10. Kapitel
»Hallo.« Tim blieb neben mir stehen.
Mein Herz schlug heftig gegen meine Rippen. »Hey.«
Ich tat lässig, als wäre es das Normalste der Welt, dass Tim auf dem Amselhof auftauchte, während mein Puls raste wie nach einem Hundertmetersprint. Jetzt bloß nicht wieder irgendein blödes Zeug reden!
»Was machst du denn hier?« Meine Knie waren weich wie Gummi, ich traute mich kaum, in seine Augen zu schauen, die mir noch blauer erschienen als sonst.
»Ich hab gehört, hier soll heute richtig was abgehen und du reitest auch.« Er grinste. »Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Wann bist du dran?«
»Das ist erst das E-Springen«, sagte ich. »Ich reite gleich im A.«
Tausend Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, mir war übel und ich bereute die Waffel, die ich eben verschlungen hatte. Hoffentlich hatte ich nicht noch Schokoreste im Gesicht! Unauffällig fuhr ich mir mit der Hand über den Mund.
»Lass uns weiter nach hinten gehen«, schlug ich vor. »Wenn du Christian aus dem Weg gehst, kann eigentlich nicht viel passieren.«
»Ich werde mich im Schutz der Menschenmassen hinter den Pfeilern verstecken.« Tim schlug den Kragen seiner Jacke hoch.
Wir sahen uns an und lächelten, dann senkte ich sofort wieder verlegen den Kopf. Absolut unmöglich, ihm in die Augen zu gucken und gleichzeitig zu denken!
Unten im Parcours war die Hölle los. Die Schulpferde, die sonst nie auf ein Turnier kamen, fanden die Zuschauer und die Veränderungen in der Reithalle nicht besonders prickelnd, und die Reiter, die genauso wenig Turniererfahrung hatten, waren nervös und ritten grottenschlecht. Verweigerungen, Stürze und zwanzig Fehler oder mehr waren das Ergebnis und auf der Tribüne wurde mehr gelacht als geklatscht.
»Hier ist richtig was los«, stellte Tim amüsiert fest.
»In der Springstunde sieht’s normalerweise nicht so schlimm aus«, verteidigte ich die schlechten Leistungen meiner Vereinskollegen.
»Wie beim modernen Fünfkampf im Fernsehen.« Tim grinste.
Ich musterte ihn verstohlen von der Seite und konnte noch immer kaum glauben, dass er neben mir saß. Warum war er wohl wirklich hierhergekommen und ging das Risiko ein, meinem Bruder über den Weg zu laufen? An den läppischen Vereinsmeisterschaften konnte es kaum liegen, obwohl er das behauptet hatte.
Inzwischen hatte der letzte Teilnehmer des E-Springens die Halle verlassen und die Männer vom Parcoursdienst sortierten das Kleinholz, das er hinterlassen hatte. Der Sprecher brauchte eine ganze Weile, um die Fehler zusammenzuaddieren. Die vier Starter, die den Parcours einigermaßen geschafft hatten, ritten zur Siegerehrung in die Bahn.
»Ach, schau an«, sagte Tim und lachte leise. »Die schöne Ariane hat das Springen gewonnen.«
»Eigentlich hätte ich Phönix reiten sollen«, antwortete ich und merkte, dass es mich überhaupt nicht mehr ärgerte. »Aber urplötzlich wollen die Teicherts ein neues Pferd für Ariane kaufen und das war’s dann für mich.«
»So was kenne ich.« Tim nickte. »Mein Vater hat letztes Jahr eine Woche vor der Hessenmeisterschaft das Pferd verkauft, mit dem ich im Kader war. Geschäft ist eben Geschäft.«
Genau das hatte Papa eben auch gesagt.
»Und was hast du gemacht?«, fragte ich.
Tim wandte sich mir zu und lächelte. Seine Zähne blitzten weiß im dämmrigen Licht.
»Ich hab ein anderes Pferd geritten«, antwortete er. »Und bin trotzdem Hessenmeister bei den Junioren geworden.«
Auf einmal fiel mir siedend heiß ein, dass ich allmählich satteln gehen musste. Ich sprang auf.
»Bleibst du noch hier?«, wagte ich Tim zu fragen.
»Klar, ich will dich doch reiten sehen.« Er zwinkerte mir zu. »Aber lass mich nicht so lange allein, mitten im Lager des Feindes.«
Ich lächelte zittrig und beeilte mich, in den Stall zu kommen.
