KAPITEL 13
»Der große Prüfstein«
Die unmittelbare Bedrohung für die
freien Menschen befindet sich in Westberlin.
Aber dieser isolierte Vorposten ist kein isoliertes
Problem. Die Bedrohung
gilt der ganzen Welt. Vor allem ist er jetzt – mehr
denn je zuvor — zu dem großen
Prüfstein für den Mut und die Willensstärke des
Westens geworden,
zu einem Brennpunkt, in dem unsere feierlichen,
durch all die Jahre bis 1945
zurückreichenden Verpflichtungen jetzt mit den
sowjetischen Ambitionen
in grundsätzlicher Gegenüberstellung
zusammentreffen.
JOHN F. KENNEDY IN EINER SONDERANSPRACHE IM FERNSEHEN, 25, JULI 19611
Ostdeutschland gleitet
Chruschtschow allmählich aus der Hand,
und das kann er nicht zulassen. Wenn Ostdeutschland
erst einmal weg ist,
passiert das Gleiche mit Polen und ganz Osteuropa.
Er muss etwas unternehmen,
um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Vielleicht baut
er eine Mauer.
Und wir werden nichts dagegen unternehmen können.
Ich kann das Bündnis
auf die Verteidigung Westberlins einschwören, aber
ich kann nichts tun,
um Ostberlin offen zu halten.
JOHN F. KENNEDY ZUM STELLVERTRETENDEN
NATIONALEN SICHERHEITSBERATER WALT ROSTOW EINIGE TAGE
SPÄTER2
DIE VOLKSKAMMER,
OSTBERLIN
DONNERSTAG, 6. JULI 1961
Michail Perwuchin, der sowjetische Botschafter in der DDR, wies seinen Berater Julij Kwizinskij an, sofort Ulbricht ausfindig zu machen. »Wir haben ein Ja aus Moskau«, sagte Perwuchin.3
Mit seinen neunundzwanzig Jahren zählte Kwizinskij zu den neuen Hoffnungsträgern im sowjetischen Außenministerium und war für Perwuchin wegen seines gesunden Menschenverstands und dem fehlerlosen Deutsch bereits unersetzbar. Er spürte, dass ein historischer Moment gekommen war. Nachdem Chruschtschow eine erheblich verbesserte Karte Berlins von General Jakubowskij, dem Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, sorgfältig geprüft hatte, war der sowjetische Führer zu dem Schluss gelangt, dass Ulbricht recht hatte: Es war möglich, Berlin abzuriegeln.
Jahre später sollte Chruschtschow die Verantwortung für die Entscheidung, die Berliner Mauer zu bauen, ganz auf sich nehmen. »Ich war derjenige«, schrieb er in seinen Memoiren, »der sich die Lösung für das Problem ausdachte, vor dem wir als Folge der unbefriedigenden Verhandlungen mit Kennedy in Wien standen.«4 Dabei gab Chruschtschow Ulbricht lediglich grünes Licht für eine Lösung, die der ostdeutsche Parteichef bereits im Jahr 1952 gegenüber Stalin ins Gespräch gebracht hatte. Die Sowjets sollten bei der Gestaltung und Verbesserung helfen sowie wichtige militärische Garantien für den Erfolg der Operation bieten, aber Ulbricht hatte nie lockergelassen und damit sein Wunschergebnis herbeigeführt. Überdies sollte Ulbrichts Team letztlich sämtliche Details ausarbeiten.
Chruschtschow sagte dem westdeutschen Botschafter in Moskau, Hans Kroll: »Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu gegeben hat. Ulbricht hat mich zwar schon seit längerem und in den letzten Monaten immer heftiger gedrängt, aber ich möchte mich nicht hinter seinem Rücken verstecken.« Scherzhaft fügte er noch hinzu, dass Ulbricht dafür ohnehin viel zu schmächtig sei. »Die Mauer wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung fortgefallen sind«, sagte Chruschtschow zu Kroll.5
Chruschtschow war die Entscheidung nicht leichtgefallen; er wusste, dass sie das weltweite Ansehen des Sozialismus erheblich beschädigen würde. »Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er sich selbst. »Man konnte sich unschwer ausrechnen, wann die ostdeutsche Wirtschaft zusammengebrochen wäre, wenn wir nicht alsbald etwas gegen die Massenflucht unternommen hätten. Es gab nur zwei Arten von Gegenmaßnahmen: die Luftblockade oder die Mauer. Die erstgenannte hätte uns in einen ernsten Konflikt mit den Vereinigten Staaten gebracht, der möglicherweise zu einem Krieg geführt hätte. Das konnte und wollte ich nicht riskieren. Also blieb nur die Mauer übrig.«6
Nachdem Chruschtschow seine Entscheidung nach Ostberlin durchgegeben hatte, spürte Kwizinskij Ulbricht in der Volkskammer auf. Er nahm gerade an einer Sitzung des ostdeutschen Parlaments teil, das alles abnickte, was er beantragte – das galt im Übrigen für so gut wie alles in der DDR.
