17. Kapitel

 

Am Morgen von Heiligabend fiel das Thermometer über Nacht um fünfzehn Grad auf minus zehn; Büsche, Bäume, Wiesen und Wege erstarrten unter einer glitzernden Eisdecke. Es wurde so klirrend kalt, dass in den Ställen die Wasserleitungen platzten und die automatischen Tränken einfroren. Diesen Temperatursturz hatte niemand erwartet und er hatte zur Folge, dass Papa und Opa nach langer Zeit wieder miteinander sprachen. Zwar nur sehr kurz, dafür aber umso heftiger.

Ich half Opa gerade, Eimer zu füllen, um die Pferde mit der Hand zu tränken, als Papa den Stall betrat.

»Konntest du etwas reparieren?«, fragte er Opa. »Wieso hat die Begleitheizung nicht funktioniert?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Opa gereizt. »Ich bin kein Klempner und auch kein Elektriker.«

»Du hättest gestern Abend das Wasser abstellen müssen«, entgegnete Papa. »Das hast du doch sonst in Frostnächten auch immer getan.«

Geräuschvoll setzte Opa die beiden vollen Eimer ab.

»Gestern waren es noch fast zehn Grad über null. Ich kann nicht riechen, dass es so kalt wird.«

Papa stemmte die Arme in die Seiten. Ich sah an seiner Miene, dass er mörderisch schlecht gelaunt war. »Ach ja, klar!«, zischte er. »Ich hab schließlich jetzt den ganzen Laden am Bein! Dir kann es scheißegal sein, ob etwas kaputtgeht. Es kostet nicht mehr dein Geld.«

Ich zog den Kopf ein und beeilte mich, in die nächste Box zu kommen. Seit Wochen war es eindeutig besser, Papa aus dem Weg zu gehen, erst recht, wenn er so drauf war wie jetzt.

»Pass gut auf, was du sagst«, antwortete Opa scharf. »Sonst kannst du nämlich bald alles allein machen. Und das heißt auch, dass du selbst die Reitstunden geben und die Boxen ausmisten kannst.«

»Du willst mich also im Stich lassen?«

»Ich lasse mich nicht von meinem eigenen Sohn wie der letzte Dorftrottel behandeln!« Nun hob auch Opa seine Stimme. »Merk dir das!«

»Ich dachte, wir hätten die Arbeitsaufteilung klar besprochen!«, schrie Papa. »Ich verdiene mein Geld auf den Turnieren! Wie soll ich Kundschaft bekommen, wenn ich hier mit dem Traktor herumfahre?«

Damit drehte er sich um und rannte fast Christian über den Haufen, der gerade mit zwei leeren Eimern aus dem langen Stall zurückkam.

»Was geht ’n hier ab?«, fragte er mich.

»Kommt, Kinder«, sagte Opa, bevor ich etwas erwidern konnte. »Ich fahre zum Futtermittelhändler und besorge Eimer. Jedes Pferd kriegt einen Eimer in die Box gehängt. Ihr holt in der Zwischenzeit das große Wasserfass aus der Scheune, hängt es an den kleinen Stallschlepper und lasst es volllaufen. Man kann nicht jeden Tag sechzig Pferde mit der Hand tränken.«

Christian und ich nickten. Opa hatte wenigstens immer praktische Einfälle und handelte, anstatt sinnlos herumzubrüllen.

 

Weihnachten wurde in diesem Jahr zu einer ziemlich traurigen Angelegenheit. Nachdem Opa die Eimer vom Futtermittelhändler geholt und wir sie in allen Boxen aufgehängt und mit Wasser gefüllt hatten, fuhr er mit Oma zu Onkel Matthias und seiner Familie, die in der Nähe von Würzburg wohnten.

