38. Kapitel
Fritzi hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und ich ließ ihn so schnell galoppieren, wie er wollte. Auf dem Weg zur Wiese hatte ich mit allem gerechnet, aber garantiert nicht damit. War es wirklich erst anderthalb Stunden her, dass ich hier entlanggeritten war und geglaubt hatte, Tim wollte mich nicht mehr sehen? Jetzt war alles anders. Mein Herz sang vor Freude, ich fühlte mich ganz leicht und so wahnsinnig glücklich, wie ich es noch nie in meinem Leben gewesen war. Tim liebte mich! Er hatte mich zwei Mal geküsst! Er hatte eine Kette für mich gekauft, den Anhänger gravieren lassen und alles extra eingepackt! Es war einfach wundervoll.
Melike fiel mir ein. Ich musste sie gleich anrufen und ihr alles erzählen. Oder vielleicht fast alles.
Viel schneller als erwartet hatte ich den Amselhof erreicht. Es wurde schon dunkel, als ich den Weg zwischen Spring- und Dressurplatz Richtung Stall entlangtrabte. Und dann machte mein Herz einen Satz. Am hinteren Stall stand der kleine Lkw, mit dem Papa heute Lagunas weggebracht hatte, und dahinter stand Mamas Golf. Ich parierte durch und saß ab. Papa hatte mich wohl kommen sehen, denn er kam aus dem Stall.
»Elena!«, rief er. »Komm mal her!«
»Ich bringe Fritzi noch schnell weg«, erwiderte ich.
»Wohin denn?« Papa grinste. »Er steht doch jetzt in Lagunas’ Box.«
Er schob das Stalltor weit auf und ich führte Fritzi hinein.
Und da war auch Mama! Sie lächelte. Ich ließ Fritzis Zügel los und warf mich überglücklich in ihre Arme.
Papa brachte Fritzi in die große Box, in der bis heute Morgen Lagunas gestanden hatte.
»Ich freu mich so, dass du wieder da bist, Mama«, flüsterte ich. »Es war ganz schrecklich ohne dich!«
Mama umarmte mich ganz fest. »Ich freue mich auch«, antwortete sie leise. »Papa hat mir erzählt, was du alles zu ihm gesagt und was du getan hast. Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz.«
Sie ließ mich los und strich mir über die Haare. Obwohl sie lächelte, glänzten ihre Augen feucht.
Mein Blick fiel auf Christian, der mit mürrischem Gesicht und verschränkten Armen an der Tür der Sattelkammer lehnte.
»Habt ihr’s bald?«, fragte er nur.
Ich wusste, dass ihm das, was in den letzten Tagen geschehen war, absolut nicht passte. In seinen Augen war ich eine talentfreie Ponyreiterin und urplötzlich hatte ich sogar ein Berittpferd und auch noch Fritzi, den er immer einen lahmen Zossen genannt hatte.
»So«, sagte Papa, der mit Fritzis Sattel und Trense aus der Box kam. »Den Rest kannst du machen.«
»Klar.« Ich strahlte.
Papa ging zu Mama und legte ihr einen Arm um die Schulter. Er gab ihr einen Kuss und mein Herz machte einen Satz. Ich hatte schon oft gesehen, wie meine Eltern sich küssten, aber seit heute Nachmittag wusste ich auch, wie sich das anfühlte.
»Beeilt euch ein bisschen«, sagte Papa im Weggehen zu Christian und mir. »Lajos kommt später zum Abendessen.«
Papa und Mama verschwanden händchenhaltend.
»Lajos«, schnaubte Christian verächtlich. »Pah!«
»Du kannst doch froh sein, dass Lajos Lagunas gestern Abend wieder hingekriegt hat«, sagte ich.
»Halt bloß die Klappe!« Christian trat mir in den Weg, als ich mit dem Sattelzeug in die Sattelkammer gehen wollte. »Macht dir Spaß, dass die Alten so ein Geschiss um dich und deinen lahmen Gaul machen, was?«
»Lass mich durch«, sagte ich nur und er machte Platz.
Aber dann stellte er sich in die Tür und breitete die Arme aus. Seine Augen funkelten böse. »Du bist eine ganz miese kleine Schleimkuh!«, zischte er grimmig.
»Und du«, entgegnete ich, »bist eine blöde Petze! Du bist doch nur sauer, weil du was falsch gemacht hast und ausnahmsweise mal nicht im Mittelpunkt stehst.«
Da verzerrte sich sein Gesicht. Er packte meinen Arm und verdrehte ihn. Ich trat nach ihm und traf ihn am Knie. Sekunden später wälzten wir uns auf dem Boden der Sattelkammer. Der Sattelhalter kippte mit Donnergepolter um. Wir kämpften verbissen, ich trat und kratzte, Christian drehte mir den Arm um.
»Aua!«, knirschte ich. »Lass mich los!«
Ich war nicht empfindlich, aber das tat echt weh. Christian ließ nicht los und jetzt begriff ich erst, wie ungeheuer wütend er wirklich war. Mir sprangen die Tränen in die Augen, ich biss die Zähne zusammen und wehrte mich nach Kräften.
»Hey! Bist du bescheuert? Hör sofort auf damit!«
Jemand kam in die Sattelkammer und zerrte Christian von mir weg. Mein Bruder ließ mich los, versetzte mir aber noch einen Tritt gegen den Oberschenkel, bevor er das Feld räumte und wegrannte.
Ich richtete mich auf und drehte mich um. Da erst erkannte ich, wer mich gerettet hatte: ausgerechnet Jens, von dem ich geglaubt hatte, er würde mich mit Freude unterm Misthaufen beerdigen!
»Tut’s sehr weh?«, erkundigte er sich erstaunlich mitfühlend.
»Geht schon«, murmelte ich und rieb mir den Arm.
Ich musste Fritzi die Decke draufmachen und Melike anrufen, bevor Lajos zu Besuch kam.
»Nur die Harten kommen in den Garten.« Jens streckte die Hand aus, um mir beim Aufstehen zu helfen.
Ich ergriff sie. »Danke«, sagte ich und klopfte den Dreck von meiner Jacke.
»Schon gut«, meinte Jens. »Denk dran, das Licht auszumachen, wenn du fertig bist, dummes Kind.«
»Mach ich, du blöder Aknefrosch«, erwiderte ich freundlich.
Jens grinste und ging.
Ich wartete, bis er weg war, und rannte dann hinüber zur Scheune, um Fritzis Stalldecke zu holen.
Was für ein Tag! Endlich musste ich Fritzi nicht mehr verstecken. Ich konnte ihn in Zukunft hier putzen und satteln und ihn reiten, wann immer ich wollte.
Mama war wieder da und meine Eltern konnten mit dem Geld, das sie für Lagunas bekommen hatten, einen großen Teil von Opas Schulden abbezahlen. Wir konnten auf dem Amselhof bleiben.
In drei Wochen war das erste Turnier für Fritzi und mich und ab morgen würde ich Quintano reiten.
Ich kannte das Geheimnis der Feindschaft mit den Jungbluts, aber Tim und ich hatten nichts damit zu tun.
Ich betrat den Stall und ging zu Fritzi, der sich in seiner neuen Box ausgesprochen wohlzufühlen schien. Schnell legte ich ihm seine Decke auf und schloss die Schnallen.
Fritzi schnaubte und rieb seine Nase an meiner Schulter.
»Ach, mein Fritzi«, flüsterte ich, schlang meine Arme um seinen Hals und drückte mein Gesicht an sein weiches Fell.
Mein Handy piepste. Das war sicher Melike, die wissen wollte, wie es heute Nachmittag gelaufen war. Ich ließ Fritzi los und kramte das Handy aus meiner Tasche. Aber nicht Melike, sondern Tim hatte mir eine SMS geschrieben.
War echt schön heute mit dir, las ich. Fahre morgen früh übrigens mit dem Bus. Du auch??? Hdgdl. Dein T.
Mein Herz hüpfte vor Freude. Ich hob die Hand und berührte den Anhänger der Kette, die Tim mir geschenkt hatte.
Seit heute waren Tim und ich wirklich und richtig zusammen. Und egal, wie sehr Christian ihn auch hasste und wie schwierig es auch werden würde, nichts konnte uns davon abhalten, uns weiterhin zu treffen. Vielleicht bei Lajos. Oder irgendwo anders. Und vielleicht, ganz vielleicht, würde eines Tages alles doch noch gut werden.
»Ida«, schrieb ich zurück und lächelte dabei wie ein Honigkuchenpferd. Sehen uns morgen im Bus. Freue mich! E.