11. Kapitel

 

»Hey, das war eine super Runde«, sagte Tim und lächelte. »Du reitest voll gut. Glückwunsch!«

»War ja auch nicht so schwer«, wehrte ich bescheiden ab.

»Ich finde es genial, dass ihr so ein Vereinsturnier veranstaltet. Mein Vater hat auf so was überhaupt keinen Bock.«

»Das macht alles mein Opa mit dem Vorsitzenden vom Verein«, erklärte ich. »Mein Vater hat dafür auch keinen Nerv. Bei ihm zählen nur die richtigen Turniere. Aber die Einsteller und die Schulreiter freuen sich jedes Jahr auf dieses Turnier. Hast du noch Lust, das L-Springen anzuschauen?«

»Kommt drauf an, was es für Alternativen gibt.«

»Ich wollte dir mein Pferd zeigen.«

»Sirius?«

»Nein.« Ich zog den Reißverschluss meiner Daunenjacke bis unters Kinn. »Ich habe noch ein Pferd.«

»Klingt gut.« Tim nickte. »Gehen wir. Aber vielleicht nicht gerade an deinen Eltern vorbei.«

»Sicher nicht.« Ich bedeutete ihm, mir zu folgen, und öffnete die Seitentür der Reithalle.

Draußen wehte ein beißend kalter Wind und es war mittlerweile stockdunkel geworden.

»Dein Bruder lässt sich auch keine Schleife entgehen, was?« Tim lachte leise, als er neben mir herging.

»Der!« Ich winkte ab und musste kichern. »Auf jeden Fall ist er jetzt Vereinsmeister im A-Springen und sein Name kommt auf die Meisterschaftstafel in der Gaststätte. Dafür wird er sich später noch schämen.«

Wir erreichten ungesehen die Scheune. Ich schob das Tor zur Seite und tastete nach dem Lichtschalter. Der Geruch von duftendem Heu strömte uns entgegen. Die Neonröhren waren verstaubt und voller Spinnweben und verbreiteten nur noch schummriges Licht.

»Fritzi!«, rief ich mit halblauter Stimme.

Der junge Hengst, der sich schon hingelegt hatte, sprang auf und wieherte erfreut. Er streckte neugierig seinen Kopf über die halbhohe Boxenwand.

»Ich wusste gar nicht, dass du noch ein Pferd hast außer Sirius«, sagte Tim ganz so, als ob er sonst alles über mich wüsste.

Ich öffnete die Boxentür und Fritzi fuhr mir mit seiner weichen Nase übers Gesicht. Natürlich hatte ich ein Zuckerstück für ihn in der Tasche.

Tim musterte mein Pferd mit Kennerblick. »Das ist aber ein hübscher Kerl«, stellte er fest. »Ein Hengst?«

»Ja. Er ist vier Jahre alt und wurde an meinem Geburtstag geboren, deshalb hat Papa ihn mir damals geschenkt. Als Jährling hatte er einen schlimmen Unfall. Papa wollte ihn schlachten lassen, weil die Tierärzte meinten, er wäre als Springpferd nie mehr zu gebrauchen. Aber er gehörte ja mir, deshalb konnte Papa das nicht einfach machen. Ich hab ihn gepflegt und reite ihn seit einem Jahr.«

»Und die Verletzungen?«

»Bis jetzt ist nichts davon zu merken. Er läuft einwandfrei.«

»Schicker Typ«, sagte Tim, ganz Sohn eines Pferdehändlers. »Wie ist seine Abstammung?«

»Sein Vater ist For Pleasure und seine Mutter stammt von Grannus ab«, erwiderte ich stolz.

Tim stieß einen beeindruckten Pfiff aus. »Allein seine Abstammung ist es wert, dass man ihn behält«, sagte er.

»Mir ist seine Abstammung ganz egal.« Ich streichelte das Gesicht des jungen Hengstes.

Mittlerweile hatte sich mein Puls fast normalisiert und ich konnte Tim sogar hin und wieder anschauen, ohne gleich das Atmen zu vergessen.

»Fritzi ist ein tolles Pferd mit einem super Charakter. Ich reite ihn total gern, allerdings nur heimlich, damit Papa ihn nicht sieht und vielleicht doch noch verkauft. Gerade jetzt, wo er jeden Cent braucht.«

»Wie meinst du das?«

Ich wusste nicht, ob ich Tim von der schlimmen finanziellen Lage auf dem Amselhof erzählen sollte. Aber es war eigentlich kein Geheimnis, früher oder später würde es sowieso jeder erfahren. In der Reiterwelt war es unmöglich, Geheimnisse zu bewahren.

»Bei uns wird nur noch über Geld geredet«, sagte ich schließlich. »Aber leider nur über Geld, das nicht da ist.«

»Jeder hat Schulden«, entgegnete Tim. »Das ist doch nicht so tragisch.«

»Sechshunderttausend Euro sind aber tragisch.«

»Was? Sechshunderttausend?« Tim riss die Augen auf. »Wie kommt das denn?«

Ich schloss die Boxentür und setzte mich auf einen Strohballen.

