2. Kapitel

 

Ich setzte mir die Kapuze auf und radelte die Wiesenstraße entlang, vorbei am Sportplatz und an der Mehrzweckhalle, und versuchte, nicht in den schlammigen Traktorspuren auszurutschen. Der trostlose Winter stand vor der Tür, bald konnte nur noch in der Halle geritten werden und abends würde es um fünf Uhr dunkel sein. Die Pferde mussten geschoren und mit dicken Decken gegen die Kälte geschützt werden. Wir Menschen würden trotz Daunenjacken, Schals und Handschuhen im Stall und in der Reithalle frieren.

Hinter mir hupte es. Ich warf einen Blick über die Schulter und wich auf den schmalen, aufgeweichten Grasstreifen aus, damit der große Pferdetransporter mich überholen konnte. »PFERDE – CHEVAUX – HORSES« stand in fetten Buchstaben auf der Rückseite des Lkw, und darunter »Pferdehandlung Nötzli – Adliswil, Schweiz«. Ich trat kräftiger in die Pedale. Vielleicht kamen neue Pferde auf den Amselhof!

Als ich auf den Hof gelangte, manövrierte der Lkw-Fahrer geschickt das riesige Ungetüm am Misthaufen vorbei. Im Lauf der Jahre war auf dem Amselhof viel an- und umgebaut worden; dadurch waren verschiedene Stalltrakte, Sattel- und Futterkammern und verwinkelte Höfe entstanden, in denen sich Fremde und neue Einsteller oft verirrten. Das Zentrum bildete die große Reithalle, an die sich der Schulpferdestall und die Putzhalle anschlossen. Ganz vorn, an der kurzen Seite der Reithalle, befand sich der ehemalige Hengststall, in dem heute Einsteller ihre Pferde untergebracht hatten. Dann gab es den Mittelstall, den langen Stall, den kleinen Stall und ganz hinten den alten Stall, der ausschließlich Papas Turnierpferden vorbehalten war. Während die meisten Stallungen modern und zweckmäßig waren, hatte Papas Stall etwas ganz Besonderes. Er war hoch und luftig, die Pferde hatten Fenster nach draußen mit Blick auf den Springplatz und die Galoppierbahn und konnten gleichzeitig auf die breite Stallgasse schauen.

Der Fahrer von Herrn Nötzli hielt am Vordereingang des alten Stalls und sprang aus dem Fahrerhaus.

»Hallo!«, rief ich atemlos und lehnte mein Fahrrad an die Wand des Stalls.

»Hi«, erwiderte der Fahrer. Ich kannte ihn, denn er brachte öfter Pferde auf den Amselhof. Der Schweizer Pferdehändler Gerhard Nötzli machte regelmäßig Geschäfte mit Papa. Er schickte immer wieder junge talentierte Pferde her, damit Papa sie ausbildete und auf Turnieren vorstellte. Dann wurden sie verkauft und Papa bekam eine Verkaufsprovision. Allerdings kamen auch manchmal Pferde, die auf Turnieren nicht mehr so recht springen wollten, die stiegen oder andere Unarten hatten. Diese Pferde mussten korrigiert werden, bis auch sie wieder verkäuflich waren. Das war meistens ziemlich schwierig.

»Ich habe zwei Pferde für euch dabei«, sagte der Fahrer und warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss heute noch bis nach Holland fahren. Fragst du mal jemanden, wo ich die Pferde hinstellen kann?«

»Ich weiß, wo Boxen frei sind«, antwortete ich und betrat den Stall. Der würzige Geruch von Pferden und Heu schlug mir entgegen und wie immer atmete ich den vertrauten Duft tief ein.

Von Jens, unserem Bereiter, war weit und breit nichts zu sehen, dafür lag ein Sattel auf dem Boden, daneben hing eine schmutzige Trense und die Tür von der Sattelkammer stand weit offen. Typisch, dachte ich bei mir, ergriff den Sattel und hängte ihn in die Sattelkammer. Sobald Papa den Stall verlassen hatte, ließ Jens alles stehen und liegen, fing an zu telefonieren oder verdrückte sich in sein Zimmer. Ich fand eine leere Box neben meinem Pony Sirius im kleinen Stall und eine weitere im langen Stall. Dort konnten die Pferde bleiben, bis Papa anders entschied.

Der Fahrer hatte mittlerweile einen hübschen Kastanienbraunen mit einer schmalen Blesse abgeladen. Das Pferd tänzelte und wieherte aufgeregt. Seine Ohren zuckten vor und zurück, die fremde Umgebung machte es nervös, aber das war bei neuen Pferden oft der Fall. Ich streckte die Hand nach dem Führstrick aus.

»Nimm lieber den anderen«, sagte der Fahrer. »Der hier ist ein bisschen speziell.«

Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Erwachsene mich wie ein dummes kleines Kind behandelten, immerhin war ich dreizehn und nicht fünf.

