25. Kapitel
Den ganzen Vormittag über hatte ich dieses komische Gefühl im Bauch und es wurde nicht unbedingt besser, als Ariane Tessa und Ricky lauthals vorschwärmte, wie absolut toll Phönix gehen würde, seitdem Tim Jungblut ihr Unterricht gab. Die beiden interessierten sich null für Pferde, aber sie kannten Tim und fanden ihn total süß. Jedes Wort traf mich wie ein Messerstich, ich hätte heulen können, so elend fühlte ich mich. Ariane hatte keine Ahnung, dass ich Tim kannte, sie wollte mich mit ihrem blöden Gequake einfach ärgern und mir unter die Nase reiben, wie viel toller es auf dem Sonnenhof war.
»Eine Achtzig-Meter-Reithalle und kein Schulreiter, der einem vor der Nase herumgurkt«, erzählte sie gerade. »Die Stimmung ist super. Wir sitzen jeden Abend im Reiterstübchen und gestern durfte ich auf einem von Herrn Jungbluts besten Pferden reiten, auf Con Amore. Am besten gefällt mir Tanot de Chardin, Tim nennt ihn nur Tanni oder Tännchen …«
Sie kicherte und redete und redete, erzählte von Jungbluts Pferden und Hunden, von Tim und Tims Mutter und seiner kleinen Schwester Gina, von der ich nicht mal wusste, dass es sie gab – und ganz plötzlich war ich so eifersüchtig wie noch nie in meinem ganzen Leben. Diese dämliche Ariane konnte Tim jeden Tag sehen, genau wie Laura und Lisa-Sophie, sie kannten seine Pferde, seine Familie und sein Zuhause, das ich niemals sehen würde, denn ich war eine Weiland und damit außen vor. Im Sommer konnten sie zusammen grillen, auf Turniere fahren, ausreiten und Spaß haben. Was waren dagegen schon die paar heimlichen Stündchen auf der Waldwiese? Irgendwann würde Tim erkennen, wie mühselig es war, mit mir befreundet zu sein, wenn er es nicht schon längst getan hatte! Ich ballte die Hände zu Fäusten und überlegte, ob ich Ariane mein Englischbuch auf den Kopf hauen sollte, damit sie endlich ihre Klappe hielt. Aber ich durfte ihr auf keinen Fall zeigen, wie schrecklich weh mir ihr Gerede tat, denn dann würde sie immer und immer weitersticheln.
»Vorsicht, Feind hört mit!«, kicherte die bescheuerte Tessa, als ihr Blick auf mich fiel. Sogar sie hatte wohl geschnallt, um was es Ariane ging. Ich zitterte innerlich vor Wut, aber ich schaffte es, stark zu bleiben.
»Schön, wenn’s dir auf dem Sonnenhof besser gefällt als bei uns«, sagte ich in Arianes Richtung. »Ich fand’s nur schade, dass du mir vorher nichts gesagt hast. Wir waren ja irgendwann mal Freundinnen.«
Damit hatte ich der lieben Ariane voll den Wind aus den Segeln genommen, denn das hörte sie nun gar nicht gern. Ihr selbstsicheres Grinsen verschwand, sie wandte sich ruckartig ab und verlor für den Rest des Tages keinen Ton mehr über den Sonnenhof oder Jungbluts.
Als ich nach der achten Stunde nach Hause kam, war Mama wieder zurück. Sie saß in ihrem Büro am Schreibtisch, auf dem sich die Papierberge häuften.
»Da bist du ja.« Ein flüchtiges Aufblicken in meine Richtung.
»Ich geh rüber reiten«, gab ich Bescheid. »Wenn Melike da ist, wollen wir eine Runde ins Gelände.«
»Hm.« Mehr kam nicht. Gute Laune sah anders aus.
Ich rannte nach oben, kontrollierte mein Handy zum millionsten Mal heute. Aber Tim hatte sich nicht gemeldet, also würde es heute wohl nichts mit dem Training werden. Ich zog mich um und ging mit Twix hinüber in den Stall. Der einzige Vorteil von dem G8-Kram war der, dass ich meine Hausaufgaben in der Mittagspause in der Schule machen konnte und dadurch den Nachmittag freihatte.
Natürlich brannte Melike darauf, Lajos alias Waldschrat persönlich kennenzulernen, und mir war alles recht, was mich vom Nachgrübeln über Tim ablenkte.
Es hatte aufgehört zu regnen und wir schafften die Strecke zum Forsthaus in zwanzig Minuten. Die Wintersonne warf ein paar schüchterne Strahlen durch die dicke Wolkendecke, der See glitzerte freundlich und auch das Haus kam mir auf einmal gar nicht mehr unheimlich vor, jetzt, wo ich das Geheimnis des Waldschrats kannte.
Wir lenkten unsere Pferde in den Hof und saßen ab. Lajos kam um die Hausecke. Er trug einen Cowboyhut und grinste, als er uns erkannte.
»Ah, Besuch!«, rief er und setzte den Hut schwungvoll ab.
