34. Kapitel

 

»Seine Beine sind in Ordnung, da ist nichts gebrochen.« Doktor Gregor Marquardt kletterte aus der Waschbox und betrachtete Lagunas ratlos. »Er muss sich am Rücken verletzt haben oder am Becken.«

»Das darf doch alles nicht wahr sein.« Papa saß auf einem Strohballen, direkt neben Lagunas und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wieso ausgerechnet heute? Jahrelang ist nichts passiert.«

Opa stand schweigend daneben. Weder er noch Jens oder der Tierarzt konnten wissen, welches Ausmaß die Tragödie hatte, die sich vor unseren Augen abspielte. Spätestens morgen früh musste Papa den Sponsor von Viktor Waluschenko anrufen und ihm mitteilen, dass aus dem Kauf nichts wurde.

Ich erinnerte mich an seine Worte von heute Mittag: Wenn er sich morgen ein Bein brechen würde, wäre er nichts mehr wert. Lagunas hatte sich wohl kein Bein gebrochen, aber es stand schlimm um ihn. Freiwillig blieb kein Pferd einfach so liegen.

Es war kalt im Stall, ich hatte mir eine Pferdedecke umgelegt und saß auf der Deckenkiste neben der Tür zur Sattelkammer. Jens und Heinrich standen in der offenen Stalltür und rauchten schweigend. Papa und der Tierarzt besprachen sich halblaut.

»Irgendwie müssen wir ihn doch auf die Beine kriegen«, sagte Papa. »Wenn er noch lange so daliegt, sackt ihm der Kreislauf ab.«

»Wie wäre es denn, wenn wir ihn mit dem Frontlader aus der Waschbox ziehen?«, schlug Opa vor.

»Um Gottes willen!«, entgegnete der Tierarzt. »Falls er sich einen Wirbel ausgerenkt hat, können wir damit alles kaputtmachen. Nein, ich gebe ihm jetzt eine Schmerzspritze. Vielleicht schafft er es dann von allein, auf die Beine zu kommen.«

Papa fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar und verschränkte die Hände im Genick. Er erhob sich von dem Strohballen und kniete sich neben Lagunas‘ Kopf hin.

»Na, komm schon, mein Junge«, murmelte er. »Du bist doch ein Kämpfer. Das schaffst du. Komm. Bitte.«

In den letzten drei Stunden war Papa um Jahre gealtert, unter seinen geröteten Augen lagen tiefe Schatten. In seinem Gesicht zuckte es, als ob er in Tränen ausbrechen wollte. Noch nie hatte er mir so schrecklich leidgetan. Sein Blick begegnete meinem.

»Geh ins Bett, Elena. Es ist gleich Mitternacht. Du musst dir das hier nicht angucken.«

Er stand mühsam auf. »Ihr auch«, sagte er zu Opa, Jens und Heinrich. »Wenn ich eure Hilfe brauche, sage ich Bescheid.«

»Ich bleib hier, Chef«, erwiderte der Aknefrosch.

Papa nickte nur.

Opa klopfte Papa stumm auf die Schulter, dann ging er. Heinrich folgte ihm, aber ich blieb sitzen. Helfen konnte ich hier nicht. Niemand konnte mehr helfen. Lagunas, der gestern und vorgestern noch so elegant und leichtfüßig über die hohen Hindernisse geflogen und vor allen anderen Pferden gewonnen hatte, lag wie ein unförmiger Berg in der engen Waschbox. Hin und wieder stöhnte er leise. Und in genau diesem Moment, in dieser Sekunde wusste ich, wer helfen konnte. Falls er sich einen Wirbel ausgerenkt hat, hatte der Tierarzt eben gesagt. Warum war es mir bloß nicht eher eingefallen? Ich musste Lajos holen. Und zwar sofort.

 

Der Wind hatte die Wolken vom Himmel gefegt, der Schnee reflektierte das helle Licht des fast vollen Mondes und machte die Nacht taghell. Fritzi trabte mit gespitzten Ohren den vertrauten Weg durch den Wald zum Forsthaus. Er hatte schon schlafend im Stroh gelegen, war aber sofort auf die Füße gesprungen, als ich mit der Trense in der Hand und dem Sattel über dem Arm in seine Box gestürzt war. In der Eile hatte ich meine Reitkappe vergessen, doch ich hatte keine Zeit mehr gehabt, ins Haus zu laufen, um sie zu holen. Hoffentlich war Lajos zu Hause! Und hoffentlich machte er mir überhaupt die Tür auf, nach allem, was ich ihm neulich auf der Wiese an den Kopf geworfen hatte. Ich würde es ihm erklären, mich entschuldigen, später.