»Ich kriege das schon hin«, versicherte ich ihm und da reichte er mir endlich den Führstrick, wenn auch widerstrebend.

»Sei aber vorsichtig!«, rief er mir zu. Prompt machte das Pferd einen erschrockenen Satz, riss den Kopf hoch und stellte den Schweif auf. Aber es war nicht das erste Mal, dass ich ein nervöses Pferd führte.

»Du musst keine Angst haben«, sagte ich freundlich und klopfte ihm mit meiner freien Hand den Hals. Das Pferd sah mich aus flackernden Augen zweifelnd an und schnaubte.

»Na, komm schon. Benimm dich ein bisschen. Dir passiert nichts.«

Tatsächlich beruhigte sich der Braune und folgte mir gehorsam in den Stall.

Als auch das zweite Pferd untergebracht war, gab der Fahrer mir die Mappe mit den Frachtpapieren und Pferdepässen der beiden Pferde. Ich sah zu, wie er die Verladerampe des großen Lkw schloss und überlegte, wohin er wohl die anderen Pferde bringen würde und woher sie kamen.

Wie schön wäre es, den ganzen Tag mit Pferden zu verbringen, anstatt in der Schule herumzusitzen! Die Arbeit mit den Pferden war immer aufregend und abwechslungsreich. Natürlich war es kein Zuckerschlecken, jeden Tag Boxen auszumisten, Pferde und Sattelzeug zu pflegen und all die vielen Kleinigkeiten drum herum zu erledigen. Viele Mädchen träumten davon, Bereiterin zu werden; die wenigsten wussten, was auf sie zukam, und gaben schnell wieder auf. Ich selbst wusste genau, dass ich nach der Schule etwas mit Pferden machen würde. Es war spannend zu beobachten, wie sich die Pferde entwickelten, ob sie einen guten oder schlechten Tag hatten. Jedes Pferd hatte eine ganz eigene Persönlichkeit und Vorlieben oder Abneigungen, wie die Menschen auch. Manche waren neugierig oder verspielt, andere wollten die ganze Zeit schmusen, und wieder andere brauchten eine festere Hand, weil sie ziemlich frech sein konnten. Es gab Pferde, die lernten schnell, und andere mussten immer wieder dasselbe üben, bis sie endlich begriffen.

Gerade als der Lkw durch die großen Pfützen vom Hof gerollt war, tauchte Jens auf. Er gähnte und streckte sich.

»Werwarndas?«, nuschelte er verschlafen und kramte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche.

»Der Fahrer von Herrn Nötzli«, erwiderte ich. »Er hat zwei Pferde gebracht und ich hab ihm zwei leere Boxen gezeigt. Ich wollte dich nicht wecken.«

Jens war sofort angesäuert. »Man darf ja wohl noch Mittagspause machen«, sagte er gereizt.

»Klar.« Ich drehte mich um. Der qualmende Jens mit seinen Froschaugen, den Aknenarben und den fettigen Haaren war nicht mein Fall. Er war ungeduldig und oft grob mit den Pferden, aber Papa brauchte ihn, denn allein konnte er die Arbeit mit den vielen Pferden nicht schaffen. Es war schwer, einen zuverlässigen Mann zu finden, der die jungen Pferde auf Turnieren gut vorstellte. Und das konnte Jens. Deshalb hielt ich den Mund und ging ihm möglichst aus dem Weg.

»Du hast übrigens vergessen, die Sattelkammer abzuschließen. Und in der Stallgasse lag einer von den guten Sätteln auf dem Boden.« Das konnte ich mir dann aber doch nicht verkneifen.

»Dann räum ihn weg«, entgegnete Jens bissig.

»Hab ich schon gemacht.«

»Erzähl’s doch Papi«, murmelte er mürrisch und trat die Zigarette vor der Stalltür mit dem Absatz aus. »Du dummes Kind.«

»Blöder Aknefrosch«, erwiderte ich.

So endeten die meisten Gespräche zwischen Jens und mir. Dummes Kind war noch relativ nett, er hatte weitaus weniger schmeichelhafte Namen für mich auf Lager, aber ich wusste mich zu revanchieren.

Ich holte mein Fahrrad und schob es durch den Stall. Um die Mittagszeit war nicht viel los, die Pferde dösten in ihren Boxen oder knabberten am Stroh. Vorn an der geöffneten Stalltür lag Robbie, unser Berner Sennenhund, auf seiner karierten Decke. Als er mich kommen sah, richtete er sich auf und wedelte freudig mit dem Schwanz. Sobald ich mich jedoch auf mein Fahrrad setzte, um zum Haus hinüberzuradeln, legte er sich mit einem Seufzer wieder hin und schlief weiter.

Elena - Ein Leben für Pferde
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