21. Kapitel
Es war an einem Dienstagnachmittag, als etwas passierte, das meine schwache Hoffnung, Tims und meine Familie könnten eines Tages ihren Hass aufeinander vergessen, vollkommen und restlos zunichtemachte.
Papa und Jens ritten in der großen Halle, Christian war gerade mit einem seiner Pferde fertig und holte das nächste. Opa hatte mich gebeten, mit Sirius in der Anfängerabteilung um drei Uhr mitzureiten, damit er jemanden hatte, der an der Tete reiten konnte.
Ich putzte Sirius am Putzplatz, als ein riesiger dunkelgrüner Pferde-Lkw auf den Hof zwischen Stallungen und kleiner Reithalle rollte, wendete und anhielt. Neugierig blickte ich durch das weit geöffnete Tor hinaus. Die Lkws von Pferdehändler Nötzli sahen anders aus. Und dann blieb mir fast das Herz stehen, denn ich las die Aufschrift auf der Seite des Ungetüms: »Sportpferde Jungblut« stand dort in fetten knallgelben Buchstaben.
Da kam Christian die Stallgasse entlanggeschossen, er war rot im Gesicht vor Zorn und rannte an mir vorbei in die Halle. Ich ließ das Putzzeug fallen und folgte ihm.
»Wie bitte?«, fragte Papa Christian und parierte sein Pferd durch.
»Wenn ich’s dir sage!«, erwiderte Christian heftig. »Der alte Jungblut und sein Arschlochsohn! Was wollen die hier?«
Ich musste schlucken. Tim war dabei? Großer Gott!
»Ich kann es mir schon denken.« Papa stieß einen tiefen Seufzer aus. Zu meinem Erstaunen schien er nicht wütend zu sein, sondern einfach nur total frustriert. Er sprang aus dem Sattel und führte Cornado hinter sich her aus der Bahn.
Ich zitterte am ganzen Körper, mir war schlecht vor Angst. Was, wenn Papa jetzt auf Richard Jungblut losgehen, sich mit ihm prügeln würde? Opa! Ich musste Opa holen! Der konnte vielleicht das Schlimmste verhindern. Ich rannte los und fand ihn in der Sattelkammer, die er auch als Büro benutzte.
»Schnell, Opa!«, rief ich panisch. »Eben ist Richard Jungblut auf den Hof gefahren! Kannst du nicht bitte rausgehen, bevor Papa und er aneinandergeraten?«
»Richard Jungblut? Hier auf dem Hof?« Opa sah mich überrascht an, aber dann zögerte er nicht lange, stand auf und folgte mir zum Turnierstall.
Dort ging Papa in der Stallgasse hin und her, das Handy am Ohr, und lauschte mit grimmiger Miene. Christian drehte sich um, als Opa und ich in den Stall kamen.
»Er soll die Pferde von Teicherts abholen«, flüsterte er. »Papa telefoniert grad mit dem Teichert. Aber ich glaube, es stimmt.«
»Was ist jetzt, Micha?«, rief Richard Jungblut von draußen. »Ich habe nicht ewig Zeit!«
Richard Jungblut stand im Hof, breitbeinig, Kaugummi kauend, die Hände in die Seiten gestemmt.
Papa steckte das Handy weg, starrte mit versteinerter Miene ein paar Sekunden vor sich hin. Dann ging er zur Stalltür. Es war wie in einem dieser Westernfilme, bei denen sich der Gute und der Böse gegenüberstehen, bevor sie aufeinander schießen.
»Die Pferde gehen nicht eher aus dem Stall, als bis ich mein Geld habe«, sagte Papa erstaunlich ruhig.
»Hans-Dieter hat mir einen Blankoscheck mitgegeben«, erwiderte Jungblut. »Du sollst einfach die Summe einsetzen.«
Er hielt Papa ein Stück Papier entgegen, aber Papa machte keine Anstalten, ihm den Scheck abzunehmen.
