36. Kapitel
Als ich aufwachte, brauchte ich ein paar Sekunden, um mich an die aufregenden Ereignisse der vergangenen Nacht zu erinnern. Der Wecker zeigte Viertel nach sechs, höchste Zeit, um aufzustehen. Ich kroch aus dem Bett und taumelte verschlafen hinüber ins Badezimmer. Christian kam mir entgegen.
»Hallo«, sagte ich, bekam aber keine Antwort. Er drängte sich nur unsanft an mir vorbei und ging in sein Zimmer. Gab er etwa mir die Schuld an dem, was gestern passiert war? Egal.
Ich wusch mich schnell, bürstete meine Haare und machte mir einen Pferdeschwanz, dann zog ich mich schnell an und lief nach unten. In der Küche brannte Licht, aber der Tisch war nicht gedeckt. Stimmt, Mama war ja nicht da!
Bevor ich zur Bushaltestelle fuhr, wollte ich noch schnell bei Lagunas vorbeischauen und mich von ihm verabschieden, deshalb verzichtete ich auf ein Frühstück, ergriff meinen Rucksack und zog meine Jacke an. Twix zischte an mir vorbei. Ich nahm mein Fahrrad und radelte durch die Dunkelheit hinüber zum Stall, der schon hell erleuchtet war. Heinrich und Stani fütterten gerade Heu im langen Stall. Ich lehnte das Fahrrad in der Putzhalle gegen die Wand und lief in den hinteren Stall, der als einziger noch im Dunkeln lag.
»Lagunas!«, rief ich leise und drückte auf den Lichtschalter. Die Neonröhren an der Decke flackerten und gingen an. Ich trat an Lagunas’ Box. Ihm schien es wieder gut zu gehen. Er hatte heute Nacht gelegen, sein Schweif war nämlich voller Stroh.
»Guten Morgen«, sagte jemand hinter mir. Ich fuhr erschrocken herum.
Papa saß auf einem Strohballen gegenüber von Lagunas’ Box und blinzelte in das helle Licht. Scheinbar war er überhaupt nicht ins Bett gegangen, denn er war nicht rasiert und trug noch immer die weiße Reithose vom Turnier.
»Ich … ich wollte Lagunas Tschüss sagen«, stotterte ich.
»Komm mal her.« Papa streckte die Hand nach mir aus.
Ich ging zu ihm hin. Er rückte ein Stück zur Seite und ich setzte mich neben ihn.
»Danke, Elena«, sagte er leise und legte den Arm um mich. »Dir habe ich es zu verdanken, dass ich Lagunas heute verkaufen kann. Wenn du Lajos nicht geholt hättest, wäre die ganze Sache wohl schlimm ausgegangen.«
Ich schluckte.
»Er hat mir gestern Abend alles erzählt. Woher ihr euch kennt.« Papa zog mich fester an sich. »Aber darüber, dass du immer heimlich in den Wald geritten bist, reden wir noch.«
Ich blickte ihn vorsichtig an und war erleichtert, als ich sah, dass er lächelte. Puh!
»Ich habe heute Nacht übrigens deinen Fritzi mit nach Hause gebracht«, sagte er.
»Ach! Wie denn das?«
»Na ja. Ich bin mit Lajos zum Forsthaus gefahren und dann zurückgeritten. Du hattest dir ja glücklicherweise die Zeit genommen, dein Pferd zu satteln.«
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Dann fiel mir plötzlich etwas ein. Ich beugte mich vor, öffnete meinen Rucksack und nahm das Geld heraus.
»Hier. Das hätte ich fast vergessen.« Ich reichte Papa die vierzehn 500-Euro-Scheine.
Mit einem Schlag verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Er richtete sich auf. »Woher hast du das?«
»Vom Teichert«, erwiderte ich. »Ich war am Freitag bei ihm im Büro. Mama und du, ihr habt dauernd wegen des geplatzten Schecks gestritten, und da dachte ich, wenn ich das Geld hole, dann … dann kommt Mama vielleicht zurück. Er hat …«
Ich verstummte, als ich Papas Gesichtsausdruck sah. Er war ganz blass geworden und in seinen Augen standen plötzlich Tränen. Es war schon schlimm gewesen, Mama weinen zu sehen, aber ich wusste, dass ich es nicht ertragen konnte, wenn Papa jetzt auch noch heulte.