»Das fragen sich meine Eltern auch«, sagte ich niedergeschlagen. »Mein Opa hat die Schulden gemacht und plötzlich wollte die Bank den Amselhof zwangsversteigern lassen. Papa musste alles übernehmen, sonst wäre der Hof futsch gewesen. Und jetzt muss er zusehen, wie er die Schulden abbezahlt.«

Auf einmal fiel mir ein, wem ich das alles erzählte. Auch wenn Tim ein feiner Kerl sein mochte, so hieß er doch mit Nachnamen Jungblut, und dieser Name bedeutete für mich seit Kindesbeinen nichts Gutes.

»Du sagst doch niemandem etwas davon, oder?«, fragte ich besorgt.

»Meinst du etwa, ich bin hergekommen, um dich auszuhorchen?« Tim war gekränkt.

»Tut mir leid.« Ich schluckte. »Es … es war nicht so gemeint, aber … du weißt ja …«

»Schon gut.« Er verzog das Gesicht und lehnte sich an Fritzis Box. »Bist du mit ihm schon gesprungen?«

»Oh ja!« Ich stand wieder auf. »Erst nur im Gelände, aber dann auch mal auf dem Platz oder in der Halle, als mein Vater nicht da war.«

»Und?«

»Er springt klasse. Es macht ihm richtig Spaß. Manchmal hebt er so ab, dass ich beinahe runterfalle.«

Ich betrachtete versonnen mein Pferd, das am Stroh knabberte und misstrauisch zu uns herüberäugte. Tim war ein Fremder, deshalb blieb Fritzi auf Distanz.

»Allerdings müsste ich allmählich anfangen, regelmäßig mit ihm zu trainieren, damit ich ihn im nächsten Jahr bei Springpferdeprüfungen reiten kann. Aber ich hab keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen soll. Wenn Papa sieht, wie gut Fritzi springt, nimmt er ihn mir hundertprozentig weg.«

»Ich könnte dir helfen«, schlug Tim vor.

Ich lächelte, aber dann schüttelte ich bekümmert den Kopf.

»Das geht doch nicht«, sagte ich. »Was meinst du, was mein Vater sagt, wenn du hier auftauchst? Und erst Christian!«

»Ich meine natürlich nicht hier«, entgegnete Tim und zog nachdenklich seine Stirn in Falten.

»Bei euch geht’s auch nicht. Das wäre viel zu weit weg. Wie soll ich mit Fritzi hinkommen?«

»Stimmt. Und mein Vater wäre ganz sicher genauso wenig begeistert wie deiner.« Tim zog einen Strohhalm aus dem Ballen vor der Box und kaute nachdenklich darauf herum.

Ich überlegte, ob er wohl wusste, weshalb unsere Familien so verfeindet waren. Gerade, als ich ihn fragen wollte, hellte sich Tims Miene auf.

»Ich hab eine Idee«, sagte er. »Kennst du die Waldwiese an dem zusammengebrochenen Hochsitz? Die mitten im Wald?«

»Ja, klar.« Den Wald kannte ich in- und auswendig.

»Die gehört uns«, fuhr Tim fort. »Wir machen nur einmal im Jahr Heu drauf, sonst kommt keine Menschenseele hin. Außerdem kenne ich den Förster, der ist mein Onkel. Du brauchst nicht länger als eine Viertelstunde dahin, und ich auch nicht, wenn ich querfeldein fahre. Wir bräuchten nur ein paar Hindernisse, und die könnten wir heimlich hinschaffen.«

Ich starrte Tim ungläubig an. »Hast du denn Zeit für so etwas?«, fragte ich. Ich wusste mittlerweile ja, dass Tim nach der Schule im Stall seines Vaters arbeiten musste.

»Das krieg ich schon irgendwie hin«, sagte er leichthin. »Mein Vater ist sowieso dauernd unterwegs.«

Mein Pulsschlag beschleunigte schlagartig. Ich könnte nicht nur endlich damit beginnen, Fritzi zu trainieren, nein, ich würde auch Tim regelmäßig sehen! Bevor ich etwas sagen konnte, warf Tim einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ach du Scheiße!«, stieß er entsetzt hervor. »Schon sechs Uhr! Ich muss heute Abend füttern.«

Wir verließen die Scheune. Das L-Springen schien beendet zu sein, denn die Abreitehalle war leer, dafür herrschte vor der Reithalle jede Menge Trubel. Pferde wurden herumgeführt und verladen, und die Strahler an der Hallenwand verbreiteten taghelles Licht. Keine gute Idee, da jetzt entlangzulaufen.

»Wie bist du eigentlich hierhergekommen?«, erkundigte ich mich.

»Mit dem Mofa. Steht vorn an der Auffahrt, hinter einem Busch.«

»Komm, wir gehen hinter der kleinen Reithalle lang.« Ich schlug eine andere Richtung ein. »Dann sieht uns keiner.«

Tim folgte mir. Ein paar dicke Wolken verdeckten den Mond, man konnte in der Dunkelheit kaum die Hand vor Augen sehen.

»Elena, wo bist du?«, rief er leise und fluchte gleich darauf. »Autsch! Hier steht ja alles voller Krempel!«

Opa lagerte hinter der kleinen Reithalle alles, was er woanders nicht brauchte, aber zu schade zum Wegwerfen fand. Leere Fässer, zerbrochene Hindernisstangen, alte Traktor- und Autoreifen und allerhand Gerümpel.

»Hier bin ich.« Ich blieb stehen. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte Tims Umrisse sehen.

Plötzlich stolperte er über irgendetwas, prallte unsanft gegen mich. Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren.

»’tschuldige«, murmelte er. »Ich hab dich nicht gesehen.«

Mein Herz schlug so heftig, dass er es hören musste. Ich war mit Tim allein, hier in der Dunkelheit. Er stand ganz nah vor mir, ich spürte seinen Atem im Gesicht. Und dann wagte ich etwas Ungeheuerliches: Ich ergriff seine Hand, die trotz der Kälte ganz warm war. Stumm gingen wir weiter und er machte keinen Versuch, meine Hand loszulassen, bis wir das Gebüsch erreicht hatten, hinter dem er sein Mofa versteckt hatte.

»Ich fand’s toll, dass du hier warst«, sagte ich mit belegter Stimme.

Die Wolken waren am Mond vorbeigezogen, plötzlich wurde es wieder heller und ich konnte sein Gesicht erkennen. Und das … Mofa!

»Was ist das denn?«, fragte ich und riss erstaunt die Augen auf. Heutzutage fuhr jeder, der etwas auf sich hielt, einen Roller. So ein Gebilde wie das, mit dem Tim hierhergekommen war, hatte ich noch nie gesehen. Mit dem lang gestreckten Tank und der Sitzbank sah es beinahe aus wie ein zu klein geratenes Motorrad.

»Cool, was?« Tim grinste stolz und ließ meine Hand los. »Ein richtiges Moped darf ich ja noch nicht fahren und das Teil hier hab ich letzten Sommer bei uns in der Scheune gefunden und etwas aufgemöbelt.«

»Und … äh … was ist das genau?«

»Ein Mofa. Eine Hercules G3. Baujahr 1978. Mein Vater hatte sogar noch die Papiere für das Ding.« Er nahm den Helm vom Lenker und klopfte auf die Sitzbank. »Mit so ’nem schnieken Roller kann jeder fahren. Aber ich wette, in der ganzen Gegend gibt’s keinen Zweiten, der eine Hercules G3 fährt.«

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Zweifellos war das Mofa … hm … anders. So wie auch Tim anders war als alle Jungs, die ich kannte. Es passte irgendwie zu ihm. Und es gefiel mir.

»Mir hat’s übrigens auch Spaß gemacht.« Tim setzte sich auf sein Mofa, kramte den Zündschlüssel aus einer Jackentasche und steckte ihn ins Zündschloss. »Jetzt muss ich aber los. Gleich morgen schaue ich mir die Wiese an. Wir sehen uns dann am Montag, okay?«

»Okay.« Ich nickte. »Mach’s gut.«

»Du auch.« Er lächelte mich noch einmal an, bevor er den Helm aufsetzte, seine altertümliche Hercules G3 anließ und losfuhr.

Ich sah ihm nach, wie er auf die Straße einbog und davonbrauste. Das Knattern des Motors wurde leiser und verklang schließlich in der Ferne.

Ich blieb noch einen Augenblick stehen, dann drehte ich mich um und trottete langsam zurück zum Hof. Ich war auf das Gefühl der Einsamkeit nicht gefasst, das mich ganz unerwartet überfiel, aber trotzdem hatte ich überhaupt keine Lust, zurück in die Reithalle zu all den Leuten zu gehen. Am liebsten wollte ich jetzt allein sein und an Tim denken. An Tim, der extra wegen mir bei dieser Kälte mit dem Mofa auf den Amselhof gekommen war und riskiert hatte, von Christian oder einem anderen entdeckt zu werden. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Was war bloß los mit mir? Irgendwie war ich total traurig, oder … Ich blieb stehen.

»Oder total verliebt«, flüsterte ich. Verdammt! Genau das war’s! Ich war verliebt! Verliebt in einen Jungen, mit dem ich noch nicht einmal reden durfte. Warum musste Tim auch ausgerechnet der Sohn von Richard Jungblut sein! Papa würde mir den Kopf abreißen oder mir hundert Jahre Hausarrest verpassen, wenn er jemals davon erfahren sollte. In dem Moment fiel mir Melike ein. Hoffentlich war sie noch nicht nach Hause gefahren! Plötzlich löste sich mein Trübsinn in Luft auf. Egal, welche Probleme noch auftauchen mochten, eigentlich hatte ich allen Grund, im siebten Himmel zu schweben! Und davon musste ich Melike unbedingt und auf der Stelle erzählen.

Elena - Ein Leben für Pferde
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