16. Kapitel
Vier Wochen lang blieb das Wetter gut genug, um dreimal in der Woche heimlich zu trainieren. Fritzi machte gewaltige Fortschritte – er wurde geschmeidiger und sicherer. Mit vereinten Kräften hatten wir einen alten Baumstamm vom Waldrand bis auf die Wiese geschleift und so hingelegt, dass er ein ganz ordentliches Hindernis abgab. Aus blauen Müllsäcken hatten wir Wassergräben gebastelt, und mit flatternden Bettlaken und alten Pferdecken, die wir über die Sprünge legten, testeten wir Fritzis Nerven. Manchmal ließ Tim Fritzi und mich durch Sprungreihen mit sechs bis zehn dicht hintereinanderstehenden Sprüngen galoppieren, damit er ein schnelleres Vorderbein bekam und lernte, die Hinterhand richtig zu gebrauchen. Die Muskulatur meines Hengstes entwickelte sich, er bekam eine immer bessere Kondition und auch mir tat das regelmäßige Training gut.
Es war die Woche vor Weihnachten, heute hatten wir nach der dritten Stunde Schulschluss gehabt, weil die Ferien begannen.
Obwohl es am Morgen angefangen hatte zu schneien, war ich um drei zur Wiese geritten. Tim war da, wie verabredet. Der Boden war noch gut und griffig, deshalb ließ er mich ein paar Gymnastiksprünge machen, bevor er mir einen Parcours aufbaute. Melike war heute zum ersten Mal nicht dabei, denn sie hatte mit ihrer Mutter in die Stadt fahren müssen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Unser einziger Zuschauer war Twix, der bibbernd an der Hütte hockte.
Zuerst schmolzen die Schneeflocken noch, als sie den Boden erreichten. Doch dann wurde das Schneegestöber immer dichter; ich hatte Mühe, überhaupt noch zu erkennen, wohin ich ritt, deshalb brachen wir das Training nach einer halben Stunde ab. Eilig trabte ich in den Windschatten der Hütte. Tim folgte mir mit gesenktem Kopf und schüttelte sich die weißen Flocken aus den Haaren.
»Das war wohl heute das letzte Training für dieses Jahr«, sagte er bedauernd. Er reichte mir Fritzis Decke. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, warf die Decke über Fritzis Kruppe und klemmte sie zwischen meine Knie und den Sattel, damit sie nicht wegfliegen konnte. Wieder einmal war Tim voll des Lobes für mein Pferd.
»Warum korrigierst du mich eigentlich nie?«, fragte ich ihn.
Tim hielt inne und blickte mich überrascht an. »Wie meinst du das?«, wollte er wissen. »Was soll ich denn zu dir sagen?«
»Na ja.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn mein Vater Springstunde gibt, sagt er dauernd was zu den Reitern. Hand weg, nicht ziehen, ruhiger, mehr Galopp – halt so was in der Richtung.«
Da musste Tim grinsen. »Das würde ich auch sagen, wenn es nötig wäre. Zu dir muss ich es aber nicht sagen, weil du es richtig machst.«
Ich musste ihn wohl ziemlich belämmert angesehen haben, denn er fing an zu lachen. Aber er wurde schnell wieder ernst.
»Elena, ich glaube, dir hat noch keiner gesagt, dass du echt gut reitest. Oder?«
Mir klappte beinahe der Mund auf und ich schüttelte den Kopf. »Christian reitet viel besser als ich.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Tim. »Dem fehlt echt alles, was du hast: Er hat null Gefühl für Pferde. Und kein Auge. Das Einzige, was er hat, ist Mut. Aber das ist nicht genug, um wirklich gut zu reiten. Du hast ein Riesentalent, Elena! Du hast bis jetzt immer alles absolut richtig gemacht. Ehrlich.«
Er stand neben Fritzi im immer stärker werdenden Schneefall, die Hände in den Jackentaschen vergraben mit von der Kälte geröteten Wangen, und das, was er sagte, floss wie Honig direkt in mein Herz. Ich musste schlucken. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Wir sahen uns stumm an.
Schließlich brach Tim das Schweigen. »Du solltest jetzt besser losreiten«, sagte er mit rauer Stimme. »Sonst erkältet Fritzi sich.«
Ich nickte, noch immer mit Stummheit geschlagen. Mein Pferd stampfte ungeduldig und scharrte mit dem Vorderhuf. Sein feuchtes Fell dampfte in der Kälte.
»Danke«, flüsterte ich. »Danke für alles, Tim. Die letzten Wochen waren wirklich …«
Mir fehlte das passende Wort. Alle Adjektive, die mir einfielen, waren zu oberflächlich.
Er legte den Kopf schief und zwinkerte mir zu. »Ich fand’s auch klasse«, entgegnete er. »Nächstes Jahr geht’s weiter.«
»Versprochen?« Ich hatte einen dicken fetten Kloß im Hals.
»Versprochen. Jetzt mach, dass du heimkommst! Na los!«
Ich rang mir ein Lächeln ab, doch weil mein Gesicht schon fast eingefroren war, wurde es eher eine Grimasse.
Diesmal wollte ich nicht diejenige sein, die hinter ihm herguckte, deshalb wendete ich Fritzi und ließ ihn gleich angaloppieren. Ich drehte mich noch einmal im Sattel um.
»Schöne Weihnachten, Tim!«, rief ich ihm zu.
Seine Antwort hörte ich nicht mehr. Fritzi hatte es eilig, nach Hause in den warmen Stall zu kommen. Wir galoppierten beinahe den ganzen Weg bis zum Amselhof. Der Wind war eisig, und als ich endlich durchparierte, war ich mir nicht sicher, ob der Wind an meinen Tränen schuld war oder jemand anderes.