Das erste Mal, seitdem ich mich erinnern konnte, waren wir an Heiligabend allein. Jens hatte bis morgen frei, Heinrich und Stani, die Stallarbeiter, waren nach Polen zu ihren Familien gefahren, deshalb mussten Papa, Mama, Christian und ich die Stallarbeit allein machen. Es war halb sechs, bis alle Pferde ihre Abendration Futter bekommen hatten und alle Wassereimer voll waren.

Früher hatten wir immer mit Opa und Oma gefeiert, aber an diesem Heiligabend saßen Christian und ich mit Papa und Mama schweigsam im Wohnzimmer, aßen Fondue und redeten kaum etwas miteinander, um nur ja keinen Streit zu provozieren. Die Stimmung war gezwungen und ich räumte freiwillig die Küche auf.

Das beste Geschenk hatte ich von Opa und Oma bekommen: ein Handy samt aufgeladener Guthabenkarte! Ich brannte darauf, endlich auf mein Zimmer verschwinden zu können, um es auszuprobieren. Christian erklärte sich großmütig dazu bereit, das Handy für mich zusammenzubauen, und als Papa um zehn Uhr auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen war, gab ich Twix einen Wink und verschwand mit ihm auf mein Zimmer.

Meine erste SMS schickte ich an Melike, die mir umgehend antwortete. Meine liebste, beste Freundin! Ich hätte sie umarmen können: Sie hatte mir Tims Handynummer geschickt, um die ich sie gebeten hatte.

Schöne Weihnachten, tippte ich also mit zittrigen Fingern ein. Hab jetzt auch ein Handy. LG E. Ich zögerte kurz, aber dann drückte ich auf »Senden«, gab Tims Nummer ein und schickte die SMS auf ihren Weg. Ich legte mich aufs Bett, das Handy in der Hand, und starrte auf das Display.

»Ich schlafe erst ein, wenn ich eine Antwort von ihm gekriegt habe«, sagte ich zu Twix.

Der Hund blickte mich nur müde an und gähnte.

 

Ich schreckte aus dem Tiefschlaf hoch und blickte mich irritiert in der Dunkelheit um. Irgendein eigenartiges Geräusch hatte mich geweckt. Neben mir auf dem Kopfkissen leuchtete etwas. Ja klar, das Handy! Ich war mit einem Schlag hellwach. In der linken unteren Ecke des Displays war ein kleines Briefumschlagsymbol zu sehen– ich hatte eine SMS bekommen! Und sie war von – Tim!

Cool!, schrieb er. Dir auch schöne Weihnachten. T.

Mein Herz klopfte und ich erwischte mich dabei, dass ich morgens um kurz nach halb sechs mit einem blöden, glücklichen Grinsen in meinem Bett lag.

Ich war viel zu aufgeregt, um noch mal einschlafen zu können, Tim war schließlich auch schon wach. Ohne Opa, Heinrich, Stani und den Aknefrosch würden Papa und Mama später die ganze Stallarbeit machen müssen. Deshalb stand ich auf, zog mich an und ging nach unten, um den Frühstückstisch zu decken.

Zehn vor sechs. Der Tisch war gedeckt, der Kaffee lief durch die Maschine, aber vom Rest meiner Familie war noch nichts zu sehen oder zu hören. Völlig unmöglich, jetzt einfach hier in der Küche herumzusitzen und zu warten. Genauso gut konnte ich den Pferden Heu füttern. Leise zog ich meine Jacke und die Stallschuhe an, nahm den Stallschlüssel vom Brett und trat hinaus in die Kälte.