Ich kapierte allmählich, was sich da gerade abspielte. Der aalglatte Herr Teichert hatte Jungblut damit beauftragt, seine Pferde bei uns abzuholen, weil er selbst zu feige dazu war. Und Richard Jungblut machte das Ganze einen Höllenspaß.
Plötzlich konnte ich Christians Zorn verstehen. Ich dachte an Ariane, die heute Morgen in der Schule noch überheblicher und unerträglicher gewesen war als sonst. Garantiert hatte sie schon gewusst, was heute Nachmittag geschehen würde. Und garantiert wussten die Teicherts auch, was es für Papa bedeutete, wenn sie die Pferde, die er ausgebildet und geritten hatte, ausgerechnet zu seinem Erzfeind Richard Jungblut stellten.
Weil Papa sich noch immer nicht rührte, nahm ich all meinen Mut zusammen. Ich ging entschlossen an ihm vorbei und marschierte auf Tims Vater zu.
»Ah«, sagte der und grinste noch etwas breiter. »Die mutige kleine Pferdefängerin. Hat mehr Mumm als der Herr Papa, was?«
Kochend vor Zorn pflückte ich ihm den Scheck aus der Hand.
»Ich freue mich, dass Sie jetzt die blöde Ariane und ihre noch blöderen Eltern am Hals haben«, sagte ich und sah mit Befriedigung, wie Richard Jungblut für einen Moment das Lächeln auf dem Gesicht gefror. »Viel Spaß!«
Damit drehte ich mich um, ging mit klopfendem Herzen und butterweichen Knien zurück in den Stall und reichte Papa den Scheck. Er wandte sich von der Tür ab, ohne mich anzusehen, ohne auch nur Danke zu sagen.
»Ich gebe Jens Bescheid«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Christian. »Bringt Almiro, Lady Gaga und Phönix raus. So schnell, wie es geht. Vergiss die Pferdepässe nicht.«
Damit verließ er mit großen Schritten den Stall.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte mein Bruder fassungslos.
Wenig später kam Jens in den Stall gelaufen und blickte verwirrt von Christian zu Opa und sogar zu mir.
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Nimm du Almiro und Phönix«, befahl mein Bruder ihm. »Ich nehme die Stute. Aber mach die Decken ab, die gehören uns.«
Ich sah schweigend zu, wie sie die Pferde aus den Boxen holten, die Stalldecken abnahmen und zur Stalltür führten.
Und dann sah ich Tim. Er stand neben seinem Vater und machte ein Gesicht, als wünschte er sich tausend Kilometer weit weg. Unsere Blicke begegneten sich kurz, dann senkte er die Augen.
»Los, hol die Pferde!«, sagte Richard Jungblut scharf.
Tim gehorchte.
»Wehe, du setzt auch nur einen Fuß in diesen Stall!«, knurrte Christian ihn hasserfüllt an. Er warf Tim den Führstrick von Lady Gaga zu. »Das Halfter und den Strick will ich wiederhaben.«
Tim führte die Stute zum Lkw und verlud sie. Wenig später kehrte er mit Halfter und Führstrick zurück. Er vermied es, mich anzusehen, und ich verriet auch mit keinem Ton, dass wir uns weitaus besser kannten als erlaubt war. Richard Jungblut rührte keinen Finger und sah mit einem zufriedenen Grinsen zu, wie sein Sohn ein Pferd nach dem anderen auf seinen Lkw führte, Jens die Stricke und Halfter in die Hand drückte und von ihm die drei Pferdepässe ausgehändigt bekam.
»Das wird dir noch leidtun!«, zischte Christian ihm zu. »Dafür wirst du büßen! Du bist doch genauso ein mieses Arschloch wie dein Alter!«
Tim erwiderte nichts darauf. Er wandte sich ab und ging zum Lkw, um allein die schwere Verladerampe hochzuwuchten.