Perwuchin teilte dem zufriedenen Ulbricht mit, dass er von Chruschtschow grünes Licht bekommen habe, die praktischen Vorbereitungen für eine Schließung der Grenze in Berlin in Angriff zu nehmen, dass er aber unter größtmöglicher Geheimhaltung vorgehen müsse. »Für den Westen muss die Aktion schnell und überraschend durchgeführt werden«, sagte Perwuchin.7
Sprachlos hörten die beiden Sowjets Ulbricht zu, wie er ihnen völlig emotionslos bis ins kleinste Detail einen bereits genauestens ausgearbeiteten Plan darlegte.
Eine solche Grenze könne man, so Ulbricht, »in ihrer ganzen Länge nur mithilfe von Stacheldraht rasch abriegeln. Diesen benötige man in ausreichender Menge, ebenso Pfähle, und alles müsse insgeheim nach Berlin gebracht werden.« Er wisse, wo er sich das Material besorgen und wie er es nach Berlin bringen könne, ohne dass westliche Geheimdienste alarmiert würden. Unmittelbar vor Schließung der Grenze müsse der gesamte U- und S-Bahnverkehr gestoppt werden, sagte er. Am S-Bahnhof Friedrichstraße, über den der größte Teil des Berliner Grenzverkehrs abgewickelt wurde, wollte er eine bruchsichere Glaswand aufstellen lassen, sodass die Ostberliner keine Züge nach Westberlin besteigen konnten, um der Abriegelung zu entkommen.8
Die Sowjets sollten die Schwierigkeit der Operation keinesfalls unterschätzen, sagte Ulbricht zu Perwuchin. Er werde in den ersten Stunden eines Sonntagmorgens handeln, wenn der Grenzverkehr viel schwächer sei und sich viele Berliner außerhalb der Stadt aufhielten. Die 50 000 Ostberliner, die unter der Woche in Westberlin arbeiteten, die sogenannten Grenzgänger, seien am Wochenende zu Hause und würden somit Ulbricht in die Falle gehen.
Die Details der Aktion werde er nur seinen engsten Gefolgsleuten mitteilen, so Ulbricht: dem Sicherheitssekretär des Zentralkomitees Erich Honecker, der die Operation leiten würde, dem Chef der Staatssicherheit und der Geheimpolizei Erich Mielke, Innenminister Karl Maron, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und Verkehrsminister Erwin Kramer. Den Auftrag, Perwuchin und Kwizinskij ständig persönlich über den Gang der Vorbereitungen auf dem Laufenden zu halten, werde er nur einem einzigen Menschen anvertrauen, dem Chef seiner Leibgarde.9
WEISSES HAUS,
WASHINGTON, D.C.
FREITAG, 7. JULI 1961
Nur einen Tag nachdem Ulbricht von Chruschtschow für seinen kühnen Plan grünes Licht erhalten hatte, schmiedete Kennedys Sonderberater Arthur Schlesinger Pläne, um den Tatendrang seines Rivalen Dean Acheson zu bremsen.
