15. Kapitel
Fritzi war bockig. Er legte die Ohren an und weigerte sich, über das seltsame Gebilde zu springen, das Tim und Melike aus Strohballen, alten Autoreifen und Plastikplanen gebaut hatten. Der Boden auf der abschüssigen Wiese war voller Löcher und Maulwurfshügel und so rutschig, dass Fritzi immer wieder ausglitt.
»Mensch, was ist denn los, Elena?«, rief Tim ungeduldig. »Warum hast du keine Stollen in die Eisen gemacht?«
Endlich kriegte ich Fritzi in den Galopp. Wir waren viel zu schnell und das unfair schwere Hindernis stand ungünstig. Gestern hatte ich gar nicht bemerkt, dass die Wiese an einem so steilen Hang lag. Es war schierer Wahnsinn, diesen gewaltigen Oxer so anzureiten, aber ich wollte unbedingt, dass Tim einen guten Eindruck von Fritzi und mir bekam. Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Tränen. Warum hatte Melike auch nur so übertrieben von Fritzi geschwärmt?
Wie ich befürchtet hatte, kamen wir schlecht vor den Sprung, aber Fritzi drückte trotzdem ab. Es krachte, er taumelte, Stangen, Autoreifen und die Hindernisständer brachen hinter uns mit Donnergepolter zusammen. Fritzi raste vor Schreck los, ich zerrte verzweifelt an den Zügeln, aber ich hatte jede Kontrolle über mein Pferd verloren.
Tim lachte und schüttelte den Kopf. »Sandro Boy?«, rief er spöttisch. »Das sollte ja wohl ein Witz sein! Und dafür mache ich mir die ganze Arbeit! Weißt du, was dein Fritzi ist? Kein Flugzeug, sondern ein Suppenhuhn!«
Mir blieb vor Entsetzen beinahe das Herz stehen. Suppenhuhn! Das war die wahrscheinlich allerallerschlimmste Beleidigung, die es in der Reitersprache für ein Pferd geben konnte!
Beim Vorbeireiten erhaschte ich einen Blick auf Tims Miene, und was ich sah, raubte mir die letzte Fassung. Genau so schaute mein Vater, wenn einer seiner untalentierten Schüler nach zehn Jahren Springstunde immer noch genauso blind an ein Hindernis ritt wie am ersten Tag. Stumme Resignation. Und dann wandte Tim sich einfach ab und ging zu dem Traktor, der noch immer mit tuckerndem Motor direkt neben dem Hindernis stand.
»Warte doch!«, schrie ich verzweifelt hinter ihm her. »Bitte, Tim! Wir können das wirklich besser!«
»Vergiss es«, antwortete er und machte eine abwehrende Armbewegung. »Das hat mir gereicht. Da hat ja dein Scheißpony dreimal mehr drin!«
Mir strömten die Tränen über das Gesicht wie Sturzbäche, ich rutschte aus dem Sattel. Fritzi war weiß vor Schaum und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn überhaupt zu diesem Hindernis hingeritten hatte. Und jetzt leckte er mir über das Gesicht, als ob er mich trösten wollte!
»Nicht!«, schluchzte ich. »Lass das, Fritzi! Du … du Suppenhuhn!«
Er hörte nicht auf zu lecken, egal wie ich mich auch drehte und wendete. Und dann schlug ich die Augen auf und begriff, dass ich das alles nur geträumt hatte, denn es war nicht Fritzi, der mich abschleckte, sondern Twix, der nun begeistert mit dem Schwanz wedelte und sich kaum beruhigen ließ.
Ich wälzte mich auf die Seite, um die Ziffern meines Weckers zu erkennen. Erst kurz nach drei, mitten in der Nacht!
»Danke, dass du mich geweckt hast, Twix«, flüsterte ich.
Mein Hund drängte sich dicht an mich, stieß ein behagliches Knurren aus und streckte sich. Ich atmete tief durch und wischte mir mit dem Handrücken den Angstschweiß von der Stirn. Nur ein böser Traum. Gott sei Dank!
Den ganzen Vormittag hatte ich äußerst angespannt verbracht; ich hatte keinen Bissen essen können und fühlte mich wie ein Pulverfass. Der nächtliche Albtraum hing über mir wie ein düsterer Schatten, und auch, wenn ich mir immer wieder sagte, dass alles Quatsch gewesen war, gelang es mir nicht, mich zu beruhigen.
