22. Kapitel
Die Luft war rein. Papa war mit Christian irgendwohin gefahren, um Pferde auszuprobieren, der Aknefrosch hatte seinen freien Nachmittag und Mama war, wie jeden Mittwoch, bei einer Freundin, die eine Stunde entfernt wohnte. Melike konnte heute nicht mitkommen, weil sie bis drei Uhr Schule hatte, aber ich hatte ihr natürlich brühwarm von den gestrigen Ereignissen berichtet.
Nachdem ich mein Mittagessen bei Oma hinuntergeschlungen und schnell die wichtigsten Hausaufgaben erledigt hatte, rannte ich hinüber in den Stall, um Fritzi zu satteln. Als ich die Stalltür öffnete, hörte ich Stimmen und Gepolter aus der vorderen Sattelkammer des langen Stalls. Weiter hinten in der Stallgasse legte Viola Kaiser ihrem braunen Wallach Kasimir Transportgamaschen an, Laura holte gerade ihr Pferd aus der Box, und auf dem Hof rangierte jemand mit Auto und Pferdeanhänger. Ich merkte sofort, dass irgendetwas im Gange war. Es war ungewöhnlich viel los für diese Uhrzeit.
»Ist der Weiland weg?«, hörte ich wie zur Bestätigung meiner düsteren Vorahnung die schnarrende Stimme von Engelbert Maiwald.
»Er ist mir vor einer Stunde entgegengekommen«, erwiderte Corinna Faist. »Mit Christian im Auto. Und Susanne ist unterwegs, wie jeden Mittwoch.«
Sie lachte spöttisch und ich ballte wütend die Fäuste.
»Dann beeilen wir uns besser. Ich habe keine Lust, einem von denen noch zu begegnen.« Engelbert schob keuchend eine Schubkarre, die bis oben hin beladen war mit Putzkiste, Sattelzeug, Decken und anderem Kram. Er lief rot an, als er mich erblickte. Corinna schleppte einen ganzen Sack mit Pferdedecken, unter den Arm hatte sie sich eine Longierpeitsche geklemmt.
»Hallo«, sagte ich. »Was macht ihr denn?«
»Äh … wir fahren doch auf den Lehrgang.« Corinna wirkte verlegen. »Nach Neuberg.«
Mit den frisch gereinigten Stalldecken, Longierpeitschen und allem Zeug, was sonst in ihrem Spind lag? Mir kam es eher so vor, als würden sie mit ihren Pferden ausziehen. Deshalb hatten sie auch vermeiden wollen, Papa, Mama, Jens oder Christian zu begegnen. Nicht, dass es mir um den blöden Engelbert oder die hinterhältige Corinna leidtun würde, aber leere Boxen brachten kein Geld ein.
»Und die Laura und die Kaisers fahren auch mit?«, fragte ich scheinheilig.
»Ja, genau.« Corinna beeilte sich, an mir vorbeizukommen. »Ich habe deinem Vater vorhin Bescheid gesagt.«
»Aha. Hast du ihm auch gesagt, dass ihr auszieht?«
Corinna blieb stehen wie vom Schlag gerührt und drehte sich um. »Wie kommst du denn darauf?« Sie lachte nervös.
»Weil ihr eure Spinde ausräumt«, erwiderte ich. »Ich bin vielleicht erst dreizehn, aber ich bin nicht blöd.«
Bevor Corinna noch irgendetwas sagen konnte, wandte ich mich ab und rannte aus dem Stall, hinüber zur Scheune. Ich überlegte kurz, ob ich Papa anrufen und ihm erzählen sollte, was sich hier abspielte. Dann entschied ich, es nicht zu tun. Er würde es schon früh genug merken. Selbst schuld, wenn er einfach wegfuhr und sich um nichts kümmerte!
Ich holte Fritzi aus seiner Box, kratzte ihm die Hufe aus und führte ihn auf den Hof. Weiter vorn versuchten Viola Kaiser und ihre Tochter gerade mithilfe von Engelbert ihre Pferde zu verladen. Das würde eine Weile dauern. Normalerweise mussten Papa oder Jens immer beim Verladen helfen, denn eigentlich hatte Viola Schiss vor ihren Pferden und schaute lieber aus der Ferne zu.
Ich gurtete nach, zog die Steigbügel herunter und schwang mich in den Sattel. Es war ein kühler Tag, der Himmel war bedeckt. Sicherlich würde es bald regnen. Ich vermied es, an Engelbert, Corinna, Laura und den Kaisers vorbeizureiten, und nahm den Weg zwischen den Koppeln in den Wald. Fritzi tänzelte und machte einen übermütigen Bocksprung. Es war lange her, dass wir einen Ausritt unternommen hatten, und er platzte vor Energie. Ich ließ ihn die ganze Strecke bis zur Wiese am steinernen Kreuz im Trab oder Galopp gehen, und das gefiel ihm.