Schlesinger, der schon mit siebenundzwanzig Jahren für sein Buch The Age of Jackson den Pulitzer-Preis bekommen hatte, war gewissermaßen zum Hofhistoriker Kennedys avanciert, der sich ebenfalls darum bemühte, den Schaden in Grenzen zu halten. Das plötzliche Augenmerk des US-Präsidenten auf Berlin war eine Reaktion auf die, wie er selbst meinte, schlechte Vorstellung im Vorfeld der Schweinebucht-Operation. Schlesinger hatte sich damals als einziger enger Berater des Präsidenten gegen die Invasion ausgesprochen, machte sich aber später selbst Vorwürfe, »nicht mehr getan zu haben, als ein paar schüchterne Fragen zu stellen«, während Militärs und CIA-Offiziere Kennedy drängten, die Aktion zu genehmigen. Schlesinger hatte seine Abneigung in einem persönlichen Memorandum formuliert, in dem er Kennedy warnte, dass das neue Bild von den Vereinigten Staaten zerstört werde: »Dieser wiedererwachende Glaube der Welt an Amerika wird mit dem Kuba-Unternehmen aufs Spiel gesetzt.«10
Schlesinger wollte auf keinen Fall denselben Fehler zweimal begehen. Der Acheson-Plan für Berlin war in seinen Augen zumindest ebenso verrückt wie die Invasion in der Schweinebucht. Deshalb bat Schlesinger zwei Personen, die beträchtlichen Einfluss auf Kennedy hatten, eine Alternative auszuarbeiten. Der eine war der Rechtsberater des US-Außenministeriums Abram Chayes, ein neununddreißigjähriger Jurist, der das Team angeführt hatte, das Kennedys Programm für den Nominierungskonvent der Demokraten verfasst hatte. Der andere war Henry Kissinger, der achtunddreißigjährige Berater des Weißen Hauses, ein aufsteigender Stern, der mit seinem Buch Die Entscheidung drängt. Grundfragen westlicher Außenpolitik Kennedys Ansichten zur Atompolitik geprägt hatte. Kissinger hatte 1960 zwar den Versuch des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller, als republikanischer Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden, unterstützt, aber über seine Kollegen in Harvard bemühte er sich mittlerweile, auf Kennedy im Weißen Haus Einfluss zu nehmen.11
Als Kennedy im Februar Acheson in seine Dienste gestellt hatte, hatte Schlesinger daraus den Schluss gezogen, dass der Präsident lediglich ein breiteres Meinungsbild anstrebte. Inzwischen fürchtete Schlesinger, dass Kennedy den unnachgiebigen Ansatz Achesons in der Berlin-Frage als eigenen Kurs übernahm, falls ihm niemand einen Alternativvorschlag unterbreitete. UN-Botschafter Adlai Stevenson war über Achesons wachsenden Einfluss ebenfalls beunruhigt. »Vielleicht hat Dean recht«, sagte er zu Schlesinger, »aber seine Behauptung sollte am Ende einer Untersuchung stehen, nicht am Anfang. Er beginnt an einem Punkt, den wir nicht erreichen dürfen, bevor alle Alternativen erwogen und erschöpft sind.«12
Es musste unbedingt verhindert werden, dass es Acheson gelang, den Präsidenten zu überzeugen, dass Berlin »kein Problem, sondern ein Vorwand« für Chruschtschow sei. Dem Sowjetführer gehe es gar nicht um die Situation vor Ort, sondern darum, die allgemeine Entschlossenheit der Vereinigten Staaten und ihres neuen Präsidenten, sich dem sowjetischen Vordringen zu widersetzen, auf die Probe zu stellen.
Schlesinger fürchtete, dass »seine [Achesons] brillanten, gebieterischen mündlichen Ausführungen« die Diskussion um die Vorstellung einengen würden, dass die Sowjets »unbegrenzte Ziele« verfolgten, indem sie eine neue Berlin-Krise heraufbeschworen. Dabei hatten ausgerechnet die besten Moskau-Kenner, nämlich Thompson und Averell Harriman, ehemals Botschafter in Moskau, den Eindruck, Chruschtschows Drohgebärden könnten durchaus auf Berlin begrenzt sein, und aus diesem Grund sollte man ganz anders mit ihnen umgehen. Auch wenn im US-Außenministerium über Achesons harten Kurs Uneinigkeit herrschte, war Schlesinger doch besorgt darüber, dass niemand die andere Seite der Diskussion formulierte, weil Rusk sehr »vorsichtig war und niemand recht wusste, wo er stand«.
Die britische Regierung hatte ihren flexibleren Kurs an den Economist durchsickern lassen, der daraufhin meldete: »Wenn Mr Kennedy nicht entschlossen das Kommando übernimmt, läuft der Westen Gefahr, eine Kompromissmöglichkeit nach der anderen vorübergehen zu lassen, bis er in eine Sackgasse gerät, in der weder uns noch den Russen eine andere Wahl bleibt, als zwischen schmählichem Rückzug und atomarer Vernichtung zu entscheiden.«
Schlesinger hatte das Gefühl, dass er rasch handeln müsse, um nicht seinen Einfluss zu verlieren, weil das »Gerede über eine Mobilisierung unter Proklamation des nationalen Notstands das Risiko barg, die Krise bis zu einem Punkt zu treiben, von dem es kein Zurück mehr gab«. Er hatte Angst, dass sich die Entwicklung im Vorfeld der Invasion in der Schweinebucht wiederholen könnte, als ein schlechter Plan eine unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt hatte, weil sich niemand ihm entgegengestellt oder eine Alternative präsentiert hatte.