»War mir ein Vergnügen.« Richard Jungblut grinste spöttisch in unsere Richtung. »Schönen Gruß noch an Susanne.«
Ich sah meinem Bruder an, dass er Tims Vater am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte, aber er beherrschte sich. Sekunden später dröhnte der Motor des großen Lkw und das Fahrzeug rollte vom Hof. Der Spuk war vorbei, die Niederlage perfekt. Und jetzt ließ Christian seinem Frust und Zorn freien Lauf. Er stieß die schlimmsten Flüche aus, die er kannte, und trat gegen die kleine Leiter, die wir benutzten, wenn wir den Pferden die Mähnen einflochten. Sie flog scheppernd durch die Stallgasse und die Pferde sprangen erschrocken in ihren Boxen herum.
»Hör auf damit!« Papa erschien in der Stalltür. Er gab Jens und Christian Anweisungen, welche Pferde in die Boxen von Teicherts Pferden ziehen sollten. Ohne noch ein Wort über die Angelegenheit zu verlieren, ging er zur Tagesordnung über. Mich und Opa beachtete er überhaupt nicht.
»Komm, Elena.« Opa legte mir einen Arm um die Schulter. »Die Reitstunde fängt gleich an.«
Ich taumelte neben ihm her, stand total unter Schock. Erst jetzt wurde mir die ganze Tragweite dessen bewusst, was hier eben passiert war. Christians Hass auf Tim hatte sich in den letzten Minuten verhundertfacht. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste mir Tim aus dem Kopf schlagen. Ein für alle Male. Er war der Sohn von unserem Todfeind und es gab absolut nichts, was das jemals ändern würde.
Du darfst nicht sauer auf mich sein, las ich. Ich kann nichts dafür. Aber ich muss jetzt mit meinem Alten zu euch fahren und die Pferde von Teicherts holen. LG, T.
Das hatte er um 14:12 Uhr geschrieben, aber ich hatte die SMS nicht gelesen, weil ich mein Handy auf dem Schreibtisch vergessen hatte. Tim hatte mich vorgewarnt! Wie konnte ich auf ihn sauer sein? Er musste seinem Vater genauso gehorchen, wie Christian und ich Papa gehorchen mussten.
»Elena-Marie!«
Ich zuckte zusammen, als ich Papas Stimme hörte, und schob das Handy schnell unter mein Kopfkissen. Ein absolut schlechtes Zeichen, wenn er mich bei meinem vollen Namen rief.
»Komm nach unten!«
Es war nicht ratsam, ihn warten zu lassen, deshalb sprang ich vom Bett auf und lief eilig die Treppe hinunter. Papa stand in der Diele, in Reitstiefeln und Jacke, und sah richtig sauer aus.
»Ich will dir jetzt mal etwas sagen«, begann er aufgebracht. »Es gibt gute Gründe, weshalb wir mit den Jungbluts nichts zu tun haben wollen. Das weißt du doch wohl, oder?«
Ich schluckte und nickte. Es sah nicht danach aus, als ob er mich dafür loben wollte, dass ich Tims Vater den Scheck abgenommen hatte.
»Und du weißt auch, dass ich von Christian und dir erwarte, euch von jedem, der Jungblut heißt, fernzuhalten. Das sage ich nicht so einfach dahin, sondern meine das sehr ernst.«
Großer Gott! Er hatte doch wohl nichts über Tims und meine Trainingsstunden herausgefunden? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Mama erschien in der Tür ihres Büros.
»Wieso kommst du dann dazu, mit Tim Jungblut auf einem Turnier an einem Tisch zu sitzen und dich zu unterhalten?«
Christian hatte mich also verpetzt, dieser Mistkerl! Aber damit konnte ich leben, es hätte weitaus schlimmer kommen können.
»Ich hatte ein Pferd, das über den Hängerparkplatz lief, eingefangen«, brachte ich zu meiner Verteidigung wahrheitsgemäß hervor. »Ich wusste ja nicht, dass es eins von Jungbluts Pferden war.«
»Aber als du es wusstest, hast du dich trotzdem von dem Jungen zu einer Cola einladen lassen«, warf Papa mir vor. »Kannst du mir erklären, warum?«
Ja, warum? Weil er mir gefiel. Weil er mich nett gefragt hatte. Weil ich keinen blassen Schimmer hatte, woher diese bescheuerte Familienfehde kam, und weil ich absolut nichts gegen Tim Jungblut hatte.