Als Melike und ich uns um kurz nach zwei im Stall trafen, hatte sie noch immer nicht bei der Polizei angerufen, aber das war für mich absolut nebensächlich.
Papa war am frühen Morgen weggefahren, um einen Lehrgang zu geben, und Christian hockte in seinem Zimmer am Computer, deshalb putzte und sattelte ich Fritzi im Stall und nicht in der Scheune. Ich gab mir heute besondere Mühe, denn ich wollte, dass Tim den besten Eindruck von Fritzi bekam.
»Wenn du noch ein bisschen mehr von dem Fellglanzspray auf ihn draufsprühst, rutscht dir der Sattel runter«, warnte Melike mich. »Er glänzt doch sowieso schon wie eine Speckschwarte.«
Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete mein Pferd kritisch. Melike hatte recht. Fritzis dunkelbraunes Fell schimmerte, seine vier Beine leuchteten schneeweiß, der schwarze Schweif fiel locker bis zu den Sprunggelenken. Wir sattelten, setzten unsere Reitkappen auf und führten die Pferde hinaus, um aufzusitzen. Twix umkreiste unsere Pferde mit begeistertem Gebell und hielt erst die Klappe, als klar war, dass er mitkommen durfte. Wenig später ritten wir Richtung Wald. Es war kalt, aber trocken – das ideale Wetter für unsere erste Trainingsstunde.
»Ich hab heute Nacht von diesem grässlichen, bärtigen Waldschrat geträumt«, sagte Melike nach ein paar Metern. »Ich sage dir, das war ein ätzender Traum! Die Polizei war bei meinen Eltern und hat meinen Vater verhaftet – wegen Verletzung der Aufsichtspflicht!«
Sie lachte auf. »Keine Ahnung, wie ich auf so was komme.«
Ich hörte schweigend zu, während sie mir haarklein ihren Albtraum schilderte, sagte aber keinen Ton über meinen, der so schrecklich realistisch gewesen war.
Um kurz vor drei erreichten wir die Wiese, und ich stellte insgeheim erleichtert fest, dass sie so eben und gerade war wie ein Fußballplatz.
Ein paar Minuten später tauchte Tim mit seinem Mofa auf, stellte es neben der Scheune ab und kam zu uns.
»Hey!«, rief er und grinste.
Ich dachte sofort an seine Verachtung, als Fritzi in meinem Traum wieder und wieder ausgerutscht war.
»Hey«, erwiderte ich. »Meinst du, ich brauche Stollen?«
Tim sah mich verwundert an und schüttelte den Kopf.
»Ist doch alles Sand unter dem Gras«, sagte er.
Unsere Gegend war für die Landwirtschaft nicht sonderlich gut geeignet, weil die Böden zu sandig waren. Ideal zum Reiten – schlecht für die Bauern.
Tim umrundete Fritzi und mich und betrachtete mein Pferd eingehend. Mein Pferd wiederum beäugte Tim misstrauisch. Als Tim seine Hand ausstreckte, um Fritzis Hals zu streicheln, legte er die Ohren an und machte einen Satz zur Seite.
»Oh!« Tim war erstaunt.
»Ist nicht persönlich gemeint«, entschuldigte ich das unhöfliche Benehmen meines Pferdes. »Aber seitdem er so schlimm krank war, kann er Fremde und besonders Männer nicht mehr leiden. Wollen wir anfangen?«
»Ja, klar.«
»Meine durchschnittliche Gurke von Pferd interessiert dich wohl gar nicht«, meldete sich nun Melike zu Wort und tat gekränkt.
»Oh, entschuldige bitte!« Tim wandte sich zu ihr um. »Äh, dein Pferd ist doch keine Gurke, ich … äh … tut mir leid …«
Wurde er tatsächlich ein bisschen rot? Melike gluckste belustigt.
»Schon gut«, sagte sie. »Jasper ist halt nicht so ein Hingucker wie Fritzi. Ich binde ihn grad mal an, dann kann ich dir helfen.«
Ich begann zu traben, dann galoppierte ich an. Tim stand in der Mitte der Wiese und ließ mich nicht aus den Augen. Es war das erste Mal, dass ich richtigen Unterricht bekam; das wurde mir in dem Augenblick bewusst, als Tim mir zurief, ich solle die Zügel kürzer fassen und das Gesäß am Sattel lassen. Nie hatte Papa mir Unterricht gegeben, ich war immer nur in seinen Springstunden oder den Reitstunden bei Opa mitgeritten, ohne dass man mir jemals größere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Wenn ich es mir so richtig überlegte, so hatte ich mir das Reiten mehr oder weniger selbst beigebracht.