Ich liebte es, morgens früh im Stall zu sein. Robbie begrüßte mich erfreut, als ich die Stalltür aufschloss und das Licht anmachte. Die Pferde blinzelten, manche von ihnen lagen noch im Stroh. Wo sollte ich anfangen? Papa hatte gestern Abend noch mit dem Frontlader in jede der drei Stallgassen einen Rundballen Heu gefahren, und jetzt suchte ich nach dem Messer, um die Ballen aufzusäbeln. In der Sattelkammer im Turnierstall hing eins, das holte ich und beschloss, gleich hier anzufangen. Bei Heinrich und Stani sah das immer so leicht aus. Ich biss die Zähne zusammen und schlitzte mühsam das Netz auf. Der Ballen fiel auseinander. Nun hieß es, mit der Heugabel die Ration für jedes Pferd in die Boxen zu schieben. Allein im Turnierstall waren das zwanzig Boxen. Außerdem brauchten die Pferde frisches Wasser. Eimer um Eimer schöpfte ich aus der Tonne, die vorn im Stall neben dem Solarium stand. Als ich endlich alle Pferde versorgt hatte, war ich klatschnass geschwitzt. Dabei hatte ich gerade mal ein Drittel geschafft. Aber aufgeben galt nicht.

Es war zwanzig nach sieben, als ich allen Pferden Heu und Wasser gegeben hatte, auch Fritzi und den Gnadenbrotpferden in der Scheune. Ich schob das große Tor zu und drehte mich um. Mir blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen, als sich aus der Dunkelheit ein Schatten löste. Vom Bewegungsmelder ausgelöst, flammte der Strahler an der Scheunenwand auf.

»Papa!«, stieß ich hervor. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

Mist! Eigentlich wollte ich auch schon gefüttert haben, bis er im Stall auftauchte.

»Du mich aber auch«, erwiderte Papa. »Was machst du denn hier um diese Uhrzeit?«

»Ich wollte euch überraschen, weil Weihnachten ist«, gab ich zu und fröstelte in der eisig kalten Luft. »Ich hab schon alle Pferde getränkt und ihnen Heu gegeben.«

»Du bist ja eine Nummer! Wann bist du denn aufgestanden?«

»Ich glaub, um halb sechs«, sagte ich. Das erste Mal seit Wochen sah ich Papa lächeln, richtig freundlich mit Lachfältchen um die Augen, ganz so wie früher.

»Und den Frühstückstisch hast du auch schon gedeckt.« Er legte seinen Arm um meine Schultern, zog mich an sich und drückte mir sogar einen Kuss auf die Stirn. Das hatte er schon so lange nicht mehr getan, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte. »Danke, meine große Kleine!«

Seine Stimme klang rau und ich verspürte ein Gefühl der Erleichterung. In der letzten Zeit war es echt nicht leicht gewesen, Papa zu mögen, denn ich wusste nie, wie er reagieren würde.

»Was hältst du davon, wenn wir beide jetzt noch schnell füttern und einstreuen?«, schlug er vor. »Und dann frühstücken wir in aller Ruhe.«

»Ja, das klingt gut«, antwortete ich. »Mir wird nämlich langsam kalt.«

Papa und ich waren ein gutes Team. Er schob den Futterwagen und ich schüttete den Pferden Kraftfutter und Hafer in die Tröge, dabei redeten wir über dies und das. Genauso teilten wir uns später die Arbeit beim Einstreuen der Boxen. Um acht Uhr waren alle Pferde versorgt, die Stallgassen blitzblank gefegt. Der Morgen dämmerte herauf, als wir hinüber zum Haus gingen.

»Ich hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich, dass ich Phönix an Teicherts verkauft habe«, murmelte Papa zu meiner Überraschung.

Ich hatte ehrlich gesagt gar nicht mehr daran gedacht, schließlich hatte ich Fritzi, aber das wollte und konnte ich ihm unmöglich erzählen.

»Nee, bin ich nicht«, antwortete ich. »Phönix war mir eh ein bisschen zu langweilig.«

»Zu langweilig?« Papa schüttelte belustigt den Kopf.