Tim war schon da, als ich auf die Wiese ritt. Sein Mofa lehnte an dem Baumstamm, den wir auf die Wiese geschleift hatten, und er war damit beschäftigt, eines der Hindernisse umzubauen.
»Hallo!«, rief ich und winkte ihm zu.
»Hey!« Tim richtete sich auf und lächelte erfreut. »Auf die Sekunde pünktlich.«
Ich parierte Fritzi neben ihm durch und ließ mich aus dem Sattel gleiten. Als ich Tims Gesicht aus der Nähe sah, erschrak ich. Sein linkes Auge war fast zugeschwollen, auf seinem linken Backenknochen schillerte ein Bluterguss in Dunkelviolett.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte ich entsetzt.
»Halb so schlimm.« Er winkte ab. »Das war mein Alter.«
»Was? Dein Vater hat dich geschlagen?«
»Nicht zum ersten Mal«, sagte Tim. »Und wohl auch nicht zum letzten.«
Ich war fassungslos.
»Zuerst hat er mir gestern auf der Rückfahrt eine geklebt, weil ich zu ihm gesagt habe, es sei eine total linke Tour von ihm, euch einfach die Pferde wegzunehmen. Im Stall gab’s dann später noch eins drauf.«
»Das hast du gesagt?« Ich staunte.
»Ja.« Tim stieß einen Seufzer aus. »Ich find’s total mies von meinem Vater. Er will die Viecher überhaupt nicht, hat gar keinen Bock, die auf Turnieren zu reiten. Und zu Hause muss sowieso ich sie reiten. Als ob ich nicht schon genug Arbeit hätte.«
So bitter hatte Tim noch nie geklungen und ich verschob die Bitte, uns bei der Überführung der Pferdediebe im Forsthaus zu helfen, auf später. Er hatte auch ohne das genug am Hals. Ich hatte echt Mitleid mit ihm. Er war gerade mal fünfzehn, musste neben der Schule arbeiten wie ein Erwachsener und wurde von seinem Vater auch noch verprügelt.
»Was sagt denn deine Mutter dazu?«, wagte ich zu fragen.
»Die ist froh, wenn sie selbst keine fängt.« Tim schnaubte verächtlich. Wir schwiegen beide für einen Moment, dann blickte Tim auf und grinste wieder. »Es war total cool, wie du meinem Alten gestern den Scheck abgenommen hast. Das hat ihm doch echt die Sprache verschlagen.«
»Hm.« Ich setzte meine Reitkappe ab und band mir meinen Pferdeschwanz neu. »Meinem Vater dafür leider nicht. Der ist so was von ausgeflippt und hat mich angebrüllt, ich sag’s dir. Christian hat ihm nämlich gesteckt, dass wir neulich auf dem Turnier zusammen eine Cola getrunken haben.«
»Mist«, erwiderte Tim und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Und ausgerechnet ich musste die Pferde bei euch abholen. Dein Bruder hasst mich jetzt sicher noch mehr als vorher. Andererseits – was kann ich denn dafür?«
»Gar nichts«, antwortete ich. »Wir beide können überhaupt nichts für das alles. Wenn Papa wüsste, dass ich mich heimlich mit dir treffe, dann würde er mich wohl für immer und ewig im Keller einsperren.«
»Meinst du, bei uns wär’s anders?« Tim schüttelte den Kopf.
Verdammt, es war wirklich hoffnungslos!
»Allerdings ist es mir völlig egal, ob sie verfeindet sind oder nicht«, fuhr Tim fort. »Ich lasse mir nicht verbieten, dich zu treffen.«
Ich spürte, wie mein Herz plötzlich anfing zu klopfen. Tim riskierte mindestens genauso viel Ärger wie ich, wenn nicht sogar mehr, trotzdem fuhr er bei Wind und Wetter mit seinem Mofa hierher, um mich zu sehen. Nicht, weil er sich etwas davon versprach, sondern weil er … Ich traute mich kaum, den Gedanken weiterzuführen.
Tim war wirklich der netteste Junge, den ich je getroffen hatte. Er sah so wahnsinnig süß aus! Dabei war er so normal und kein Angeber wie viele andere Jungs in der Schule oder auf den Turnieren. Und jetzt stand ich hier mit ihm, ganz allein. Ich nahm allen Mut zusammen, streckte die Hand aus und berührte vorsichtig seine Wange.
Tim hob den Kopf. Plötzlich schlang er die Arme um mich und presste sein Gesicht an meines.
»Ach Elena«, flüsterte er und ich spürte, dass er über die ganze Situation genauso verzweifelt war wie ich selbst. »Warum muss nur alles so kompliziert sein?«
Genauso plötzlich, wie er mich umarmt hatte, ließ er mich wieder los.
