14. Kapitel
»Wir müssen das der Polizei melden!« Melike keuchte wie ein Rennpferd nach dem Zieleinlauf. »Unbedingt!«
»Auf keinen Fall!« Ich schüttelte heftig den Kopf.
Jetzt, wo wir den düsteren Wald hinter uns gelassen hatten und keine hundert Meter entfernt die Lichter des Amselhofes in tröstlicher Vertrautheit leuchteten, fiel die nackte Panik von mir ab. Ich sprang vom Fahrrad, stemmte meine Arme in die Seiten und atmete ein paarmal tief ein und aus.
»Mensch, Elena«, sagte Melike, »das sind die Pferdediebe, von denen seit Wochen geschrieben wird! Wenn wir nichts erzählen, klauen die immer weiter Pferde!«
»Das ist mir egal.« Ich schob mein Fahrrad den sandigen Weg entlang. Meine Gedanken rasten. Und landeten immer wieder an derselben Stelle. Das Training mit Fritzi auf der Waldwiese.
»Jetzt warte doch mal!«, rief meine Freundin mir nach und ich blieb stehen.
»Wenn meine Eltern rauskriegen, dass ich heimlich im Wald herumreite, dann bin ich tot«, erklärte ich mit dramatisch gesenkter Stimme. »Und sie kriegen es raus, wenn wir zur Polizei gehen.«
Melike blickte mich verständnislos an. »Das kann nicht dein Ernst sein«, antwortete sie ungläubig. »Dieser Waldschrat ist mit einer Axt auf uns losgegangen und du willst einfach nichts tun?«
»Nein, ich will ja nicht nichts tun.« Ich suchte krampfhaft nach den passenden Worten, um meiner besten Freundin zu erklären, was mein Problem war. »Aber ich kann jetzt keinen Krach mit meinen Eltern gebrauchen. Dann kann ich das Training mit Tim und Fritzi abhaken. Versteht du?«
Melike nickte langsam. »Ach so, schon klar«, räumte sie ein. »Da könntest du recht haben.«
Sie kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe und dachte nach. Wir schoben unsere Fahrräder bis zum Stall.
»Wir müssen trotzdem irgendetwas tun«, sagte Melike. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. »Das ist es! Ich rufe mit unterdrückter Nummer bei der Polizei an und sage, dass sie Leute in den Wald schicken sollen! Wie findest du das?«
Im Gegensatz zu mir besaß Melike seit einer Weile ein Handy, um das ich sie glühend beneidete. Der Anruf würde also kein Problem sein und ich fand den Kompromiss in Ordnung. Wenn die Polizei die Pferdediebesbande am Forsthaus hochnahm, würde sich das zwar ganz sicher herumsprechen, aber sobald die Kerle verhaftet waren, würde es für meine Eltern keinen Grund mehr geben, mir Ausritte zu verbieten.
Melikes Handy klingelte. Es war ihre Mutter, die wissen wollte, wo sie bleibe. Wir verabschiedeten uns eilig und sie radelte davon.
Ich schob mein Fahrrad durch den Stall und warf einen Blick in die große Reithalle. Mein Bruder saß auf Quintano, dem Pferd von Herrn Nötzli, mit dem Papa nicht so gut klarkam. Neugierig trat ich näher an die Bande heran. Papa hatte eine niedrige Sprungreihe aufgestellt, die mit einem Oxer endete, und Christian versuchte gerade, das nervöse Pferd zum ersten Sprung hinzureiten. Der braune Wallach hatte schon weißen Schaum am Hals, riss hektisch den Kopf hoch und donnerte viel zu schnell auf die Sprungreihe zu.
»Abwenden!«, rief Papa.
Christian hatte alle Mühe, Quintano unter Kontrolle zu behalten. Er stieß einen Fluch aus und gab eine harte Parade.
»So geht das nicht!« Papas Stimme klang ärgerlich. »Mach ihm doch keinen Druck! Du sollst ihn nur hingehen lassen.«
»Das versuch ich ja«, erwiderte mein Bruder aufgebracht. »Aber sobald ich um die Ecke komme, reißt er den Kopf hoch und zischt ab wie ein Idiot.«
Ich machte ein paar Schritte rückwärts und verließ ungesehen die Halle. Ob Melike schon bei der Polizei angerufen hatte? Vielleicht konnte ich sie später noch anrufen. In Gedanken versunken ging ich hinüber zum Haus. Die Fenster der Gaststätte waren dunkel, das Auto von Opa war nicht da. Auch Mamas Golf stand nicht vor der Garage.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als sich ein dunkler Schatten vom Boden löste und auf mich zukam.
»Ach, du bist’s, Robbie. Hast Hunger, was?«
Ich zog meine Schuhe aus, nahm den Haustürschlüssel aus seinem Versteck unter der Fußmatte und schloss die Tür auf. Twix flutschte an mir vorbei ins warme Haus, der Berner Sennenhund blieb gehorsam draußen. In der Küche machte ich das Futter für die beiden Hunde– normalerweise tat Mama das – und stellte Robbie den Napf neben die Haustür. Twix futterte in der Küche.
Es war Viertel vor sieben. Ich ging in die Diele, nahm das Telefon aus der Ladestation und wählte die Nummer von Melikes Eltern. Meine Freundin war sofort dran.
»Und? Hast du schon angerufen?«, fragte ich gespannt.
»Ich hab mich noch nicht getraut«, flüsterte Melike. »Hinterher haben die bei der Polizei irgendeinen Trick und kriegen die Nummer raus, auch wenn ich sie unterdrückt habe.«
Ich war insgeheim erleichtert. Und wenn wir morgen das erste Mal mit Fritzi trainierten, würde ich eben die Strecke reiten, die Melike und ich heute auf dem Weg zur Wiese genommen hatten.
Scheinwerfer näherten sich und stoppten vor unserer Garage.
»Meine Mutter kommt gerade heim«, sagte ich. »Wir sehen uns morgen!«
Ich stellte das Telefon wieder weg und rannte die Treppe hoch. Es half nichts, bis morgen musste ich noch Französisch und Mathe machen, trotz Tim und Fritzi und Waldschrat.