»Na ja, für Ariane passt er schon. Aber ich mag es lieber, wenn ein Pferd etwas mehr Pep hat.«

»So, so.« Er blieb stehen und sah mich schmunzelnd an. »Und welches Pferd würde dir dann gefallen? Du willst doch den Lehrgang mitreiten, oder?«

Morgen begann der fünftägige Weihnachtslehrgang, den Papa jedes Jahr gab und der mit dem Silvesterspringen endete. Seit Wochen war der Lehrgang ausgebucht, aus der ganzen Umgebung hatten sich Reiterinnen und Reiter angemeldet und es gab sogar eine Warteliste.

»Echt? Ich darf den Lehrgang mitreiten?«, fragte ich ungläubig.

»Es ist ein Weihnachtsgeschenk. Natürlich nur, wenn du Lust dazu hast.« Papa ging weiter, drehte sich dann aber wieder zu mir um, die Hände in den Taschen seiner Jacke. »Was hältst du von Calvador?«

Er sagte das so beiläufig, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, dass er mir eines seiner besten Turnierpferde anbot. Mir blieb der Mund offen stehen.

»Ich soll Calvador reiten?«, flüsterte ich fassungslos.

»Ja, warum nicht? Er ist nicht ganz so brav wie Phönix, aber auf ihm kannst du sicher eine Menge lernen.«

 

Wie ich es mir schon gedacht hatte, platzte mein Bruder fast vor Neid, als er die Neuigkeit hörte. Calvador, der neunjährige schneeweiße Holsteiner Schimmelhengst, hatte im vergangenen Jahr mit Papa viele Springen gewonnen, darunter die Großen Preise von Neumünster und von München. Er war nach Lagunas das zweitbeste Pferd in unserem Stall, und die Tatsache, dass ich ihn reiten durfte, war zweifellos eine Auszeichnung.

»Wieso darf Elena Calvador reiten und ich nicht?«, beschwerte er sich schon beim Frühstück.

»Weil du Cotopaxi und Lancelot reitest«, entgegnete Papa ungerührt. »Das wolltest du doch selbst so.«

»Ich hätte mich ja auch nie getraut, dich nach Calvador zu fragen.«

Christian warf mir einen mehr als unfreundlichen Blick zu, den ich geflissentlich übersah. Ihn ärgerte es, dass ich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand und ausnahmsweise mal nicht er.

»Kleine Schleimkuh!«, zischte Christian mir ins Ohr, aber ich lächelte nur in mich hinein.

»Thema beendet«, sagte Papa gut gelaunt.

Mama war auch besser drauf als in den letzten Tagen. Papa und sie freuten sich auf den Lehrgang, zu dem auch viele ihrer Freunde kommen würden. Außerdem brachte er gutes Geld ein und das brauchten wir mehr als dringend.

Papa erzählte Mama, wie ich heute Morgen schon im Stall geschuftet hatte, und Christians Miene wurde immer grimmiger. Wahrscheinlich hätte er vor Ariane und den anderen nur zu gern damit angegeben, Calvador reiten zu dürfen.

In meiner Hosentasche piepste und vibrierte es plötzlich und ich fuhr erschrocken zusammen. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, dass ich jetzt ein Handy besaß.

»Ich glaube, ich habe eine SMS gekriegt«, sagte ich.

»Ach, das ist ja toll«, erwiderte Christian spöttisch. »Gibt’s denn so was?«

Ich streckte ihm die Zunge raus und sprang auf. Am Tisch haben Handys nichts zu suchen, sagte Mama immer. Das sei unhöflich. Ich ging also in den Flur und öffnete mit klopfendem Herzen die Nachricht. Sie war nicht von Tim, wie ich heimlich gehofft hatte, sondern von Melike.

Ich hab’s eben getan!!!!!, las ich und kapierte nicht, was sie damit meinte. Der Waldschrat kriegt Besuch …

Erst da fiel mir wieder der unheimliche Mann mit der Axt im Forsthaus ein. Ich hatte gar nicht mehr an ihn gedacht. Melike hatte also tatsächlich bei der Polizei angerufen.

Elena - Ein Leben für Pferde
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