Zu Ge-go gehn«, sagte Boots zu Temp und schlug mit den Fersen gegen seinen Panzer. Gehorsam trug der Kakerlak sie zu Gregor hinüber. Sie ließ sich von Temps Rücken gleiten, lief zu Gregor hin und umarmte sein Bein.
»Hallo, Boots«, sagte er und wuschelte ihr durch die Locken. »Wo warst du?«
»Ich reitet! Schnell! Schnell reitet!«, sagte sie.
»Kennst du Vikus noch?«, fragte Gregor mit einer Handbewegung.
»Hallo! Hallo, du!«, sagte Boots fröhlich.
»Willkommen, Boots«, sagte Vikus. »Wir haben dich vermisst.«
»Hallo, Federmaus«, sagte Boots und winkte Ares zu, obwohl Gregor ihn nicht beachtet hatte.
»Hallo, Temp«, sagte Gregor zu dem Kakerlak. »Könntest du nächstes Mal vielleicht Bescheid sagen, bevor du dich mit Boots aus dem Staub machst? Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt.«
»Hasst uns, der Überländer, hasst uns?«, fragte Temp.
Na super, jetzt fühlte er sich auf den Schlips getreten. Die Kakerlaken waren so dünnhäutig. Oder besser dünnpanzrig. »Ach was, ich hasse euch nicht. Ich hatte nur Angst, als ihr Boots mitgenommen habt. Ich wusste ja nicht, wo sie war«, sagte Gregor.
»Sie war bei uns, war sie«, sagte Temp verwirrt.
»Ja, ich weiß. Jetzt weiß ich es. Aber im Park wusste ich es nicht«, sagte Gregor. »Ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Hasst uns, der Überländer, hasst uns?«, wiederholte Temp.
»Nein! Ihr sollt mir nur Bescheid sagen, wenn ihr Boots mitnehmt«, sagte Gregor. Temp ließ sichtlich die Fühler hängen. Dieses Gespräch führte zu nichts. Gregor versuchte es anders. »Aber weißt du was, Temp? Vielen Dank, dass ihr Boots vor den Ratten gerettet habt. Das war toll.«
Das heiterte Temp auf. »Ratte schlecht«, sagte er überzeugt.
»Ja«, sagte Gregor. »Ratte sehr schlecht.«
In diesem Moment erschien Luxa in der Tür. Ihr silberblondes Haar war ein bisschen länger geworden und Luxa war etwas gewachsen, aber Gregor fielen vor allem die lila Ringe unter ihren violetten Augen auf. Er war nicht der Einzige, der in der letzten Zeit viel durchgemacht hatte.
»Willkommen, Gregor der Überländer«, sagte Luxa und kam auf ihn zu, ohne ihn jedoch zu berühren.
»Hi, Luxa, wie geht’s?«, fragte Gregor.
Sie hob zerstreut die Hand und fasste kurz an das goldene Band, das sie um den Kopf trug. Beinahe, als wollte sie es wegschieben. »Gut, mir geht es gut.«
Es ging ihr nicht gut. Man sah sofort, dass sie nicht genug Schlaf bekam. Sie sah nicht glücklich aus. Aber sie hatte immer noch diese arrogante Kopfhaltung und dieses halbe Lächeln. Sie stand immer noch da wie eine Königin. »Nun bist du also doch zurückgekommen.«
»Ich hatte keine Wahl«, sagte Gregor.
»Nein«, sagte Luxa unbewegt. »Wir beide scheinen selten eine Wahl zu haben. Seid ihr hungrig?«
»Ich Hunger, ich Hunger!«, sagte Boots.
»Wir haben nichts zum Abendbrot gegessen«, sagte Gregor, obwohl er so einen Knoten im Bauch hatte, dass er keinen Hunger verspürte.
»Ihr müsst ein Bad nehmen, zu Abend essen und dann schlafen. Solovet sagt, du musst morgen mit dem Unterricht beginnen«, sagte Luxa.
»Sagt sie das?«, fragte Vikus mit leiser Überraschung in der Stimme.
»Ja. Hat sie dir das nicht erzählt?«, sagte Luxa und warf Vikus einen spöttischen Blick zu, auf den er nicht reagierte. Sie hatten ein komisches Verhältnis. Vikus war Luxas Großvater, aber da ihre Eltern von den Ratten umgebracht worden waren, war Vikus auch eine Art Vaterersatz für sie. Und er sollte auf Luxa aufpassen und sie darauf vorbereiten, ihres Amtes als Königin von Regalia zu walten, sobald sie sechzehn war. Gregor stellte es sich kompliziert vor, wenn man so viel Verschiedenes füreinander war.
»Wir sehen uns auf dem Feld, Gregor, Ares«, sagte Luxa und ging.
Zwei Unterländer, die Gregor noch nie gesehen hatte, führten ihn und Boots zum Waschraum. Eine junge Frau nahm Boots mit in die Umkleidekabine für Frauen, während ein junger Mann Gregor zur anderen Seite geleitete.
Nach dem Bad rannte Gregor triefnass und nur mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Waschraum und bat den jungen Mann, seine und Boots’ Kleider nicht zu verbrennen. Ares hatte Recht, es war üblich, die Kleider ins Feuer zu werfen, aber Gregor dachte daran, wie teuer es sein würde, sie zu ersetzen. Und die Stiefel wollte er auf keinen Fall verlieren.
»Aber … eure Kleider riechen sehr stark. Die Nager werden merken, dass ihr hier seid«, sagte der Mann unsicher.
