18. Kapitel
Im ganzen Stall hatte es sich herumgesprochen, dass ich auf dem Lehrgang Calvador in der vierten Stunde reiten würde, und um drei Uhr drängten sich so viele Zuschauer wie selten an der Bande der großen Reithalle. Mama half mir beim Satteln.
»Hoffentlich mache ich nichts falsch«, sagte ich sicher zum hundertsten Mal. »Das wäre mein Ende!«
Mama lächelte und bürstete Calvadors schneeweißen Schweif.
»Dein Vater hätte dir nicht erlaubt, Calvador zu reiten, wenn er nicht meinen würde, dass du mit ihm zurechtkommst«, erwiderte sie. »Außerdem hast du ihn doch schon geritten.«
»Trockengeritten«, korrigierte ich meine Mutter. »Das ist ja wohl was ganz anderes.«
Ich betrachtete den Hengst, der ganz gelassen dastand. Er war ein gutes Stück größer als Fritzi und auf einmal hatte ich ein mulmiges Gefühl. Mit der Sicherheitsweste, auf der Papa bestand, wenn ich bei ihm in der Springstunde ritt, fühlte ich mich unbehaglich.
Schließlich war es so weit: Ich ergriff Calvadors Zügel und führte ihn quer durch den Stall zur Reithalle. Außer mir ritten Melike, Ariane und Saskia, die Tochter eines von Papas Springreiterfreunden, in meiner Abteilung mit.
Ein allgemeines Murmeln lief durch die Zuschauer, als ich nun den mächtigen Schimmel in die Halle führte. Ich war mir nur zu bewusst, dass mich alle anstarrten, auch Christian und Jens, die Papa in der Bahn halfen. Mama warf mich in den Sattel, nachdem ich die Steigbügel heruntergezogen hatte – und dann gab es kein Zurück mehr. Die Bandentür wurde geschlossen, die Stunde begann.
Obwohl Calvador so groß und temperamentvoll war, zeigte er sich butterweich im Maul und reagierte sehr sensibel auf jede Hilfe. Schon nach ein paar Runden stellte ich fest, dass es nicht nur eine Auszeichnung, sondern ein echtes Vergnügen war, dieses Pferd zu reiten.
Es war knisterkalt in der Reithalle, deshalb wärmten wir unsere Pferde sorgfältig auf, bevor es ans Springen ging.
In der ersten Lehrgangsstunde standen Stangenarbeit und Springgymnastik auf dem Programm und ich dankte Tim innerlich für die heimlichen Springstunden auf der Wiese, bei denen wir genau das immer geübt hatten. Calvador war ein Riesenunterschied zu Sirius, und wenn ich nicht bereits so viel mit Fritzi gesprungen wäre, hätte ich sicherlich Probleme bekommen, denn mit einem Pony musste man vieles ganz anders reiten als mit einem Großpferd.
Ariane würdigte mich während der ganzen Stunde keines Blickes – es war eindeutig, dass ich ihr heute die Schau stahl, auch wenn ihr Vater mit der Videokamera auf der Tribüne stand, um sie beim Reiten zu filmen.
Zum Abschluss ließ Papa uns einen kleinen Parcours springen. Zuerst war Melike mit Jasper an der Reihe, dann Saskia, danach Ariane mit Phönix. Auch bei mir klappte alles wunderbar; ich klopfte dem Hengst glücklich den Hals, als wir den letzten Oxer überwunden hatten.
»Das war wirklich gut, Elena«, sagte Papa zu mir und es klang ein bisschen erstaunt, so als ob er mir das nicht unbedingt zugetraut hätte. »Du hast ein gutes Auge und eine feine Hand!«
Ich grinste zufrieden. Genau das hatte Tim auch gesagt!
Melike platzte fast vor Ungeduld. Sie hatte Jasper in Rekordgeschwindigkeit versorgt, Sirius gesattelt und hüpfte nun von einem Bein aufs andere, während ich Calvador fertig machte.
