8. Kapitel

 

Papa, Christian und Jens fuhren um kurz vor neun aufs Turnier. Ich hatte beim Verladen geholfen und darauf gewartet, dass Papa mich fragen würde, ob ich mitfahren wolle. Aber das hatte er nicht getan und ich hatte auch nicht darum gebeten, mitfahren zu dürfen. Ich hatte keine Lust, zurück ins Haus zu Mama zu gehen; stattdessen beschloss ich, einen Ausritt mit Fritzi zu unternehmen. Es gab so viel, über das ich in Ruhe nachdenken musste.

Wenig später trabte ich den sandigen Weg entlang, der zwischen dem großen Reitplatz und den Koppeln zum Wald führte. Es nieselte noch leicht, aber es war nicht kalt und das dichte Blätterwerk der Bäume im Wald würde den Regen abhalten. Ich musste Fritzi kaum lenken. Er kannte meine Lieblingswege und schlug von selbst die Richtung ein. Spaziergänger würden um diese frühe Uhrzeit an einem Sonntagmorgen nicht unterwegs sein und die Wege, die durch den Regen der letzten Tage aufgeweicht und nicht mehr so knochentrocken wie im Sommer waren, luden zu einem herrlichen Galopp ein.

»Vielleicht müssen wir vom Amselhof weg«, sagte ich zu Fritzi, der sofort seine Ohren nach hinten drehte. »Das wäre echt schrecklich!«

Allein die Vorstellung, nie mehr mit Fritzi durch den Wald reiten zu können, trieb mir die Tränen in die Augen. Und überhaupt – was würde dann aus Fritzi werden? Nein, nein, das durfte einfach nicht passieren!

Plötzlich blieb Fritzi stehen und wandte den Kopf. Ich drehte mich im Sattel um und musste wider Willen grinsen. Eigentlich hatte ich Twix in Fritzis Box eingesperrt, aber irgendwie war es dem Hund gelungen zu entkommen. Wie eine kleine braun-weiße Kanonenkugel kam er nun mit seinen kurzen Beinchen den Weg entlanggefegt und bellte begeistert, als er uns erreicht hatte.

»Du bist ein böser Hund, weißt du das?«, schimpfte ich, aber Twix freute sich wie ein Plätzchen und umkreiste Fritzi hechelnd und schwanzwedelnd, sodass ich ihm nicht böse sein konnte. Er liebte Ausritte mindestens so sehr wie mein Pferd.

»Na gut.« Ich fasste die Zügel kürzer. »Dann pass aber auf, dass du nicht unter die Hufe kommst. Jetzt wird nämlich galoppiert!«

Fritzi brauchte keine Galopphilfe mehr. Er zischte los wie ein Rennpferd und ich ging in den leichten Sitz. Ein paar Meter konnte Twix noch mithalten, aber dann fiel er zurück und ich hörte an seinem empörten Kläffen, dass ihm das überhaupt nicht passte.

Dumpf trommelten Fritzis Hufe auf dem Waldboden. Ich musste ihn noch ein wenig zurückhalten, damit er in den Kurven nicht ausrutschte, aber schließlich erreichten wir die lange Gerade, die Melike und ich »die Autobahn« nannten, weil sie zwei Kilometer lang und schnurgerade war – für Wettrennen geradezu geschaffen. Fritzis Ohren zuckten nach vorn und er legte mächtig zu, als ich ihm die Zügel etwas länger ließ. Ich duckte mich über seinen Hals und ließ ihn rennen. Am Ende der Strecke parierte ich durch und wartete auf Twix.

Der schnelle Galopp hatte meine trüben Gedanken vertrieben und ganz plötzlich zuckte die Erinnerung an Tims Lächeln durch meinen Kopf. So hatte mich noch nie ein Junge angelächelt, so … nett. Oder bildete ich mir das nur ein? Vielleicht lächelte er jeden so an. Zu Melike war er auch nett gewesen.

»Hör endlich auf, an den Typ zu denken, Elena Weiland!«, schalt ich mich selbst. Auch wenn er mit Nachnamen nicht ausgerechnet Jungblut heißen würde, wäre er doch absolut unerreichbar für mich. Auf dem Turnier hatte ich kaum übersehen können, wie die Mädchen ihm nachschauten. Warum sollte jemand, der so gut aussah und so genial reiten konnte wie Tim Jungblut, ein Pickelgesicht mit Zahnspange, wie ich es war, gut finden? Schluss mit den blöden Träumereien! Punkt. Aus. Ende.

Ich ließ Fritzi antraben. Versuchte, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, aber hinter jedem gedanklichen Ablenkungsmanöver lauerte unweigerlich Tim Jungbluts Lächeln, das Grübchen in seinem Kinn und die süße kleine Narbe. Ob er jetzt auf dem Turnier war? Wie weit war es bis zum Sonnenhof nach Hettenbach? Quer durchs Steinauer Moor höchstens eine Dreiviertelstunde. Sollte ich …? Fritzi spürte meine Unentschlossenheit und fiel in Schritt. Papa würde mich killen, sollte er erfahren, dass ich durchs Moor geritten war. Das war mindestens so verboten, wie mit Tim Jungblut eine Cola zu trinken.

Ich ritt um eine Wegbiegung und sah den Waldsee durch die Bäume schimmern. Hier, tief im Wald, lag mein Lieblingsort, an den ich mich immer zurückzog, wenn ich mal allein sein oder in Ruhe nachdenken wollte. Im Sommer hatte ich Fritzi ab und zu im Waldsee schwimmen lassen, denn auf der einen Seite gab es eine Art Strand, von dem aus man prima ins Wasser reiten konnte. Ein paarmal waren Fritzi, Twix und ich bis zu der kleinen Insel in der Mitte des Sees geschwommen und ich hatte mich dort in die Sonne gelegt. Nur selten verirrte sich mal jemand bis hierher.