»Es war falsch«, antwortete ich leise. »Ich weiß. Ich hab mir nichts dabei gedacht, bis Christian aufgetaucht ist.«
Was würde erst passieren, sollte Papa jemals erfahren, dass Tim hier auf dem Hof gewesen war und dass wir uns regelmäßig heimlich trafen, wenn er schon wegen einer dämlichen Cola so ein Fass aufmachte?
»Du hast dir also nichts dabei gedacht. Aha. Und als du zu faul warst, auf den nächsten Bus zu warten, und du zu denen ins Auto gestiegen bist, hast du dir auch nichts dabei gedacht.« Ohne Vorwarnung begann er zu brüllen, dass die Wände zitterten. »Und als du an mir vorbeigegangen bist und diesem Kerl den Scheck aus der Hand genommen hast, obwohl ich drei Sekunden vorher mit Hans Teichert am Telefon besprochen hatte, dass er mir das Geld bar vorbeibringt, da hast du dir wohl auch wieder nichts dabei gedacht, was? Wann, zum Teufel, fängst du denn mal an zu denken?«
Mir schoss die heiße Röte ins Gesicht, aber gleichzeitig wurde ich mindestens genauso wütend, wie er es war. Ich hatte ihm nur helfen wollen und jetzt wurde ich dafür angebrüllt! Das war so was von total ungerecht. Ich blickte hilfesuchend zu Mama, doch sie sagte nichts, stand nur stumm da. Toll.
»Vielleicht dann, wenn mir mal einer von euch erklärt, warum wir die Jungbluts hassen sollen!«, schrie ich deshalb zurück.
Papa starrte mich an und ich glaubte schon, er würde mir jetzt das erste Mal in meinem Leben eine Ohrfeige geben.
»Du sollst sie nicht hassen«, sagte er dann in gemäßigter Lautstärke, aber mit einer Stimme, die so eisig war wie der Nordpol, »sondern einfach nicht mit ihnen reden, Cola trinken und in ihrem Auto mitfahren. Das würde mir völlig ausreichen. Haben wir uns verstanden?«
Ich wusste, wann es besser war, die Klappe zu halten, und nickte, obwohl mir die aufsteigenden Tränen beinahe die Kehle abdrückten.
»Und jetzt verschwinde auf dein Zimmer«, fügte Papa hinzu. »Ich will dich heute nicht mehr sehen.«
Wie der Blitz drehte ich mich um, rannte die Treppe hoch und in mein Zimmer. Ich warf mich auf mein Bett, vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so elend gefühlt, so gedemütigt und schrecklich ungerecht behandelt! Ich weinte und weinte, bis keine Tränen mehr kamen und ich nur noch trocken vor mich hin schluchzte.
Unter meinem Kopfkissen machte es leise »Ping!«. Ich tastete nach meinem Handy, klappte es auf und sah, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte. Von Tim!
Wir müssen uns morgen sehen, Elena, bitte! Auch wenn wir nicht trainieren können, bitte komm um 3 hoch an die Wiese, las ich mit klopfendem Herzen. Ich muss dir so viel erklären und es tut mir so leid.
Ach Tim! Ich seufzte und musste gleichzeitig lächeln. Vielleicht hätte ich ihm geschrieben, dass wir uns besser nicht mehr sehen sollten, wenn Papa eben nicht so gebrüllt und mir stattdessen erklärt hätte, warum die Jungbluts eigentlich unsere Feinde waren. Aber so nicht! Tim hatte garantiert nichts mit diesen »Hassgründen« zu tun, die uns weder Papa noch Mama jemals näher erklärt hatten. Es war mir völlig egal, ob er ein Jungblut war oder nicht. Ich wollte ihn auch sehen.
Morgen um 3. Ich bin da. GlG, E., tippte ich also und drückte auf »Senden«.
»Jetzt erst recht«, sagte ich leise und hochzufrieden zu mir selbst. »Und diesmal habe ich richtig gut darüber nachgedacht.«