»Beeil dich doch!«, drängte sie mich. »Wir müssen los, bevor es dunkel wird.«
Sie konnte es nicht abwarten nachzusehen, ob ihr Anruf bei der Polizei gewirkt hatte, deshalb hatten wir verabredet, nach der Stunde mit Fritzi und Sirius zum Forsthaus zu reiten. Papa und Mama würden kaum bemerken, dass ich nicht da war, denn sie waren noch mindestens bis neun Uhr mit dem Lehrgang beschäftigt.
Melike zerrte den armen Sirius hinter sich her, ich schleppte Fritzis Sattel und Trense hinüber zur Scheune. Wenig später trabten wir Richtung Wald. Viel Zeit blieb uns nicht, denn gegen fünf würde es bereits dunkel werden. Wir brauchten knapp zwanzig Minuten bis zum Waldsee.
»Meinst du, die waren schon da?«, nervte Melike zum wiederholten Mal.
»Du hast gestern um neun angerufen«, antwortete ich geduldig. »Natürlich waren die schon da. Wahrscheinlich sitzt der Waldschrat längst im Gefängnis.«
Wir trabten um die letzte Wegbiegung und parierten durch.
»Oder auch nicht«, sagte Melike enttäuscht.
Friedlich lag das Forsthaus am Ufer des Sees, Licht leuchtete aus den Fenstern und spiegelte sich golden in der dunklen Wasseroberfläche. Qualm stieg aus dem Schornstein in die windstille, kalte Luft.
»Das gibt’s doch nicht!« Meine Freundin schüttelte den Kopf. »Die Polizei muss Hinweisen aus der Bevölkerung nachgehen, auch wenn sie anonym sind.«
»Da stehen Autos im Hof«, stellte ich mit Adleraugen fest. »Komm, wir müssen näher ran.«
Wir ritten auf das Forsthaus zu, blieben aber im Schutz der Bäume.
»Ich gucke jetzt nach, ob noch Pferde da sind«, sagte Melike entschlossen und sprang aus Sirius’ Sattel. Sie zog dem Pony die Zügel über den Kopf und reichte sie mir.
»Mach das lieber nicht!«, rief ich leise. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, aber Melike ließ sich nicht aufhalten. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich aus sicherer Entfernung, wie sie durch das Hoftor schlich und hinter dem Haus verschwand.
Es war totenstill im Wald. Hin und wieder knackte irgendwo ein Ast, in der Nähe schrie ein Käuzchen und ich schauderte. Oma sagte immer, dass jemand sterben würde, wenn man einen Käuzchenruf hörte. Fritzi scharrte mit dem Vorderhuf im trockenen Laub. Er mochte es nicht, lange irgendwo herumzustehen. Wieder schrie das Käuzchen, es klang unheimlich, wie »Komm mit! Komm mit!«.
Verdammt, wo blieb Melike nur? So lange konnte es wohl kaum dauern, einen Blick in die Scheune zu werfen! Ich starrte durch die Baumstämme hinüber zum Haus und glaubte nicht richtig zu sehen: Meine Freundin schlich gebückt über die Veranda und spähte durch eines der Fenster. War sie lebensmüde? Meine Unruhe übertrug sich auf mein Pferd, zu meinem Entsetzen wieherte es plötzlich. Im Wald war es so still, dass das Wiehern laut wie ein Fanfarenstoß hallte.
Als ich das nächste Mal zum Haus hinüberblickte, war Melike verschwunden, aber die Tür war aufgegangen und im hellen Lichtschein, der nach draußen fiel, erkannte ich den Waldschrat. Neben ihm stand ein anderer Mann und er hielt etwas in der Hand, das wie eine Pistole aussah. Jetzt hob er es hoch, und als ich schon sicher war, im nächsten Augenblick einen Schuss krachen zu hören, flammte ein Lichtstrahl auf. Er hatte eine Taschenlampe! Ich duckte mich im Sattel, aber das würde nicht viel nützen. Sirius’ weißes Fell leuchtete im Dämmerlicht wie Silber.
Schnelle Schritte näherten sich, ich erkannte Melike, die rannte, als ob der Teufel persönlich hinter ihr her wäre.
»Hier!«, zischte ich aus dem Unterholz.
Sekunden später riss sie mir Sirius’ Zügel aus der Hand und kletterte in den Sattel des Ponys. Der Lichtstrahl der Taschenlampe irrte über die Bäume. Unsere Pferde verursachten einen mörderischen Krach, als unter ihren Hufen trockene Zweige zerbrachen. Endlich hatten wir den Weg erreicht, trabten um die Wegbiegung und das Forsthaus war außer Sichtweite.
»Puh! Ich glaub, ich hab die hundert Meter in sieben Sekunden geschafft«, schnaufte Melike. »Mein Sportlehrer wäre stolz auf mich gewesen.«
»Jetzt erzähl schon!«, drängelte ich gespannt. »Was hast du gesehen?«
»Also, die Pferde waren noch da«, antwortete sie. »Ich hab sie mit dem Handy fotografiert – als Beweis.«
Wir parierten durch zum Schritt.
»Elena«, sagte Melike mit bebender Stimme, »du wirst nicht glauben, wer der Mann war, der beim Waldschrat in der Bude gehockt hat.« Sie machte eine dramatische Pause.
»Jetzt mach’s nicht so spannend.« Ich hielt es kaum noch aus.
»Friedrich Gottschalk!«
»Nein! Quatsch!« Ich schüttelte schockiert den Kopf. »Das kann nicht sein. Du musst dich verguckt haben.«
»Hab ich nicht«, beteuerte Melike. »Ich kenne ihn doch. Und es war sein Auto.«
Jeder in Steinau kannte Friedrich Gottschalk. Er war Bauunternehmer und stinkreich. Ihm gehörten zig Häuser in Steinau und Umgebung, und er war bekannt als großzügiger Sponsor sämtlicher Sportvereine. Auch bei unserem Sommerturnier spendete er immer den Geldpreis im Großen Preis am Sonntag.
»Aber der Gottschalk ist ein Freund von Opa«, entgegnete ich. »Der wird wohl kaum mit dem Waldschrat unter einer Decke stecken.«
»Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.« Melike hob die Hand und spreizte drei Finger ab. »Ich schwöre es bei meinem Leben.«
Eine Weile ritten wir schweigend durch den düsteren Wald. Der Mond war aufgegangen und der Weg schimmerte hell zwischen den Bäumen.
Plötzlich horchte ich auf.
»Da kommt ein Auto!«, rief ich. »Die haben garantiert eben Fritzi wiehern hören und sind jetzt hinter uns her!«
Wir spornten unsere Pferde zum Galopp und ich überlegte fieberhaft, wie wir unseren Verfolgern entkommen konnten. Sekunden später erfasste uns der Lichtkegel heller Scheinwerfer.
»Nach links!«, schrie ich und zerrte Fritzi grob im Maul. Der Weg ins Moor war unsere einzige Chance, denn er war mit einer rot-weißen Schranke gesperrt. Dorthin konnte uns kein Auto folgen, nicht einmal ein Geländewagen. Ich warf einen Blick über die Schulter, kaum dass wir die Schranke umritten hatten. Es war wie in einem dieser üblen Horrorfilme, die mein Bruder mit Vorliebe anguckte: Das Auto bog ebenfalls in den Weg ein und fuhr, ohne langsamer zu werden, auf die Schranke zu.
Verflixt noch mal! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie uns folgen würden. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, wirklich bis ins Moor zu reiten. Das war kein Spaß mehr und ich verfluchte Melikes Einfall, in den Wald zu reiten. Doch dann stoppte das Auto an der Schranke. Jetzt nichts wie weg! Nur wo entlang? Hier kannte ich mich nicht gut aus, ins Moor war ich nur zwei- oder dreimal mit Opa geritten und das war im Sommer gewesen. Irgendwo musste es hier noch eine Abzweigung geben, die zu der Wegspinne oberhalb des Forsthauses führte. Von dort aus konnten wir dann den Umweg über unsere Trainingswiese nehmen.
Fritzi fand unseren Ausflug auch nicht mehr witzig. Er stemmte die Hufe in den Boden, legte die Ohren an wie ein störrischer Esel und weigerte sich, weiterzugehen. Stattdessen drehte er sich blitzschnell um seine eigene Achse und prallte mit Sirius zusammen, der mit einem erschrockenen Schnauben zur Seite sprang.
Durch das Gewirr der Baumstämme konnte ich in der Ferne das Licht der Autoscheinwerfer sehen. Es bewegte sich nicht. Sie warteten wohl auf uns und überlegten, wie sie uns kriegen konnten.
»Was machen wir denn jetzt?« Meine Stimme zitterte. Ich war den Tränen nahe.
»Wir warten hier, bis sie abhauen«, erwiderte Melike.
Plötzlich schrillte mein Handy, ich zuckte zusammen und Fritzi erschrak, weil ich erschrak. Mit einer Hand ließ ich die Zügel los und tastete meine Taschen ab, bis ich das Handy endlich gefunden hatte.
»Wo bist du, du dumme kleine Nuss?«, hörte ich Christians ärgerliche Stimme dicht an meinem Ohr. »Mama hat mir gesagt, dass ich dich holen soll, und ich hab keinen Bock, den ganzen Hof abzusuchen.«
»Melike und ich sind mit Fritzi und Sirius ausgeritten.« Ich musste mich anstrengen, um meine Stimme cool klingen zu lassen. »Wir sind gleich wieder auf dem Hof.«
»Ausgeritten? So was kann auch echt nur euch einfallen!«, schnaubte mein Bruder. »Sieh zu, dass du hierherkommst, sonst kannst du was erleben!«
Peng. Weg war er. Na toll. Jetzt hatte ich noch ein Problem mehr an der Backe. Vor uns gluckste düster das Moor, hinter uns lauerte der Waldschrat mit Verstärkung und zu Hause wartete Christian!
Fritzi stampfte ungeduldig auf der Stelle herum, drängelte sich gegen Sirius und quetschte mein Bein gegen einen Baumstamm.
»Hey!«, rief Melike auf einmal und deutete in Richtung Schranke. »Sie hauen ab! Los, beeilen wir uns!«
Wir wendeten unsere Pferde. Als Fritzi merkte, dass es in Richtung Stall ging, war er kaum noch zu bremsen. Ich hatte alle Mühe, ihn im Schritt zu halten, bis wir an der Schranke vorbeigeritten waren, danach trabten wir an. Auch wenn es hieß, dass Pferde nachts besser sehen können als Menschen, wollte ich in der Dunkelheit keinen Galopp riskieren.
Christian wartete daheim an der Scheune auf uns – und bei ihm war Ariane! Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, dass Christian seinen Arm um sie gelegt hatte. Melike sah es auch.
»Ich bringe Sirius weg«, knurrte sie. »Bis gleich!«
»Na«, sagte ich von oben herab zu meinem Bruder, »wieder fleißig bei der Kundenbetreuung?«
Ariane kicherte blöd, aber Christian schien es nicht sehr lustig zu finden.
»Bring deinen lahmen Gaul weg und komm mit!«, fuhr er mich an. »Mama ist stinksauer.«
Ich hatte keine Lust auf einen Streit mit meinem Bruder, ließ mich aus dem Sattel gleiten und führte Fritzi in die Scheune. Wäre Ariane nicht dabei gewesen, hätte ich ihm vielleicht von Melikes Beobachtung im Wald erzählt, aber so hielt ich den Mund und beeilte mich.