Erstaunt bemerkte ich, dass sein wilder Vollbart und seine schulterlangen Locken verschwunden waren. Mit dem kurz geschnittenen Haar und ohne Bart sah er viel jünger aus und er schien guter Laune zu sein.
»Das mit dem Waldschrat hat mich dann doch ein bisschen getroffen«, gab er mit einem leichten Grinsen zu und strich sich über das glatt rasierte Kinn.
»So sehen Sie viel besser aus«, erwiderte Melike offenherzig, wie sie eben war. Sie hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Melike Koyupinar, Elenas Freundin, und ich habe Ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt. Das tut mir leid.«
Lajos ergriff ihre Hand und lächelte. »Entschuldigung angenommen. Eigentlich finde ich es gut, dass ihr so aufmerksam seid. Ich hätte ja tatsächlich ein Pferdedieb sein können.«
»Da drüben ist übrigens das Grab«, sagte ich zu Melike und deutete in die gegenüberliegende Ecke des Hofes.
»Das soll eigentlich eine Pferdeschwemme werden«, erklärte Lajos belustigt. »Kommt, stellt eure Pferde in den Stall, dann zeige ich euch alles.«
Wir verschwiegen ihm, dass wir das Forsthaus und den Hof sicher besser kannten als er und folgten ihm in den Stall. Melike erzählte ihm von dem Gespräch der beiden Männer, das wir neulich belauscht hatten, und Lajos fand auch, dass alles wahrhaftig höchst verdächtig geklungen haben musste.
»Für was ist denn der Name Lajos die Abkürzung?«, fragte Melike.
»Das ist keine Abkürzung, es ist ungarisch«, erwiderte Lajos. »Ich bin in Ungarn geboren, kam aber mit meinen Eltern nach Deutschland, als ich neun war.«
»Dann haben wir beide einen Migrationshintergrund«, stellte Melike zufrieden fest. »Ich bin zur Hälfte türkisch. Ein Muggel-Schlammblut.«
Sie kicherte und ich musste auch lachen. Mit Melike war alles viel einfacher. Schade, dass wir nicht zusammen in einer Klasse waren.
Draußen wurde es heller, die Wolkendecke lockerte auf und die Wintersonne kam zum Vorschein. Lajos legte zwei Strohballen vor die Boxen.
»Bitte sehr, die Damen, nehmt Platz.«
Wir kicherten und setzten uns hin. Es war gemütlich in dem kleinen Stall. Twix sprang auf Lajos’ Schoß und ließ sich von ihm streicheln, ja er schloss sogar genießerisch die Augen, was bei ihm nur selten der Fall war.
»So, jetzt erzählt mir mal was über euch«, sagte er.
»Nein, Sie sind zuerst dran«, entgegnete Melike. »Ich bin total neugierig. Warum wohnen Sie hier im Wald? So ganz allein.«
Ich bemerkte, wie ein Schatten über Lajos’ Gesicht huschte, aber er lächelte gleich darauf wieder.
»Ganz allein bin ich ja nicht«, antwortete er leichthin. »Ich habe immer Pferde hier. Und ich mag es gern ruhig.«
Melike scheute sich nicht, ihn mit Fragen zu löchern: Was machen Sie mit den Pferden? Wie finden die Leute Sie hier mitten im Wald? Wo haben Sie vorher gewohnt? Mir war es ein bisschen peinlich, aber Lajos antwortete tatsächlich auf jede Frage. Er hieß mit Nachnamen Kertészy, war eigentlich Tierarzt und hatte sogar einen Doktortitel. In den letzten sechs Jahren hatte er in den USA und in der Schweiz gelebt, aber dann war seine Mutter sehr krank geworden, und deshalb war er nach Deutschland zurückgekehrt. Durch Zufall hatte er seinen alten Freund Friedrich Gottschalk wiedergetroffen und war so an das Forsthaus gekommen.
»Haben Sie keine Frau?«, bohrte Melike weiter, aber diese Frage schien Lajos dann doch zu weit zu gehen.
»Du lässt mir gar keine Geheimnisse«, erwiderte er und grinste. Sein Blick wanderte zu Fritzi, der in einer der Boxen stand und Heu knabberte.
»Dein Fritzi ist übrigens ein sehr schönes Pferd, Elena. Warum hat er Probleme mit Männern? Hat er schlechte Erfahrungen gemacht?«
»Allerdings.« Jetzt war ich an der Reihe und schilderte Lajos in Kurzfassung Fritzis Lebens- und Leidensgeschichte.
»Elena hat Fritzi geheilt«, behauptete Melike. »Und Twix auch.«
Der Hund öffnete ein Auge, als er seinen Namen hörte.
»Er war schlimm verletzt, als Elena und ich ihn gefunden haben.« Melike senkte die Stimme. »Elena kann nämlich was mit ihren Händen machen, und dann verheilen Wunden schneller und so. Und sie spürt, wo es einem Pferd wehtut.«
»Quatsch«, widersprach ich und merkte, wie ich rot wurde.
Aber Lajos sah mich interessiert an. »Stimmt das?«, fragte er.