Melike hatte Sirius schon aus der Box geholt und auf der Stallgasse angebunden. Das Fell des Ponys war makellos schneeweiß, seine Mähne perfekt eingeflochten.
»Ich dachte schon, du wärst ins Klo gefallen«, sagte ich.
»Ich hab Christian ein bisschen im Auge behalten«, erwiderte Melike. »Muss ja nicht sein, dass er Tim über den Weg läuft.«
Meine Freundin hatte mich also nicht im Stich gelassen, ganz im Gegenteil.
»Wo ist Tim jetzt?«, fragte sie.
»In der Halle.« Ich hatte Mühe, meinem Pony die Trense anzulegen, so sehr zitterten meine Hände vor Aufregung. »Ist es nicht irre, dass er hier ist?«
»Er mag dich«, behauptete Melike, nahm mir die Trense aus der Hand und trenste Sirius auf.
»Meinst du wirklich?«, fragte ich zweifelnd. Noch nie hatte sich ein Junge für mich interessiert. »Ich bin doch voll hässlich mit dieser blöden Zahnspange und meiner Pickelfratze.«
»Du spinnst. Wann hattest du denn das letzte Mal einen Pickel?«, entgegnete Melike. »Und sag mir, warum Tim sonst extra hierhergekommen ist. Oder glaubst du, er hat gehofft, sich hier bei irgendwem was abgucken zu können?«
»Nein. Das sicher nicht«, gab ich zu und fuhr mir verstohlen mit den Fingern über das Gesicht. Melike hatte recht, ich hatte seit Wochen keinen neuen Pickel mehr gehabt. Ich stieß einen glücklichen Seufzer aus, dann machte ich einen Luftsprung. Sirius wich erschrocken zur Seite.
»Du hast’s gut.« Melike verzog traurig das Gesicht. »Christian würde so was für mich nie und nimmer tun.«
»Wo treibt er sich eigentlich rum?«
»Er weicht Ariane nicht von der Seite und lacht über jedes dämliche Wort, das sie von sich gibt«, erwiderte Melike bekümmert. »Ich bin für ihn nur eine praktische Pferdepflegerin. Mehr nicht.«
»Sei froh. Mein Bruder ist ein Idiot.« Ich legte Sirius den Sattel auf den Rücken und schnallte den Gurt fest. »Was findet der wohl plötzlich an Ariane?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall wird er Tim nicht entdecken, wenn er sie weiterhin so anglotzt.« Melike zuckte resigniert mit den Schultern und folgte Sirius und mir hinaus in Richtung kleine Halle.
Ich musste mir den Parcours für das A-Springen nicht mehr ansehen, denn es war derselbe wie im E-Springen, nur waren die Hindernisse erhöht worden. Auch wenn es mir für Melike leidtat, so musste ich mir wenigstens um Tim keine Gedanken machen. Papa würde ihn in dem Tumult wahrscheinlich nicht mal erkennen, wenn er direkt vor ihm stünde.
In der kleinen Abreitehalle herrschte ein heilloses Chaos. Für fünf oder sechs Reiter war genügend Platz, aber offensichtlich versuchten alle 21 Teilnehmer des A-Springens gleichzeitig abzureiten. Bei den unerfahrenen Reitern lagen die Nerven blank, sie schrien sich gegenseitig an und preschten in halsbrecherischem Tempo gegen die beiden Probesprünge. Corinna Faist stürzte sogar vom Pferd, als ihre Stute vor dem Oxer plötzlich verweigerte.
»Großer Gott«, murmelte ich, »das ist ja lebensgefährlich!«
Es gelang mir mit einigem Glück, mit Sirius zu traben und zu galoppieren, ohne über den Haufen geritten zu werden. Kurz bevor ich an der Reihe war, machte ich noch zwei Sprünge, das musste reichen. Auf dem Weg hinüber in die Reithalle knöpfte ich mein Jackett zu und gab Melike meine Jacke.
Ulrike Meinhardt kam uns mit ihrer braunen Stute Mirage entgegen und machte ein langes Gesicht.
»Wie war’s bei dir?«, erkundigte ich mich, obwohl ich mir die Frage hätte sparen können.
»Ausgeschieden.« Ulrike zog eine Grimasse. »Ich hab gleich das erste Hindernis von der falschen Seite angeritten. Viel Glück!«
»Danke!«
Ich ritt im Schritt durch die Vorhalle, fasste die Zügel kürzer und trabte in den Parcours. Sirius spitzte aufmerksam die Ohren und kaute am Gebiss. Er liebte die Turnieratmosphäre und wusste genau, wann es ernst wurde.