Das alte Forsthaus stand seit vielen Jahren verlassen da, es wirkte düster und ein bisschen unheimlich mit den vernagelten Fensterläden. Der Wald hatte sich langsam den Hof und das ehemalige Gemüsegärtchen zurückerobert und Efeu überwucherte die ganze rückwärtige Seite des kleinen Hauses. Gelegentlich kam Melike mit, dann banden wir unsere Pferde an der Veranda an, setzten uns auf die verwitterte Holzbank und ließen unserer Fantasie freien Lauf. Mal stellten wir uns vor, wir seien als Vorhut für einen Wagentreck im Wilden Westen unterwegs, dann wieder waren wir Ausreißerinnen auf der Flucht vor der Polizei. Manchmal planten wir, mit unseren Pferden einmal rund um die ganze Welt zu reiten, später, wenn wir achtzehn waren. Ich lenkte Fritzi im Schritt durch die Bäume zum Seeufer.

»Was ist das denn?«

Ich zog die Zügel an. Die zugenagelten Schlagläden des Forsthauses waren geöffnet und aus dem Kamin quoll Rauch! Fritzi spitzte die Ohren und wieherte laut. Sekunden später ertönte eine Antwort. Ein Pferd, hier mitten im Wald?

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte ich. Natürlich wusste ich, dass das Forsthaus nicht mir gehörte, aber trotzdem kam es mir so vor, als ob irgendjemand einfach und ungefragt in mein privates Reich eingedrungen sei.

Ich ritt im Schutz der Bäume weiter um den See herum und näherte mich dem Forsthaus von hinten. Das verwitterte Holztor stand weit offen, aber weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und führte Fritzi hinter mir her. Das musste ich mir näher ansehen! Mit vor Aufregung pochendem Herzen überquerte ich den ungepflegten Hof, der von Unkraut fast zugewuchert war. Fritzi wieherte erneut und wieder antwortete ein Pferd.

»Das kommt aus dem Schuppen«, sagte ich zu mir selbst. Hinter dem Forsthaus befand sich ein Anbau, in dem nur altes Gerümpel stand. Melike und ich hatten jeden Zentimeter des Grundstücks einschließlich aller Nebengebäude im Lauf der Jahre erkundet und deshalb war ich ziemlich überrascht, statt alter Bretter und Spinnweben vier Pferdeboxen zu sehen. Sie waren zwar nur behelfsmäßig zusammengezimmert, aber zweifellos standen dort zwei Pferde! Rechts daneben stapelten sich Stroh- und Heuballen fein säuberlich bis unter das Dach. Das war eigenartig. Wer hatte das gemacht? Wer hielt sich hier mitten im tiefsten Wald zwei Pferde?

Urplötzlich erinnerte ich mich an das Gespräch von Papas Springreiterkollegen gestern auf dem Turnier und spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken rieselte. Natürlich! Nur jemand, der etwas zu verbergen hatte, musste sich verstecken. Hatte ich etwa die gestohlenen Pferde entdeckt? Ausgerechnet hier an meinem geheimen Rückzugsort? Fritzi wollte unbedingt zu den fremden Pferden hin, die uns neugierig beobachteten, und ich hatte alle Mühe, ihn davon abzuhalten.

Plötzlich spitzte Twix, der bis dahin im Schuppen hinter den Pferdeboxen nach Mäusen gestöbert hatte, die Ohren und begann leise zu knurren. Mein Herz schlug einen Salto und auf einmal hatte ich Angst. Mit Pferdedieben war nicht zu spaßen.

»Komm, Twix«, flüsterte ich, »nichts wie weg hier, bevor uns jemand erwischt!«

Ich zerrte Fritzi mehr aus dem Schuppen, als dass ich ihn führte, und schwang mich in den Sattel. Keine Sekunde zu spät! Von der anderen Seite näherte sich ein Auto. Aber mein Pferd wollte nicht von den anderen Pferden weg und drehte sich halsstarrig im Kreis. Twix bellte aufgeregt. Mir brach der Angstschweiß aus. Fritzi wieherte und riss den Kopf hoch, die Zügel glitten mir durch die schweißfeuchten Hände. Verzweifelt zog ich an den Zügeln und presste meine Waden mit aller Kraft gegen Fritzis Bauch. Schließlich gehorchte der Hengst, wenn auch widerstrebend, und ich lenkte ihn durch das hintere Tor in den Wald.

Auf dem schmalen Trampelpfad am Seeufer ließ ich ihn angaloppieren und parierte erst wieder durch, als ich den Waldrand erreicht hatte.

Fritzi schnaufte und schwitzte, Twix hing die Zunge fast bis auf den Boden und mir war vor Erleichterung ganz flau im Magen.

Erst jetzt konnte ich wieder klar denken. War ich wirklich auf das Versteck der Pferdediebe gestoßen? Müsste ich das nicht eigentlich der Polizei melden? Zu Hause konnte ich unmöglich von meiner Entdeckung erzählen, denn allein bis zum Waldsee zu reiten, war mir strengstens untersagt worden. Und vielleicht täuschte ich mich auch. Ich beschloss, bei nächster Gelegenheit mit Melike darüber zu sprechen.

Elena - Ein Leben für Pferde
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