»Okay!«, rief Tim nach einer Weile. »Jetzt reit mal an das Kreuz! Aus dem Trab!«
Er hatte einen Kreuzsprung aufgebaut und eine Bodenstange davorgelegt. Bis zu diesem Moment war mir noch mein Albtraum im Kopf herumgespukt, aber als Fritzi nun die Ohren spitzte, sich brav zum Trab durchparieren ließ und schwungvoll auf das Kreuz zutrabte, fiel alle Angst von mir ab. Tim ließ uns ein paarmal das Kreuz aus dem Trab nehmen, dann legte er die Stangen in die Halterungen und ich musste abwechselnd aus dem Galopp über den kleinen Steilsprung und einen kleinen Oxer springen.
»Ja, so ist es super!«, rief Tim. »Keinen Druck machen, lass ihn einfach nur hingaloppieren! Ja! Perfekt!«
Ich merkte, dass ich lächelte. Fritzi schnaubte. Ihm machte es offenbar auch Spaß. Nun ging es durch die Sprungreihe. Kreuz, Steilsprung, Kreuz, Oxer. Bei jeder Runde erhöhten Melike und Tim die Hindernisse um zwei Löcher. Und ganz zum Schluss musste ich einen kleinen Parcours reiten. Fritzi sprang geschmeidig und aufmerksam, nicht ein einziges Mal berührte er eine Stange. Bis dahin hatte Tim noch nichts gesagt, aber als ich nach dem letzten Hindernis zum Schritt durchparierte und zu ihm hinüberritt, sah ich, dass er breit grinste.
»Sensationell!«, rief er. »Echt, Elena, der ist richtig gut! Und du reitest ihn spitze!«
Ich klopfte Fritzi den Hals und lächelte stolz. Erst dann fiel mir wieder mein Traum ein.
»Du meinst, er ist kein … Suppenhuhn?«
»Spinnst du?« Tim riss die Augen auf. »Du willst doch wohl dein Pferd nicht beleidigen! Nee, echt, dein Fritzi ist das Gegenteil von einem Suppenhuhn. Er ist vorsichtig und hat was drin.«
Lobesworte für mein Pferd! Wie gut das tat! Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. Tim schlenderte in Richtung Scheune und ich ritt neben ihm her. Er analysierte begeistert jeden einzelnen Sprung, den Fritzi gemacht hatte. Ich lauschte aufmerksam und stimmte ihm zu. Es war viel einfacher, mit Tim zu reden, wenn ich auf dem Pferd saß, fand ich.
»Danke«, sagte ich aus tiefstem Herzen, als wir an der Scheune angekommen waren. »Das war klasse. Du gibst super Unterricht.«
»Auch danke«, erwiderte Tim verlegen. »Macht mir Spaß, wenn dann alles so gut klappt.«
»So, jetzt reicht’s mit dem Süßholzraspeln.« Melike saß schon auf Jaspers Rücken, und Twix, der als wohlerzogener Reitstallhund brav am Rand des Platzes gewartet hatte, kam nun angeschossen und sprang an Fritzi hoch.
»Ich muss leider los«, sagte Tim. »Mein Vater hat um vier Kundschaft aus England, da muss ich ein paar Pferde vorreiten.«
»Wann trainieren wir das nächste Mal?«, fragte ich schnell. »Morgen?«
Papa war auf einem Turnier und Christian würde sicher mitfahren, also eine gute Gelegenheit.
»Ja, müsste klappen.« Tim nickte. »Gleiche Zeit, gleicher Ort?«
Ich nickte auch. Er stülpte sich seinen Helm über, setzte sich auf das Mofa und ließ es an. Ich blickte ihm nach.
»Und?«, fragte Melike. »Was meint er?«
»Er ist begeistert«, erwiderte ich nur.
»Hast du was anderes erwartet?« Melike grinste.
»Wenn ich ehrlich bin – ja.« Da musste ich auch grinsen.
Auf dem Weg zurück erzählte ich ihr von meinem Albtraum und wir bogen uns vor Lachen, bis uns die Tränen übers Gesicht liefen.