Ich warf einen Blick zu Tim hinüber, der noch immer auf seinem Platz hinter dem Betonpfeiler saß. Er lächelte und hob die Faust als Zeichen, dass er mir die Daumen drücken würde. Papa stand mit ein paar Bekannten an der Bande und nickte mir aufmunternd zu. Plötzlich war ich aufgeregt. Hoffentlich blamierte ich mich jetzt nicht vor Tim!
Aber Sirius und ich hatten schon viele Parcours gemeinsam gemeistert und in dem Moment, in dem ich angaloppierte und den ersten Sprung anritt, war jede Aufregung vergessen. Mein Pony flog mühelos über die Hindernisse, ich ritt die Wendungen so eng wie möglich und schaffte einen fehlerfreien Ritt in der bisherigen Bestzeit. Erleichtert klopfte ich Sirius den Hals und saß draußen, vor dem Einritt, ab. Nur zwei Reiter waren schneller als ich gewesen, hatten dafür aber Fehler.
»Cool!«, jubelte Melike. »Du hast gewonnen! Das war der letzte Starter!«
»Wir erwarten den letzten Starter in der Bahn«, sagte der Ansager aber just in diesem Augenblick.
»Was?« Erstaunt blickten wir uns um, denn auf der Startertafel hatte kein Pferd mehr gestanden. Doch da erschien Christian in der Tür. Er saß auf Glücksfee, der Fuchsstute von Ariane, und Ariane lief mit der Pferdedecke über dem Arm wichtigtuerisch hinter ihm her.
»Was soll denn das wohl?«, wunderte Melike sich.
»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern.
Die Fuchsstute sprang mit Ariane überhaupt nicht mehr, deshalb wollte sie ein anderes Pferd haben. Mein Bruder war normalerweise sehr darauf bedacht, bei öffentlichen Auftritten gut auszusehen, und das war mit Glücksfee, diesem störrischen Vieh, nicht unbedingt garantiert.
»Viel Glück!«, rief Ariane, aber Christian grinste nur lässig.
Ich blickte zu Papa hinüber, der auch erstaunt zu sein schien. Dummerweise hatte sich Glücksfee ausgerechnet heute vorgenommen, brav zu sein, und sprang gehorsam und fehlerfrei alle Hindernisse. Dadurch, dass die Stute einen viel größeren Galoppsprung hatte als mein Pony, war sie drei Sekunden schneller.
»Jetzt hat der Affe auch noch gewonnen!«, zischte Melike erbost, während Ariane Freudentänze vollführte, als hätte ihr Pferd soeben den Großen Preis von Aachen gewonnen.
»Das war toll, ganz toll!« Überschwänglich klopfte sie ihrem Pferd den Hals. »Echt spitze!«
»Kein Problem.« Christian grinste überheblich in unsere Richtung, als wollte er sichergehen, dass wir jedes Wort mitkriegten.
»Dafür kriegst du einen dicken Kuss«, flötete Ariane vernehmlich und Melike machte ein Gesicht, als ob sie am liebsten gekotzt hätte.
Ich schwang mich in den Sattel und ritt zur Siegerehrung in die Halle. Innerlich kochte ich vor Zorn auf meinen Bruder. Es war total fies, wie er sich Melike gegenüber verhielt. Erst hatte er sich von ihr auf den Turnieren und im Stall helfen lassen und jetzt turtelte er so offensichtlich mit der blöden Ariane vor allen Leuten herum, dass es schon mehr als peinlich war!
»Du bist echt ein Arsch!«, fuhr ich Christian an, als ich Sirius neben ihn lenkte.
»Wieso?« Er blickte mich von oben herab an. »Bist du sauer, weil ich gewonnen habe?«
»Quatsch«, erwiderte ich. »Warum ziehst du hier so eine Schau mit Ariane ab?«
»Ich bin ja wohl mit niemandem verheiratet«, gab Christian spöttisch zurück. »Arianes Mutter hat mich gefragt, ob ich Glücksfee mal über den Parcours reiten kann. Das nennt man Kundenservice, Schwesterchen. Wir sind schließlich ein moderner Dienstleistungsbetrieb und Teicherts sind gute Kunden.«
Ich schnaubte verächtlich und setzte schon zu einer giftigen Bemerkung an, aber da begann die Siegerehrung.
Nach der Ehrenrunde beeilte ich mich, Sirius zu versorgen. Ich wollte Tim unbedingt meinen Fritzi zeigen.