35. Kapitel

 

Ich musste Lajos den Weg nicht erklären. Er fuhr direkt zum hinteren Stall, am Lkw vorbei, der noch immer mit heruntergelassener Rampe im Hof stand, und hielt hinter dem Auto des Tierarztes. Wir stiegen aus und betraten den Stall. Lagunas lag noch immer genauso in der Waschbox wie vorhin, jemand hatte das Solarium eingeschaltet. Papa saß auf dem Strohballen, das Gesicht in den Händen vergraben, und rührte sich nicht.

»Papa«, sagte ich leise.

Er hob den Kopf und starrte Lajos an, als wäre er ein Geist.

»Lajos! Was machst du denn hier?«, fragte er heiser. Sein verständnisloser Blick wanderte kurz zu mir.

»Hallo, Micha«, sagte Lajos leise. »Ich erkläre dir später alles. Was ist mit dem Pferd passiert?«

Papa stand auf. »Er … er ist ausgerutscht und kann nicht mehr aufstehen.«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?« Lajos’ Interesse wandte sich Lagunas zu, seine Stimme klang nüchtern und sachlich.

»Der Tierarzt hat ihm eine Schmerzspritze gegeben.« Papa zuckte mit den Schultern. »Aber es nützt nichts.«

Lajos ging in die Hocke, strich Lagunas über den Kopf. »Darf ich?«, fragte er.

»Bitte«, sagte Papa.

Ich sah zu, wie Lajos nun zu Lagunas in die Waschbox kletterte. Seine Hände glitten sanft über die Seite und den Rücken des Pferdes. Er beugte sich vor und tastete Lagunas’ Wirbelsäule ab, angefangen vom Widerrist bis zur Kruppe. Plötzlich zuckte das Pferd zusammen, grunzte erstaunt und hob den Kopf.

»Ein Lendenwirbel ist herausgesprungen«, sagte Lajos leise. »Dadurch hat er womöglich kein Gefühl in den Hinterbeinen. Er liegt denkbar ungünstig. Hm.«

Er richtete sich auf und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Schlagartig schien ihm etwas einzufallen.

»Sag mal, Micha, war hier nicht früher der Durchgang zum Misthaufen? Ist die Tür noch da?«

Papa blickte ihn erstaunt an, dann nickte er langsam. »Ja, die ist noch da. Wir haben nur eine Gummiwand davorgestellt.«

»Kannst du sie irgendwie wegkriegen, damit wir die Tür aufmachen können?«, fragte Lajos. »Ich muss von hinten an ihn ran.«

Schlagartig erwachte Papa aus seiner Lethargie. Er ging in Intermezzos Box, die direkt neben der Waschbox lag, und zog dem Pferd ein Halfter über.

»Stell ihn in die leere Box vorn links«, sagte er zu Lajos, und der nahm wie selbstverständlich das Pferd und tat, wie ihm geheißen.

Ich drückte mich in eine Ecke und sah zu, wie sich die beiden Männer an der hinteren Wand zu schaffen machten. Sie zogen die Gummiwand der Waschbox, die ich immer für eine feste Wand gehalten hatte, mit vereinten Kräften zur Seite, und tatsächlich kam dahinter eine Tür zum Vorschein, die ich noch nie bemerkt hatte. Die Riegel waren eingerostet, und es bedurfte einiger heftiger Schläge und Tritte, bis sie sich endlich öffnen ließ und mit einem Quietschen aufschwang. Die kalte Nachtluft strömte herein. Mit großen Augen verfolgte ich, wie Lajos und Papa Lagunas nun auf die Seite schoben, sodass er auf dem Bauch lag.

»Die Vorderbeine müssen nach vorn«, befahl Lajos. »Und jetzt nimm ihn am Kopf und pass auf, dass er sich nicht wieder zur Seite kippen lässt. Wenn ich dir sage, du sollst ziehen, dann zieh, so stark du kannst. Okay?«

Papa ergriff das Halfter des Pferdes. Lajos ging an Lagunas vorbei und trat hinter ihn. Ich beobachtete, wie er Lagunas’ Schweif ergriff.

»Jetzt!«, sagte er leise. Papa zog an Lagunas’ Kopf und Lajos am Schweif. Es schien anstrengender zu sein, als es aussah.

»Und jetzt hoch mit dir, Junge!«, keuchte Lajos. »Na los, hopp! Steh auf!«

Ich traute meinen Augen kaum, als Lagunas nun die Hinterbeine unter den Bauch zog und im nächsten Moment auf allen vieren stand. Er schwankte ein bisschen, schüttelte sich und blickte sich erstaunt um.

Lajos ließ den Schweif los, quetschte sich an Lagunas vorbei.

»Führ ihn auf die Stallgasse«, sagte er zu Papa. »Ich brauche mehr Platz.«

Atemlos sah ich zu, wie Lajos mit konzentrierter Miene Wirbel für Wirbel abtastete, dann Lagunas’ linkes Hinterbein anhob und mit einem Ruck nach außen zog. Es knackte.

»Das war’s.« Lajos richtete sich auf. »Der Wirbel ist wieder drin.«

Papa stand sprachlos da, den Führstrick des Pferdes in der Hand, und rührte sich nicht.

Lajos klopfte ihm auf die Schulter und grinste ein bisschen. »Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fragte er.

In dem Augenblick kamen Dr. Marquardt und Jens in den Stall und guckten ungläubig.

Papa führte Lagunas in seine Box und das Pferd lief ganz normal neben ihm her, keine Spur von Lahmheit. Lajos hatte ihm nachgesehen, jetzt wandte er sich um.

»Ach«, sagte der Tierarzt säuerlich. »Doktor Kertészy, der Mann mit den goldenen Händen. Mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie wieder in der Gegend sind. Dann kann ich jetzt ja wohl Feierabend machen.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel«, erwiderte Lajos. »Aber manchmal ist die Schulmedizin eben nicht das letzte Mittel.«

»Ende gut, alles gut.« Der Aknefrosch gähnte. »Ich hau mich ins Bett. Oder brauchst du mich noch, Chef?«

»Nein, ich glaub nicht«, erwiderte Papa leise. »Danke, Jens.«

»Schon gut.«

Der Tierarzt verabschiedete sich und ging ebenfalls. Im Stall herrschte angespannte Stille.

»Ich fahre dann auch mal«, sagte Lajos schließlich. »Es ist schon spät.«

»Warte, Lajos«, bat ihn Papa.

Die beiden Männer sahen sich an, suchten wohl nach den passenden Worten. Früher waren sie die besten Freunde gewesen, aber seitdem waren viele Jahre vergangen.

»Ich verstehe zwar nicht so ganz, was hier vor sich gegangen ist«, sagte Papa mit rauer Stimme, »aber ich freue mich, dich wiederzusehen. Ehrlich.«

Ein Lächeln glitt über Lajos’ angespanntes Gesicht. »Ich freue mich auch«, erwiderte er leise.

Dann breitete Papa die Arme aus und umarmte seinen alten Freund herzlich. Mich beachteten sie nicht und das war mir ganz recht. Ich merkte, wie todmüde ich war, außerdem hatte ich keine Lust mehr, irgendwelche Fragen zu beantworten. Leise schob ich mich an der Wand entlang zur Tür und verschwand unbemerkt in die dunkle Stallgasse. Sicherlich hatten sie einiges zu reden nach so vielen Jahren. Für alles andere war auch morgen noch Zeit genug.

Elena - Ein Leben für Pferde
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