»War … war das falsch?«, fragte ich unsicher.
Statt zu antworten nahm Papa mich in die Arme und drückte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb.
»Ach Elena, Elena«, flüsterte er. »Ich weiß echt nicht, was ich sagen soll. Lajos hat recht. Du hast wirklich Mumm.«
Ich schnappte nach Luft und Papa ließ mich los.
»Meinst du, dass Mama wiederkommt, jetzt, wo doch das Geld vom Teichert da ist?«
Papa seufzte und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Ich weiß nicht. Zu ihr war ich ja auch alles andere als nett.«
»Aber wenn du Lagunas heute weggebracht hast, dann kannst du doch zu Mama hinfahren und sagen, dass es dir leidtut, oder nicht?« Ich sah meinen Vater erwartungsvoll an.
»Du würdest das ganz sicher machen, nach allem, was ich in den letzten paar Stunden über dich erfahren habe.« Papa lächelte bekümmert und strich mir mit der Hand über die Wange. »Wenn es nur so einfach wäre.«
»Es ist einfach«, erwiderte ich überzeugt. »Ich habe neulich auch ganz schlimme Sachen zu Lajos gesagt, aber gestern im Auto habe ich mich entschuldigt und er war mir überhaupt nicht böse.«
»Was für schlimme Sachen hast du denn zu ihm gesagt?«
Ich biss mir auf die Lippen. Jetzt hatte ich wieder viel mehr verraten, als ich eigentlich wollte. Insgeheim hatte ich gehofft, Lajos hätte Papa gestern davon erzählt, doch er hatte es wohl nicht getan.
Ich druckste etwas herum, aber dann fiel mir ein, mit welchem Trick Erwachsene nur zu gern ein Gespräch beendeten, wenn es ihnen unangenehm wurde.
»Das ist eine lange Geschichte …«, sagte ich also.
Die Pferde wurden plötzlich unruhig und wieherten. Sekunden später ging die vordere Stalltür auf und Heinrich rollte den Rundballen Heu herein. Papa stand auf.
»Dann erzählst du sie mir später«, sagte er und grinste wieder. »Weißt du was? Ich würde jetzt wirklich gern sehen, wie du mit Fritzi springst.«
»Jetzt? Aber … aber ich muss doch in die Schule!«
»Ich fahre dich später hin und schreibe dir eine Entschuldigung für die erste Stunde«, schlug Papa vor. »Was hältst du davon?«
»Klingt cool.« Ich grinste breit. »Ich zieh mich schnell um. Fünf Minuten!«
Fritzi hatte unseren nächtlichen Ausflug gut überstanden. Er trabte frisch und voller Energie um die ganze Bahn, während Papa die Hindernisse, die noch immer so hoch waren, wie Herr Nötzli sie am Freitag gemacht hatte, herunterbaute. Er konnte kaum glauben, dass ich mit Quintano über diese Höhe gesprungen war. Jens kam in die Halle und blieb neugierig an der Bande stehen. Auch Heinrich und Stani tauchten auf, und schließlich kam Opa, der mir verschwörerisch zuzwinkerte, als ich an ihm vorbeigaloppierte.
»Komm mal hier über das Kreuz!«, rief Papa, als ich Fritzi ordentlich aufgewärmt hatte.
»So, Fritzi«, sagte ich leise und er drehte sofort die Ohren nach hinten. »Jetzt zeigen wir es denen aber mal.«
Ich machte ein paar Gymnastiksprünge, dann ging es an den ganzen Parcours. Fritzi zeigte sich von seiner allerbesten Seite, als wollte er Papa beweisen, dass dieser sich in ihm getäuscht hatte. Opa und Jens kamen in die Bahn und halfen Papa, die Hindernisse höher zu machen.
Der Gedanke an Tim zuckte durch meinen Kopf. Eigentlich hätte er auch dabei sein müssen, denn das, was Fritzi und ich konnten, war sein Verdienst.
»Okay«, sagte Papa.
Ich fasste die Zügel kürzer und ließ Fritzi angaloppieren. Er zog die Hindernisse mit gespitzten Ohren an und sprang so hoch in die Luft, dass ich hin und wieder Mühe hatte, im Sattel zu bleiben.
»Uiii!«, machte der Aknefrosch, als wir mühelos durch die dreifache Kombination flogen. Gleich darauf folgte der Oxer mit der blauen Plane darunter, die viele Pferde irritierte. Nicht so Fritzi. Hindernisse konnten rosa oder gepunktet oder lila kariert sein – mein Pferd interessierte das alles nicht. Er sprang für sein Leben gern, je höher, desto besser! Als wir das letzte Hindernis überwunden hatten, parierte ich Fritzi durch und sah atemlos zu Papa hinüber, der mit verschränkten Armen neben einem Oxer stand und die ganze Zeit keinen Ton gesagt hatte.
»Und?«, erkundigte ich mich. »Wie fandest du’s?«
Papa sagte lange gar nichts, betrachtete Fritzi und mich mit dieser ausdruckslosen Miene, die ich nur zu gut an ihm kannte.
»Von einem solchen Pferd haben deine Mutter und ich geträumt, als wir Gretna von For Pleasure haben decken lassen«, sagte er schließlich.
»Er gefällt dir also?«, bohrte ich.
Ich wollte Lob für meinen Fritzi hören, für das beste Pferd der Welt. Aber Papa ließ mich zappeln.
»Sag schon, Papa, findest du ihn gut?«, drängte ich.
Da schüttelte Papa langsam den Kopf. »Nein. Ich finde ihn nicht gut«, erwiderte er zu meiner abgrundtiefen Enttäuschung.
Konnten Tim und ich, konnte sich Herr Nötzli denn so sehr in Fritzi getäuscht haben? Ich musste mich mit aller Kraft beherrschen und senkte den Kopf, um nicht loszuheulen wie ein Baby. All die Arbeit, die Träume, die Hoffnung, die ich in Fritzi gesteckt hatte – war das alles umsonst gewesen?
»Elena«, riss Papas Stimme mich aus meinen Gedanken, »ich finde Fritzi nicht gut, ich finde ihn sensationell! Mir fehlen die Worte! Es ist einfach unglaublich, was du aus ihm gemacht hast!«
Mein Kopf zuckte hoch und nun war ich sprachlos. Papa stand da und grinste begeistert, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf.
»Wie hast du das nur gemacht? Und vor allen Dingen: wann? Warum habe ich dich nie mit diesem Pferd gesehen?«
Papa legte die Hand auf meine Wade, seine Augen leuchteten wieder.
»Weil ich aufgepasst habe, dass du Fritzi nicht siehst«, gab ich zu. »Ich hatte doch Angst, dass du ihn mir wegnimmst, wenn du merkst, wie gut er ist.«
Papa hörte auf zu lächeln. Er drückte meine Wade so fest, dass es wehtat.
»Du hast wirklich geglaubt, ich würde dein Pferd verkaufen, nur weil ich Geld brauche?«, fragte er mit gepresster Stimme.
Ich nickte verlegen.
Papa nahm seine Hand weg und atmete tief aus.
»Eigentlich sollte ich jetzt eingeschnappt sein«, sagte er deprimiert. »Aber ich bin wohl selbst schuld dran, dass du so schlecht von mir denkst.«
Verdammt, jetzt hatte ich alles kaputtgemacht! Ich hatte Papa mit meinen Worten gekränkt, weil ich mal wieder losgequatscht hatte, ohne vorher nachzudenken. Wie konnte ich ihm nur erklären, dass jetzt alles anders war?
Spätestens seit gestern, seitdem er mir im Stallzelt von Lagunas’ Verkauf erzählt hatte, sah ich meinen Vater mit ganz anderen Augen. Oft hatte ich ihn für herzlos und gemein gehalten, wenn ich seine Entscheidungen nicht verstand, so wie beim Vereinsturnier, als er Phönix an Teicherts verkauft hatte, ohne mir vorher etwas zu sagen. Oder als er so sauer auf mich gewesen war, weil ich mit Tim gesprochen hatte. Jetzt verstand ich alles, weil ich die Vorgeschichte kannte. Und ich hatte seinen Kummer gespürt, seine Trauer um sein liebstes und bestes Pferd, das er hergeben musste, weil er das Geld so dringend brauchte und dieses Angebot nicht ablehnen konnte.
Die ganze Nacht hatte er bei Lagunas im Stall gesessen, er hatte nicht geschlafen, weil er unglücklich war. Weil er ein Herz hatte. Das hatte mich tief berührt. Nun stand er da, versuchte zu lächeln, aber in seinen Augen sah ich, wie sehr ich ihn verletzt hatte.
Ich sprang aus dem Sattel und ergriff Papas Arm.
»Es tut mir leid, dass ich das von dir gedacht habe, Papa«, sagte ich.
»Das muss es nicht«, antwortete er und schnappte schnell nach Fritzis Zügel, bevor der sich aus dem Staub machen konnte. »Vielleicht habe ich genau das gebraucht. Ich habe mich viel zu wenig um dich gekümmert. Das war nicht fair von mir. Heute Nacht habe ich viel nachgedacht. Was du für mich getan hast, war großartig, Elena. Du bist ein ganz tolles Mädchen. Genau wie deine Mutter.«
Ich wurde bei seinen Worten ganz rot vor Stolz. Ein tolles Mädchen! Wow!
Papa und ich frühstückten noch zusammen, dabei erzählte er mir von früher. Von Lajos und Richard Jungblut, von Mamas Schwester Viola, von Tims Mutter Linda, von Mama und sich selbst. Dann schrieb er mir eine Entschuldigung für die ersten vier Stunden und fuhr mich nach Königshofen zur Schule.
»Ich bringe Lagunas jetzt in die Klinik von Dr. Sänger nach Köln«, sagte er, als er vor der Schule anhielt. »Wenn mit der Ankaufsuntersuchung alles klargeht, nimmt Viktor ihn gleich von dort aus mit. Und ich habe mir überlegt, dass dein Vorschlag eigentlich ganz gut ist.«
»Welcher Vorschlag?«
»Ich fahre von dort aus bei Opa und Oma König in Bonn vorbei. Vielleicht kann ich Mama überreden, mit nach Hause zu kommen.«
»Oh Papa, das wäre super!«, jubelte ich und fiel ihm um den Hals.
»Na ja, mal schauen.« Er grinste mir zu, dann schien ihm noch etwas einzufallen. »Ach, Elena, ich soll dir von Lajos etwas ausrichten. Ich verstehe es zwar nicht, aber das ist mir ja in der letzten Zeit öfter so ergangen.«
»Was denn?«, fragte ich neugierig.
»Er sagt, du hättest recht gehabt bei der Stute«, sagte Papa. »Sie hatte einen Tumor an der Ohrspeicheldrüse und ist gestern operiert worden.«
»Ach was!« Erst jetzt fiel mir wieder Blue Fire Lady ein, die Fuchsstute in Lajos’ Stall. Durch die ganze Aufregung hatte ich sie völlig vergessen.
»Das erklärst du mir sicher auch noch, oder?« Papa zwinkerte mir zu. »Und jetzt sieh zu, dass du in die Schule kommst, sonst muss ich dir eine neue Entschuldigung schreiben.«
Ich grinste, stieg aus und winkte seinem Auto nach. Der Gong, der das Ende der vierten Stunde verkündete, klang über den Schulhof zu mir herüber, und ich rannte los. Ich musste unbedingt Melike finden! Die Pause würde allerdings kaum ausreichen, um ihr alles zu erzählen.
In dem Moment summte mein Handy in der Jackentasche. Ich zog es hervor und klappte es auf. Eine neue Nachricht! Und sie war von Tim!
Heute Nachmittag um drei auf der Wiese?, schrieb er. Hast du Zeit? Muss dir was sagen!
Mein Herz schlug einen Salto.
Klar, tippte ich ein.
Muss dir auch jede Menge erzählen!