»Ich glaube, Fritzi wird’s allmählich langweilig«, sagte er verlegen und vermied es, mich anzusehen. »Der Boden ist ganz okay. Wollen wir ein paar Sprünge machen?«
»Klar«, würgte ich hervor. Ich war total verwirrt und fühlte mich zittrig. Tim hatte mich umarmt!
Irgendwie gelangte ich in Fritzis Sattel, ritt ein paar Runden im Schritt um die Wiese, dann trabte ich an. Mittlerweile nieselte es ein bisschen, aber das störte mich nicht. Ich wäre im schlimmsten Unwetter geritten, wenn ich dafür nur mit Tim zusammen sein durfte!
Nach zehn Minuten begann ich, mit Fritzi zu springen. Tim hatte eine Gymnastikreihe auf der Wiese aufgebaut. In-Outs, Galoppstangen auf dem Boden und schließlich ein kleiner Oxer. Das kannte ich von Papa und dachte wieder einmal, dass Tim und ich einfach supergut zusammenpassten. Wir beide stammten aus echten Springreiterfamilien, hatten von klein auf beobachtet, wie unsere Väter mit jungen Pferden arbeiteten. Nie überforderten wir Fritzi oder bauten übertrieben hohe Hindernisse auf. Fritzi sollte ja Spaß am Springen haben, und den hatte er!
»Ich glaube, das reicht für heute!«, rief Tim, nachdem ich den kleinen Trainingsparcours schließlich ein drittes Mal gesprungen war. Lachend und atemlos parierte ich Fritzi durch und klopfte ihm den Hals.
»Er wird immer besser.« Ich strahlte.
»Ja, das stimmt. Und du hast auch Fortschritte gemacht«, bestätigte Tim. »Ich bin echt stolz auf euch beide.«
Wir lächelten uns an, aber dann warf Tim einen Blick auf seine Uhr. »Mist«, sagte er. »Ich muss los. Es ist schon Viertel nach vier. Ich habe erzählt, wir hätten Sport.«
Unsere gemeinsame Stunde war schon wieder um und wie jedes Mal hatte ich auch heute Angst, es könnte unser letztes Training gewesen sein. Jemand könnte den Parcours entdecken und dem Förster melden, oder Papa würde mir Fritzi wegnehmen, um ihn selbst zu reiten.
Tief in Gedanken versunken machte ich mich auf den Heimritt und bemerkte erst, als wir mitten im Wald waren, dass Fritzi von selbst den kürzeren Weg eingeschlagen hatte, der am Forsthaus vorbeiführte.
»Egal«, murmelte ich. Ich hatte keine Lust umzukehren. Je schneller ich zu Hause war, umso besser.
Nach zehn Minuten sah ich das Forsthaus, und was ich noch sah, war ein silberner Mercedes im Hof, den ich inzwischen gut kannte. Friedrich Gottschalk war schon wieder beim Waldschrat! Wie konnte er Opas Kumpel sein, der großzügige Sponsor des Fußballvereins und gleichzeitig der Komplize eines Pferdediebs? Ich ritt näher an das Haus heran und hielt Fritzi an. Unentschlossen wartete ich, und gerade, als ich Fritzi abwenden wollte, gellte ein markerschütternder Schmerzensschrei durch den Wald. Wie erstarrt saß ich im Sattel. Noch ein Schrei drang aus dem gekippten Fenster des Forsthauses, gefolgt von einem entsetzlichen Stöhnen. Lieber Himmel, was ging dort in dem Haus vor? Da war ein Mensch in Not – ich konnte unmöglich einfach weiterreiten und so tun, als ob nichts wäre!
Ich ritt durchs Unterholz um den Hof herum, saß ab und band Fritzi am Pfosten des kleinen Gartentörchens an, das direkt in den Wald führte. Ich pirschte über das verwilderte Grundstück und sah erst im allerletzten Moment die tiefe rechteckige Grube, die unvermittelt vor meinen Füßen gähnte. Ein Grab! Jemand hatte hier ein Grab ausgehoben; der Spaten lehnte keine zwei Meter entfernt an einem Baumstamm. Ich schluckte nervös. Wollte der Waldschrat Friedrich Gottschalk etwa umbringen und dann hier verscharren? Großer Gott!
Ich ging vorsichtig weiter, warf einen Blick in den Stall. Nur zwei Boxen waren besetzt. Wo waren die anderen Pferde? Bei Tims Vater? Sollte Melike recht haben? Ich bog um die Hausecke und huschte vorsichtig die drei Treppenstufen zur Veranda hoch. Das Holz knarrte unter meinen Füßen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und hielt die Luft an, aber es tat sich nichts im Haus. Gebückt schlich ich weiter, bis ich das gekippte Fenster erreicht hatte. Langsam richtete ich mich auf und blickte durch das Fenster. Und was ich dort sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren …