7. Kapitel

 

Christian stand vor dem Spiegel und zupfte sorgfältig seine Haare zurecht, als ich am nächsten Morgen verschlafen ins Badezimmer kam.

»Raus!«, sagte er, ohne mich anzusehen.

»Beeil dich gefälligst ein bisschen«, murmelte ich und machte wieder kehrt. Mein Bruder brauchte morgens im Bad länger als jeder andere Mensch, den ich kannte, so eitel, wie er war. Dabei war es reine Zeit- und Haargelverschwendung, denn spätestens auf dem Turnier würde die Reitkappe seine Bemühungen zunichtemachen.

Ich wartete also, bis Christian die Treppe hinuntergepoltert war. Gerade, als ich die Hand auf die Türklinke des Badezimmers legte, hörte ich Papas zornige Stimme von unten. Was hatte ihn wohl um sieben Uhr morgens so auf die Palme gebracht? Ich schlich auf Zehenspitzen bis zur Treppe und lauschte.

»… kann nicht verstehen, was mein Vater mit dem ganzen Geld gemacht hat. Vierhunderttausend Euro Kredite und dazu die angelaufenen Zinsen! Seit Jahren hat er keine Zinsen mehr bezahlt, geschweige denn einen Cent getilgt! Wie konnte er mit so einem Berg Schulden überhaupt noch ruhig schlafen?«

»Du kennst ihn doch«, erwiderte Mama etwas leiser. »Er ist zu stolz, sich eine Niederlage einzugestehen.«

»Zu stolz!« Papa spuckte das Wort verächtlich aus. »Na toll! Die Leute werden sich das Maul über uns zerreißen! Ich dachte, mich trifft der Schlag, als er mir das gestern Abend einfach so erzählt hat.«

»Reg dich nicht auf, Micha«, sagte Mama. »Nächste Woche reden wir mit dem Steuerberater und hören uns mal an, was er vorschlägt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich so hoffnungslos sein kann.«

»Doch, das ist es! Verdammt, keiner hat etwas gewusst, bis plötzlich der Gerichtsvollzieher auf dem Hof steht und mit Zwangsversteigerung droht! Was für eine Blamage! Ich will auf jeden Fall nicht mit dem Hut in der Hand wegen irgendwelcher Kredite oder Fristverlängerungen von Bank zu Bank schleichen. Ich hätte nicht schlecht Lust, den ganzen Mist einfach hinzuschmeißen und den Hof versteigern zu lassen!«

Ich stand wie erstarrt auf der obersten Treppenstufe und verstand kein Wort.

»Es ist aber von der Bank auch nicht richtig, dass sie ihm immer wieder Geld gegeben haben«, hörte ich Mamas Stimme. »Sie mussten doch wissen, dass er es niemals mehr zurückzahlen kann.«

»Das ist doch genau ihre Masche! Immer weiter Geld geben – Herr Weiland hinten und vorn, Sie sind so ein guter Kunde! Jahrelang kassieren sie und kassieren!« Papa schrie mittlerweile vor Zorn. »Und dann drehen sie eiskalt den Hahn zu und schnappen sich den ganzen Hof billig. Die lachen sich doch ins Fäustchen, weil wir so blöde Bauern sind, die das nicht kapieren!«

»Aber vielleicht haben wir doch noch eine andere Möglichkeit, als den Hof abzugeben.« Mama blieb erstaunlich ruhig. »Wir müssen uns etwas einschränken. Und mit ein wenig Glück können wir das eine oder andere Pferd verkaufen.«

»Und welches, bitte schön? Vielleicht Lagunas oder Calvador? Mit denen stehe ich zufällig auf der Longlist für die Europameisterschaften und bin für die Nationenpreismannschaft nominiert. Du hast doch keine Ahnung, was du da redest, Susanne!«

Lautlos zog ich mich zurück und ging ins Bad. Was, um Himmels willen, war denn bloß passiert? Nach einer Katzenwäsche huschte ich zurück in mein Zimmer, zog mich an und scheuchte Twix aus dem Bett. Schnell kehrte ich ein paar Hundehaare vom Bettlaken und machte das Bett so ordentlich, wie es in der Eile möglich war. Mein Herz klopfte, als ich nach unten ging.

