht besonders lebenswert.
Plötzlich ließen Ares und Aurora die Köpfe hochfahren. Luxa lauschte einen Moment und sprang dann auf Auroras Rücken. Keine Sekunde später waren sie verschwunden.
Gregor hörte in der Ferne etwas, das so klang, als würde ein Horn geblasen. Es klang hoch und klagend. »Was ist das?«
»Es ist eine Warnung, Überländer. Du solltest lieber aufsteigen«, sagte Ares.
Gregor schnappte sich eine Fackel und schwang ein Bein über Ares’ Nacken. Im Nu waren sie in der Luft.
»Warnung? Was für eine Warnung?«, fragte er, als sie über den See flogen.
Ares antwortete mit ruhiger Stimme, doch seine Muskeln waren angespannt. »Es bedeutet, dass die Ratten in Regalia eingefallen sind.«