32. Kapitel
Am Sonntagmittag fuhr ich mit Opa nach Heidelberg aufs Turnier, um den Großen Preis live anzuschauen. Im Fernsehen hatte ich am Freitag und Samstagabend gesehen, wie Papa mit Lagunas die beiden schwersten Springen gegen Konkurrenz aus dem In- und Ausland gewonnen hatte. Auch in den anderen Prüfungen hatten er, Jens und Christian gute Ergebnisse gehabt.
Von Tim wusste ich, dass er mit Flipper und seinem zweitbesten Pferd, Tanot de Chardin, beide Junioren-S für sich entschieden hatte. Damit hatte er insgesamt elf S-Springen gewonnen und würde das Goldene Reiterabzeichen verliehen bekommen. Christian kochte deswegen sicherlich vor Zorn!
Ich lief zuerst ins Stallzelt, um nach den Pferden zu gucken. Vor Lagunas Box traf ich Papa im Gespräch mit einem älteren weißhaarigen Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Sie gaben sich die Hand, der Mann klopfte Papa auf die Schulter und ging weg.
»Hallo, Papa«, sagte ich.
Er drehte sich zu mir um. »Hallo, Elena.«
Er sah irgendwie nicht aus wie jemand, der die beiden schwersten Springen des Turniers gewonnen hatte.
»Ist was passiert?«, fragte ich deshalb besorgt.
Mit Mama war alles in Ordnung, das wusste ich, denn ich hatte erst heute Morgen mit ihr telefoniert. Also musste es etwas anderes sein.
»Eigentlich sollte ich mich freuen, denn ich kann jetzt wohl einen großen Teil unserer Schulden abzahlen«, sagte Papa und in seinen Augen blitzte es verdächtig. »Ich habe nämlich gerade Lagunas verkauft. An den Sponsor von Viktor Waluschenko.«
»Was?« Ich war sprachlos. Lagunas war Papas allerbestes Pferd. Mit ihm hatte er – die beiden Siege von gestern und vorgestern eingerechnet – ungefähr fünfzig S-Springen gewonnen.
»Ich wäre dumm gewesen, hätte ich sein Angebot abgelehnt. Lagunas wird nicht jünger, und wenn er sich morgen ein Bein brechen würde, wäre er nichts mehr wert.«
Lagunas schien zu wissen, dass über ihn gesprochen wurde. Er kam an das Quergitter der Box, legte den Kopf schief und knabberte an Papas Jacke. Papa streichelte gedankenverloren seine Nase.
»Ja, mein Junge«, sagte er leise zu dem braunen Wallach. »Sieht so aus, als ob du den Amselhof für uns rettest.«
Seine Stimme klang ganz eigenartig, und plötzlich verstand ich, wie weh es ihm tun musste, sein bestes Pferd hergeben zu müssen, nur weil er dringend Geld brauchte. Aus einem anderen Grund hätte er sich nie und nimmer von dem einzigen Pferd getrennt, an dem er wirklich hing. Es wäre dasselbe gewesen, hätte ich mich von Fritzi trennen müssen. Papa hatte Lagunas als Fohlen gekauft, ihn ausgebildet und zu einem der besten Springpferde Deutschlands gemacht.
Ich ergriff Papas Hand und er legte den Arm um meine Schulter. Eine Weile standen wir schweigend da und betrachteten Lagunas, der das Heu in seinem Heunetz interessanter fand als uns. Die Vorstellung, dass er bald nicht mehr in seiner Box, sondern in irgendeinem Stall in der Ukraine stehen und ich ihn nie wiedersehen würde, machte mich traurig.
Christian tauchte im Stallzelt auf, er hatte eine Starterliste dabei.
»Du bist letzter Starter«, sagte er und blickte von Papa zu mir.
»Geh bitte auf die Meldestelle und tausch Lagunas gegen Calvador.« Papa drehte sich nicht um.
»Wieso denn das?«, fragte Christian.
»Ich habe Lagunas eben verkauft und mit seinem neuen Besitzer ausgemacht, dass ich ihn hier nicht mehr reite«, erwiderte Papa.
Er drückte mich noch einmal, dann ließ er mich los und verließ das Stallzelt.
»Was geht denn jetzt ab?«, regte sich mein Bruder auf. »Wie kann er denn Lagunas verkaufen? Er hat mir doch versprochen, dass ich ihn nächstes Jahr die Junioren-S reiten darf. Das ist ja wohl das Allerletzte!«
»Papa kriegt wahnsinnig viel Geld für Lagunas«, entgegnete ich und wischte mir verstohlen ein paar Tränen aus dem Gesicht. »Da konnte er nicht anders.«
»Klar kann er anders!« Christian war wütend. »So ein Scheiß! Das gibt’s doch nicht!«
»Du bist echt der letzte Egoist!«, warf ich ihm vor. »Meinst du, Papa fällt es leicht, ausgerechnet sein bestes Pferd herzugeben? Aber mit dem Geld kann er die Schulden vom Hof bezahlen.«
»Hach, was weißt du denn schon?« Christian schnaubte verächtlich. »Pipi-Ponymädchen!«
Wenn du wüsstest, dachte ich bei mir, hielt aber die Klappe.