Als ich die Küche betrat und Mama weinend am Frühstückstisch sitzen sah, veränderte sich mein Leben. Das hört sich ganz schön pathetisch an, ich weiß, aber es ist so. Bis dahin hatte ich Mama nie weinen sehen, auf jeden Fall nicht so. Sie hatte das Gesicht in beiden Händen verborgen und schluchzte.

»Mama«, flüsterte ich beklommen, »was hast du denn?«

Sie hob den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ach Elena. Ich dachte, du schläfst noch.«

Ich hätte schon tot sein müssen, um bei Papas Gebrüll nicht aufzuwachen, dachte ich. Aber das sagte ich nicht laut.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich leise.

»Am Freitag war der Gerichtsvollzieher da«, sagte Mama.

Noch nie hatte ich sie so deprimiert gesehen wie jetzt. Sie saß einfach nur da, blass, mit hängenden Schultern, und starrte vor sich hin.

»Und warum?«, erkundigte ich mich zaghaft. Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Ich wollte nicht, dass Mama weinte. Das machte mir Angst. Mama ist eigentlich immer guter Laune, im Gegensatz zu Papa schreit sie nie herum und bleibt ruhig, egal was passiert.

»Setz dich mal her«, sagte sie und ich zögerte einen Moment, bevor ich gehorchte. Stocksteif saß ich auf dem Küchenstuhl und hoffte, dass sie gleich lächeln und mich in den Arm nehmen würde, so wie sonst auch. Aber das tat sie nicht.

»Also«, begann Mama. »Du weißt ja, dass der Amselhof Opa und Oma gehört.«

Ich nickte.

»Für alles, was Opa in den letzten Jahren auf dem Hof angeschafft oder gebaut hat, hat er sich bei der Bank Geld geliehen«, fuhr Mama fort. »Das nennt man Darlehen.«

Ja, das Wort hatte ich schon gehört.

»Er hat sich allerdings sehr viel mehr Geld geliehen, als er der Bank zurückbezahlen konnte. Und deshalb hat er Schulden.« Mama seufzte wieder. »Ziemlich viele Schulden. Und jetzt will die Bank ihr Geld zurückhaben und hat den Gerichtsvollzieher geschickt, um es zu holen.«

Das Gute an Mama war, dass sie immer die Wahrheit sagte und nie so etwas wie: »Dazu bist du noch zu klein« oder: »Das verstehst du noch nicht.«

Nun stand sie auf und ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Wasser heraus, schenkte sich ein Glas ein und trank einen Schluck.

»Das Einzige, was Opa besitzt, ist der Amselhof«, sagte sie nach einer Weile. »Und wenn er nun das Geld für die Bank nicht bis Ende des Monats auftreibt, dann soll der Amselhof zwangsversteigert werden.«

»Was bedeutet das?«, fragte ich. Meine Stimme klang, als hätte ich einen Frosch im Hals. Irgendwie ahnte ich, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Aber Mama fand wohl, sie sei aufrichtig genug zu mir gewesen.

»Ach, jetzt mach dir nicht so viele Gedanken«, sagte sie und straffte die Schultern. Obwohl ihre Augen noch ganz rot vom Weinen waren, gelang ihr sogar ein Lächeln. »Papa und ich werden gleich morgen mit den Leuten von der Bank sprechen und schauen, was sich machen lässt.«

Das beruhigte mich nicht im Geringsten. Ich dachte an das Geld in meinem Sparpferd, das ich eigentlich für andere Zwecke gespart hatte, für ein Handy, eine Trense für Fritzi oder einen MP3-Player. Es war mittlerweile eine ganze Menge.

»Wie viel Geld schuldet Opa denn der Bank?«, flüsterte ich.

»Nach allem, was wir bisher wissen, sechshunderttausend Euro«, sagte Mama.

Ich war erwiesenermaßen keine Leuchte in Mathe, aber ich verstand, dass die Lage ernst war, sogar sehr ernst. In meinem Sparpferd befanden sich laut meinem gestrigen Kassensturz gerade einmal hundertzwölf Euro und sechzehn Cent.