Der Wind rauschte in den winterkahlen Bäumen, keine zehn Meter vor uns sprangen zwei Rehe erschrocken aus dem Unterholz auf. Fritzi machte einen Satz zur Seite und preschte im Galopp los. Ich verlor einen Steigbügel und klammerte mich in seiner Mähne fest. Der eisige Wind sang mir in den Ohren, trieb mir die Tränen in die Augen. Meine Hände waren so kalt, dass ich kaum noch die Zügel festhalten konnte.

Fritzi galoppierte durch den stockdüsteren Wald, ohne auch nur ein Mal zu straucheln, seine Hufe fanden sicheren Halt und ich vertraute darauf, dass er mit seinen Pferdeaugen mehr sah als ich. Was für ein wundervolles, furchtloses Pferd er war! Eigentlich hätte es heute Abend Fritzis großer Auftritt werden sollen, Papa war so guter Laune gewesen, so fröhlich wie lange nicht mehr. Wir hatten uns im Lkw unterhalten wie zwei Erwachsene. Und dann, ganz plötzlich und unerwartet, war alles so schrecklich, fürchterlich anders gekommen. Lagunas würde sterben, wenn er nicht bald auf die Beine kam, denn Pferde dürfen nicht lange liegen, sonst kann der Darm abgequetscht werden und absterben.

Endlich tauchte der Waldsee vor uns auf – tintenschwarz und unheimlich –, aber ich hatte keine Zeit, Angst zu haben. Viel mehr fürchtete ich mich davor, dass Lajos nicht daheim sein könnte.

Im Haus war alles dunkel, kein Licht brannte. Wie spät war es eigentlich? Fritzi fiel von selbst in Trab und dann in Schritt. Ich lenkte ihn zur Veranda und ließ mich aus dem Sattel rutschen. Meine Beine gaben beinahe unter mir nach, ich musste mich am Steigbügel festhalten, um nicht hinzufallen. Mit steifen Fingern schlang ich Fritzis Zügel um das Geländer, sein Fell dampfte in der kalten Luft. Atemlos stolperte ich die Stufen hoch und klopfte an die Haustür. Zweimal, dreimal.

»Lajos!«, rief ich. Meine Stimme klang schrill. »Lajos, bist du da?«

Nichts. Verdammt. Da verließ mich der Mut. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, ließ mich auf den Boden sinken und fing an zu weinen. Lagunas würde sterben. Mama war weg. Wir würden den Amselhof verlieren. Alles war vorbei.

Ein Lichtschein flammte auf, zeichnete ein helles Viereck vor mir auf den hölzernen Boden der Veranda. Die Haustür ging auf. Offenbar hatte ich Lajos geweckt. Seine Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab, er blinzelte verschlafen.

»Elena! Ist etwas passiert?«, fragte er erschrocken.

»Lajos!«, schluchzte ich erleichtert. »Bitte, du musst mir helfen!«

Er ging vor mir in die Hocke, nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich besorgt aus seinen dunklen Augen an.

»Großer Gott, Elena, was machst du denn hier um diese Uhrzeit?«

»Lagunas … er … er liegt in der Wa… Waschbox und kann nicht mehr aufstehen«, stammelte ich. »Und da habe ich gedacht, du bist der Einzige, der ihm helfen kann.«

»Steh erst mal auf. Du holst dir den Tod.«

Lajos stützte mich, aber meine Beine zitterten so stark, dass ich kaum stehen konnte. Mir war ganz schlecht vor Angst und Sorge um Lagunas und Papa.