»Na ja …« Ich blitzte Melike wütend an, aber sie grinste nur. »Ich … ich weiß auch nicht. Aber wenn ich eine Stelle berühre, an der ein Pferd oder ein Hund Schmerzen hat, dann … dann spüre ich das irgendwie in meinen Händen. Das ist wie ein Prickeln, ein bisschen wie ein … Stromstoß. Das erste Mal habe ich es damals bemerkt, als ich Fritzi gepflegt habe.«
Lajos saß uns gegenüber und blickte mich unverwandt aus seinen dunklen Augen an. Plötzlich zeigte er auf Melikes Jasper. »Zeig mir doch mal die Stelle, an der er ein Problem hat«, forderte er mich auf.
Melike und ich wechselten einen erstaunten Blick. Woher konnte Lajos wissen, dass Jasper seit Wochen nicht klar lief und immer wieder lahmte? Drei verschiedene Tierärzte hatten schon an ihm herumgedoktert, allerdings ohne nennenswerten Erfolg.
»Na los«, ermutigte Lajos mich.
Ich stand also auf, ging zu Jasper in die Box und ließ meine Hände zuerst über seine Beine gleiten. Lajos hatte sich erhoben, lehnte in der offenen Boxentür und sah mir neugierig zu. Mir fiel ein, dass Friedrich Gottschalk gestern behauptet hatte, Lajos habe goldene Hände und sei besser als jeder Schulmediziner. Mir war das Ganze total peinlich, ich kam mir vor wie eine Hochstaplerin. Aber dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich. Im Stall war es auf einmal so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. An Jaspers Beinen und Hufen spürte ich nichts, aber an seiner Flanke war etwas, ein leichtes Vibrieren. Als ich meine Hände über seine Kruppe gleiten ließ, zuckte ich unvermittelt zusammen. Ich schlug die Augen auf und blickte Lajos an.
»Da habe ich etwas gespürt«, flüsterte ich.
Er schüttelte leicht den Kopf und ich zweifelte sofort an mir, aber dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
»Das ist ja unglaublich«, sagte er. »Der arme Bursche hat eine Blockade am Kreuzdarmbein – oder Iliosacralgelenk, wie es medizinisch korrekt heißt.«
»Woher können Sie das wissen?«, staunte Melike. »Wir haben ihn drei Mal röntgen lassen, ohne dass etwas dabei herausgekommen ist.«
»Ich habe schon gehört, dass er lahmt, als ihr auf den Hof geritten seid«, erwiderte Lajos bescheiden. »Und den Rest habe ich dann gesehen. Wenn du erlaubst, renke ich ihn ein. Geh an seinen Kopf und halte ihn fest.«
Melike tat, wie ihr befohlen, und dann sahen wir staunend zu, wie Lajos Jaspers Hinterbein ergriff, es erst sanft nach vorn und dann zur Seite zog. Jasper war die Sache nicht ganz geheuer und er wollte das Bein wegziehen, aber in dem Moment zog Lajos einmal energisch, es knackste vernehmlich.
»Ups!«, machte Melike erschrocken und Jasper schien dasselbe zu denken. Er blickte sich verwundert zu uns um.
»Die Blockade ist jetzt gelöst«, erklärte Lajos uns. »Aber du musst dein Pferd in den nächsten Wochen und Monaten anders bewegen, um die Muskeln und Bänder richtig zu trainieren. Außerdem musst du ihn warm halten. Wenn du mit ihm bei dieser Kälte ins Gelände reitest, solltest du ihm unbedingt eine Nierendecke überlegen.«
Er stellte einen richtigen Trainingsplan für Jasper auf, und das erste Mal, seitdem ich Melike kannte, erlebte ich sie sprachlos.
Als wir eine Stunde später zurück zum Amselhof ritten, redete sie dafür ohne Unterbrechung. Lajos hatte sie tief beeindruckt und ihre Schwärmerei für meinen Bruder war damit erledigt. Ihr neuer Stern hieß Lajos Kertészy.
Ich stellte fest, dass der Nachmittag vergangen war, ohne dass ich an Tim gedacht oder mein Handy überprüft hatte. Er hatte sich nicht gemeldet.
»Lajos Kertészy«, sagte Melike. »Ich werde zu Hause gleich seinen Namen googeln. Der Typ ist spitze. Und wir dachten …«
Ich hörte ihr nicht mehr zu. Der Stachel der Eifersucht wühlte in meinem Herzen und hinterließ dort einen so unbeschreiblichen, grenzenlosen Kummer, dass es mir für einen Moment den Atem raubte. Ob Tim wohl gerade Ariane Unterricht gab? Oder mit ihr und Laura im Reiterstübchen auf dem Sonnenhof saß? Ich musste schlucken. Gestern hatte er mich noch umarmt, aber heute Morgen im Bus war er plötzlich ganz fremd gewesen. Was sollte ich machen, wenn er sich überhaupt nicht mehr bei mir meldete? Ich wollte mich nicht aufdrängen, aber wenn er bis heute Abend nicht geschrieben hatte, dann würde ich ihm simsen. Egal, was er von mir denken mochte.