 

Die Stallungen lagen noch im Dunkeln, nur im Turnierstall brannte das Licht. Christian hatte das Radio angestellt und sang halblaut mit, während er seine Stute striegelte. Alles war wie immer an einem frühen Morgen im Stall und doch war alles anders.

»Hey«, sagte er, als er mich sah. »Kannst du vielleicht Paradiso putzen?«

»Klar.« Ich nahm ein Halfter vom Haken und holte den Fuchswallach aus seiner Box. Mähne und Schweif waren voller Strohhalme und ein paar Zöpfchen hatten sich gelöst. Ich zog ihm die Stalldecke aus und begann damit, die Strohhalme aus dem Schweif zu lesen.

»Wo ist Papa?«, fragte er.

»Wohl frühstücken«, erwiderte ich wortkarg. Ich war ihm im Hof begegnet, aber er war einfach stumm an mir vorbeimarschiert.

»Ziemliche Scheißstimmung«, stellte Christian fest. »Ist ja kein Wunder. Komm, geh rum, du alte Kuh.«

Er klopfte Ronalda gegen die Flanke und das Pferd trat gehorsam einen Schritt zu Seite. Eine Weile arbeiteten wir schweigend, aber ich war nicht richtig bei der Sache. Ich ließ Striegel und Kardätsche sinken.

»Mama hat eben geweint«, sagte ich leise.

»Es ist ja auch zum Heulen.« Christian begutachtete sein Werk mit einem kritischen Blick und legte Ronalda eine Decke über. »Opa und Oma haben den Hof total heruntergewirtschaftet und Papa muss jetzt wohl zusehen, dass er irgendwie die Schulden abbezahlt. Er hatte bis gestern Abend keinen blassen Schimmer davon, wie viel Geld Opa plattgemacht hat.«

Ich konnte nicht verstehen, wie mein Bruder so cool sein konnte. Oder tat er nur so?

»Können wir nicht irgendetwas unternehmen?«, fragte ich.

»Was denn?« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Willst du einen Flohmarkt machen oder deine alten Pferdebücher verkaufen?«

Ich überhörte den Spott in seiner Stimme.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich und wehrte Paradiso ab, der unbedingt meine Jacke ablecken wollte. »Opa hat doch immer Geld verdient, mit dem Schulbetrieb und den ganzen Einstellern, den Turnieren und der Gaststätte.«

»Tja, das ist das große Rätsel.« Christian zupfte an seinen Haaren herum. »Opa hat einfach nicht gerechnet und geglaubt, dass es irgendwie gehen würde. Aber jetzt haben die von der Bank keine Lust mehr und wollen ihre Kohle. Und wenn Opa keine hat, wird der Hof versteigert und wir können hier unseren Kram packen.«

»Aber … aber du sagst das so, als wäre es dir ganz egal.« Ich war schockiert. »Würde es dir überhaupt nichts ausmachen, wenn wir hier wegziehen müssten?«

»Ich bereite mich seelisch auf diese Möglichkeit vor«, antwortete Christian und band sein Pferd los. »Außerdem sehe ich meine Zukunft sowieso nicht hier auf dem Hof. Nach dem Abi studiere ich Jura und werde Anwalt. Oder Börsenmakler, wie Fritz Teichert. Oder Rockstar. Da kann man richtig Kohle verdienen. Ich hab echt keinen Bock, mich so sinnlos abzurackern wie Papa.«

Er brachte Ronalda in ihre Box, um das nächste Pferd zu putzen. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich hatte es immer für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass Christian eines Tages den Amselhof übernehmen und weiterführen würde.

»Aber … aber du … du reitest doch auch gern«, stotterte ich. »Du hast doch Spaß an den Turnieren.«

Christian blieb vor mir stehen und musterte mich. Ihn schien das alles tatsächlich nicht im Geringsten zu beängstigen.

»Deshalb muss ich mir doch nicht so einen Haufen Arbeit und Ärger aufladen«, sagte er verächtlich. »Wenn ich genug Geld verdiene, kann ich mir ein Pferd leisten, um Turniere zu reiten. Dafür brauche ich ganz sicher keinen eigenen Hof.«

Elena - Ein Leben für Pferde
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