»Komm rein und wärm dich etwas auf. Du bist ja total durchgefroren.«

»Ich kann nicht warten«, widersprach ich und brach wieder in Tränen aus. »Der Tierarzt hat gesagt, er stirbt, wenn er noch länger liegt. Und Papa ist total am Ende, weil er ihn doch gerade heute verkauft hat …«

»Warte einen Moment.«

Lajos verschwand in einem anderen Zimmer. Sekunden später kam er zurück. Er trug jetzt eine Jeans und zog sich einen Pullover über den Kopf. Dann schlüpfte er in seine Schuhe und nahm eine Jacke von einem Haken neben der Haustür.

»Wir lassen Fritzi hier und fahren mit meinem Auto«, entschied er. »Komm.«

Mit mir war nicht mehr viel anzufangen, deshalb band er Fritzi vom Geländer los und führte ihn ums Haus herum in den Stall. Er nahm meinem Pferd Sattel und Trense ab und stellte ihn in eine leere Box.

»Setz dich schon mal ins Auto«, sagte er zu mir. »Ich komme sofort.«

Ich taumelte über den Hof zu dem silbernen Kombi, öffnete die Tür und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Alles kam mir wie ein irrsinniger Albtraum vor. Wahrscheinlich würde ich gleich aufwachen, mit Twix neben mir, und feststellen, dass ich das alles nur geträumt hatte. Aber dann erinnerte ich mich daran, wie Richard Jungblut Tim geohrfeigt hatte und was Opa über Tims Vater und Lajos erzählt hatte.

Ich zuckte zusammen, als die Fahrertür aufging. Lajos stieg ein und startete den Motor. Er drehte die Heizung auf volle Touren und manövrierte das Auto rückwärts aus dem Hof.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hat sich eines eurer Pferde in der Waschbox festgelegt und kann nicht mehr aufstehen«, sagte er. »Ist das richtig?«

»Ja.« Ich versuchte, ihm zu erklären, was geschehen war, aber alles, was ich hervorbrachte, war zusammenhangloses Gestammel: vom Turnier, von Lagunas und dem Sponsor, der ihn gekauft hatte, von Opas Schulden und dem Gerichtsvollzieher und von Christians Schuld an dem Unglück.

Lajos hörte mir zu, ruhig und freundlich, und das brachte mich dann total aus der Fassung. Er war so nett zu mir und hatte keine Sekunde gezögert, mit mir auf den Amselhof zu fahren, dabei hatte ich ihm lauter hässliche Sachen an den Kopf geworfen. Ich schluchzte hysterisch.

Lajos griff an mir vorbei, öffnete das Handschuhfach und zog eine Packung Taschentücher heraus. »Putz dir erst mal die Nase«, sagte er. »Und dann erzählst du mir alles der Reihe nach, okay?«

Ich nickte und schnaubte in ein Taschentuch. Er schien mir meine bösen Worte nicht nachzutragen, und das fand ich doppelt peinlich. Wir fuhren durch den Wald, das Radio lief leise.

»Bist du sauer auf mich?«, flüsterte ich mit Piepsstimme.

»Wieso sollte ich sauer sein?«, erwiderte er.

»Weil … weil ich so gemeine Sachen zu dir gesagt habe. Ich habe rausgefunden, dass ihr früher Freunde wart, Papa, Mama und du. Und dann habe ich in Mamas Schrank den Zeitungsbericht über den Unfall gefunden. Ich … ich hab alles total falsch verstanden. Aber dann hat Opa mir erzählt, was damals wirklich passiert ist und dass gar nicht du gefahren bist, sondern Tims Vater. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe.«

»Ach Elena.« Lajos schüttelte leicht den Kopf und klang plötzlich sehr traurig. »Ich hätte dir die Geschichte erzählen sollen. Ich wusste ja, dass du die Tochter von Micha und Susanne bist. Aber … ich hab mich nicht getraut. Es ist so lange her und es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich rede nicht gern darüber, weißt du.«

Schon der zweite Erwachsene, der heute mit mir sprach, als wäre auch ich erwachsen. Es war ein komisches Gefühl, aber auch ein schönes.

»Du bist wirklich kein kleines Mädchen mehr. Du hast Mumm«, sagte er etwas später und fügte hinzu: »Mehr als ich.«

»Dann bist du nicht böse auf mich?«

»Ganz sicher nicht.« Er lächelte kurz, wurde aber gleich wieder ernst, denn wir fuhren durch das Tor des Amselhofs.

Elena - Ein Leben für Pferde
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