»Das macht nichts. Ich meine, die wissen sowieso schon, dass ich hier bin. Zwei Ratten haben mich bis zum Wasserweg verfolgt«, sagte Gregor. »Also, könnten Sie nicht … ich weiß nicht, vielleicht könnten Sie die Sachen ins Museum bringen oder so. Da ist doch lauter Überländer-Zeug, oder?«
Erleichtert über den Vorschlag ging der Mann davon, um Vikus zu fragen.
Es gab ein großes Essen: Rinderschmorbraten, Brot, Pilze, die Dinger, die Gregor an Süßkartoffeln erinnerten, und eine Art Kuchen. Boots aß mit großem Appetit, was Gregor daran erinnerte, dass sie den ganzen Tag kaum mehr als ein Schälchen Haferbrei und ein Brot mit Erdnussbutter gegessen hatte. Immerhin konnte der Rest der Familie heute Abend das Kartoffelgratin essen. Falls sie überhaupt etwas herunterbekamen.
Das alles war seine Schuld. Wenn er besser auf Boots aufgepasst hätte, hätten die Kakerlaken sie nicht entführen können. Aber dann hätten die Ratten sie womöglich zu fassen bekommen. Er musste wohl allen hier unten dankbar dafür sein, dass sie Boots gerettet hatten, und einerseits war er das auch. Andererseits nahm er es ihnen übel, dass sie ihn wieder in ihre gefährliche Welt gezogen hatten. Was hatte Vikus noch gesagt? »… da unsere Schicksale miteinander verwoben sind, bla, bla, bla, bla.« Er wollte davon nichts wissen, aber jetzt war er hier. Schon wieder.
Boots war eingeschlafen, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt hatte, doch Gregor war unruhig und angespannt. Er konnte nicht einschlafen, weil er an seine Familie dachte, an die Bedrohung für Boots und die riesige weiße Ratte, die irgendwo auf ihn lauerte. Schließlich gab er es auf und beschloss, ein wenig im Palast herumzulaufen. Es dürfte niemand etwas dagegen haben, schließlich versuchte er diesmal nicht zu fliehen.
Die Eingänge, an denen er vorbeikam, schienen zu den Wohnräumen der Unterländer zu führen. Die öffentlichen Räume wie die Hohe Halle und die Speisesäle waren frei zugänglich. Doch auf Gregors Flur waren die meisten Räume durch Vorhänge vor Einblicken geschützt. Türen aus Stein waren wohl unpraktisch, und die einzige Holztür, die er im Unterland je gesehen hatte, führte zu dem Raum mit Sandwichs Prophezeiungen.
Gregor war etwa zehn Minuten herumgelaufen, als er aus einem Raum Stimmen hörte. Durch den Vorhang klangen sie etwas gedämpft, aber sie waren doch zu hören, weil sich zwei Leute stritten. Es waren Vikus …
»Du hättest mit mir über den Unterricht sprechen sollen. Dabei hätte ich gerne ein Wort mitzureden!«
Und mit wem sprach er?
»Jaja, wir hätten wieder und wieder und wieder darüber sprechen können, während du überlegst, wie du ihn beschützen kannst, doch das ist unmöglich. Es ist ganz gleich, was du willst.«
Das klang nach Solovet. Sie war Vikus’ Frau, Luxas Großmutter und die Anführerin der Armee Regalias. Normalerweise sprach sie sanft und würdevoll. Aber in der Schlacht hatte Gregor sie auch mit schneidender Stimme Befehle erteilen hören. Solovets Gabe, zwischen freundlicher Dame und Soldat hin- und herzuwechseln, verunsicherte ihn, weil er nie wusste, mit wem er es gerade zu tun hatte. Jetzt im Moment klang sie mehr nach dem Soldaten.
Gregor wollte nicht lauschen, deshalb wandte er sich ab, um sich fortzustehlen. Doch dann hörte er seinen Namen und musste einfach zuhören.
»Und ist es auch gleich, was Gregor will? Hat er nicht ein Wörtchen mitzureden? Er hat das Schwert von sich geschoben, Solovet. Er möchte nicht kämpfen«, sagte Vikus.
»Niemand von uns möchte kämpfen, Vikus«, sagte Solovet.
Vikus machte so etwas wie »hm«, als wollte er andeuten, dass da jemand im Raum war, der sehr wohl Spaß am Kämpfen hatte.
»Niemand von uns möchte kämpfen«, wiederholte Solovet eisig, »doch wir tun es alle. Und schließlich wird Gregor in der Prophezeiung ›der Krieger‹ genannt. Nicht ›der Friedensstifter‹.«
»Ach, die Prophezeiungen sind oftmals irreführend. Er wird Krieger genannt, doch vielleicht sind seine Waffen andere als die uns vertrauten. Beim letzten Mal hat er sich sehr gut ohne gewöhnliche Waffen geschlagen«, sagte Vikus. »Ich sage dir, er hat Sandwichs Schwert weggeschoben!«
»Ja, als er sich in Sicherheit und im Glauben wähnte, es sei alles überstanden. Doch ich entsinne mich, dass er auf der Reise um ein Schwert bat«, entgegnete Solovet.
»Aber er brauchte es nicht. Ich glaube, er hatte es leichter ohne Schwert«, sagte Vikus.
»Und ich glaube, wenn du ihn diesmal unbewaffnet ziehen lässt, schickst du ihn in den Tod«, sagte Solovet.
Dann war es still.
So schnell wie möglich stahl Gregor sich zurück in sein Zimmer.
Der wenige Schlaf, den er in dieser Nacht bekam, war voller verstörender Träume.