Christian rannte los, um Lagunas streichen zu lassen und Calvador einzutragen. Ich begrüßte unsere anderen Pferde, die in den Boxen nebenan und gegenüber standen. Sollte ich Mama anrufen? Nein, entschied ich. Papa würde ihr von seiner schweren und doch einzig richtigen Entscheidung sicher lieber selbst erzählen.
Bis zum Beginn des Großen Preises war noch etwas Zeit, deshalb streifte ich durch die Gänge der Stallzelte, in der Hoffnung, Tim irgendwo zu treffen. Überall herrschte schon Aufbruchsstimmung. Sattelschränke wurden beladen, Pferde zum Verladen nach draußen geführt. Nur die Pfleger, deren Chefs noch den Großen Preis reiten würden, putzten und sattelten ihre vierbeinigen Schützlinge. Im dritten Gang fand ich endlich Tim, der mit grimmiger Miene den fahrbaren Sattelschrank einräumte. Mein Herz begann sofort zu rasen und ich fragte mich, ob ich Tim jemals ansehen könnte, ohne jedes Mal fast einen Herzinfarkt zu kriegen.
»Hey«, raunte ich ihm zu.
Er zuckte herum, ein erfreutes Lächeln flog über sein Gesicht. Wir hatten täglich telefoniert, daher wusste er schon von meiner Aktion im Büro von Teichert. Davon hatte ihm sogar sein Vater erzählt. Allerdings hatte ich ihm noch nichts von meiner Abmachung mit Herrn Nötzli gesagt. Er hörte mir staunend zu, als ich ihm nun berichtete, was geschehen war.
»Ach, jetzt kapiere ich einiges.« Tim grinste. »Mein Alter war total stinkig, weil der Nötzli am Freitag zu ihm gesagt hat, er würde Quintano jetzt doch nicht zu uns stellen, weil er eine ideale Reiterin gefunden habe. Damit hat er wohl dich gemeint. Ist ja cool!«
»Ich glaube, Herr Nötzli kam auf die Idee, weil er mich vorher mit Fritzi hat springen sehen«, sagte ich. »Oh Tim, du hättest dabei sein sollen! So hoch bin ich mit Fritzi noch nie gesprungen. Es war Wahnsinn!«
»Das hätte ich wirklich gern gesehen.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, doch er lächelte sofort wieder.
»Stell dir vor: Er wollte, dass ich ihm das Vorkaufsrecht gebe. Aber ich habe ihm gleich gesagt, dass ich auf keinen Fall ein Pferd in Zahlung nehmen würde und er war einverstanden.«
»Du willst Fritzi ja nicht verkaufen, oder?«
»Nee, natürlich nicht.« Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wie Papa sich jetzt wohl fühlen mochte. »Obwohl … ich hab schon überlegt, dass ich Fritzi verkaufen würde, wenn er richtig gut wird und ich genügend Geld für ihn kriegen würde, um Opas Schulden abzubezahlen. Aber das ist jetzt nicht mehr nötig.«
»Wieso?«, fragte Tim.
»Mein Vater hat heute Lagunas verkauft.«
»Was?« Tim riss erstaunt die Augen auf. »Wann denn das? Und an wen?«
»Eben gerade. An den Sponsor von diesem Ukrainer.«
»Ach komm!«
Auf einmal stand Richard Jungblut hinter uns. »Du sollst hier nicht Maulaffen feilhalten!«, blaffte er Tim an. »Sieh zu, dass du fertig wirst! Ich will in einer Viertelstunde losfahren.«
Er erkannte mich und hob die Augenbrauen. »Was hast du denn hier zu suchen?«
Das klang ziemlich unfreundlich. Ich wollte nicht, dass Tim wegen mir Ärger mit seinem Vater bekam, und nach allem, was ich von Opa und Oma erfahren hatte, war ich auch nicht besonders scharf darauf, mich länger mit Richard Jungblut abzugeben.
Er wartete nicht mal, bis ich außer Hörweite war. »Wieso quatschst du mit einer von denen?«, fuhr er Tim an.
Ich verstand nicht, was Tim erwiderte, aber seine Antwort schien seinem Vater nicht zu gefallen, denn er holte aus und versetzte Tim eine so heftige Ohrfeige, dass es richtig klatschte.
»Pass auf, was du sagst, Bürschchen!«, sagte er. »Und jetzt mach voran, sonst setzt es noch was!« Damit verließ er das Stallzelt.
Ich war so entsetzt, dass es mir die Sprache verschlagen hatte. Tim presste die Lippen aufeinander und stopfte das Sattelzeug, die Gamaschen, Sporen und anderen Kram achtlos in den Sattelschrank.
»Oh Gott, Tim, das … das wollte ich nicht«, flüsterte ich schockiert und kämpfte mit den Tränen. Tim tat mir schrecklich leid mit so einem fürchterlichen Vater.
»Liegt nicht an dir«, erwiderte Tim und wandte mir den Rücken zu. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Mein Alter findet immer einen Grund, um mir eine zu kleben.«
Endlich drehte er sich zu mir um. Seine linke Wange war knallrot.
»Eines Tages«, sagte er bitter, »eines Tages kriegt er alles zurück. Doppelt und dreifach! Das schwöre ich dir.«