Er war entschlossen, einen Showdown zur Berlin-Politik herbeizuführen, bevor es zu spät war.
Am 7. Juli überreichte Schlesinger, unmittelbar nach einem Gespräch mit Kennedy über ein anderes Thema, dem Präsidenten seine Denkschrift zu Berlin und bat ihn, sie sich am Nachmittag auf der Fahrt nach Hyannis Port anzusehen. 13
Schlesinger hatte ganz richtig vermutet, dass nichts schneller Kennedys Aufmerksamkeit finden würde als eine glaubwürdige Warnung, der Präsident sei in Gefahr, seine Fehler in Kuba zu wiederholen. Nach dem Debakel hatte Kennedy im Scherz über das warnende Memorandum Schlesingers zu Kuba gesagt, es »wirke ziemlich gut«, wenn der Historiker einmal dazukommen sollte, sein Buch über die Regierung zu schreiben. Dann fügte er aber warnend hinzu: »Nur sollte er das Memorandum lieber nicht veröffentlichen, solange ich noch am Leben bin.« In seinem Memorandum gegen Acheson erinnerte Schlesinger Kennedy daran, dass das Fiasko in Kuba die Folge einer »übermäßigen Konzentration auf militärische und technische Probleme und der völlig unzureichenden Berücksichtigung politischer Fragen« im Vorfeld gewesen sei.14 Zwar lobte er Achesons Memorandum, weil es »vorzüglich in der Analyse der letzten Möglichkeiten« sei, äußerte aber die Befürchtung, dass der Ex-Außenminister die Angelegenheit schablonenhaft auf folgende Frage verenge: »Willst du etwa kneifen? […] Wenn jemand etwas vorschlägt, was schneidig, hart, nach Entweder-oder klingt, ist es schwierig, ihm mit etwas entgegenzutreten, das weich, idealistisch gefühlsduselig scheint.« Schlesinger erinnerte den Präsidenten daran, dass sein Experte für die Sowjetunion, Chip Bohlen, die Meinung vertrat, dass kaum etwas die Debatten über die Sowjetunion weiter voranbrächte, als die Wörter »hart« und »weich« aus dem Wortschatz zu streichen.
»Wer gegen Kuba Bedenken hatte«, schrieb Schlesinger und spielte damit eindeutig auf sich selbst an, »stellte sie zurück, weil sie ›weich‹ scheinen könnten. Ganz offensichtlich ist es wichtig, dass derartige Befürchtungen nicht die freie Diskussion der Berlin-Frage einengen.«
Der Präsident las das Memorandum aufmerksam durch und sah anschließend seinen Freund besorgt an. Er stimmte zu, dass Achesons Ansatz zu eng sei und dass »die Berlin-Planung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden« müsse. Er erteilte Schlesinger den Auftrag, sein Memorandum auf der Stelle so auszuweiten, dass er es am nächsten Tag in Hyannis Port verwenden könnte.
Schlesinger begann einen Wettlauf gegen die Zeit, weil Kennedys Hubschrauber um 17 Uhr vom Rasen des Weißen Hauses starten sollte. In den verbleibenden zwei Stunden bis zum Abflug diktierten Chayes und Kissinger, der Jurist und der Politologe, den Text, während Schlesinger fleißig tippte und gleichzeitig redigierte. Als Schlesinger die endgültige Fassung aus der Schreibmaschine zog, hatte er einen Text, der eine ganze Reihe von Fragen zu Achesons Memorandum aufwarf und völlig neue Ansätze vorschlug. Dort hieß es:
Die Prämisse Achesons lautet im Wesentlichen wie folgt: Chruschtschows Hauptziel bei der Forcierung der Berlin-Frage ist es, die Vereinigten Staaten in einer grundlegenden Frage zu demütigen, indem er uns zwingt, bei einem heiligen Versprechen einen Rückzieher zu machen und so unsere weltweite Macht und unser Ansehen zu erschüttern. Die Berlin-Krise hat, in seinen Augen, nichts mit Berlin, Deutschland oder Europa zu tun. Von dieser Prämisse aus gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass wir derzeit eine verhängnisvolle Prüfung unserer Entschlossenheit erleben […] und dass sich Chruschtschow nur von der demonstrativen Bereitschaft der USA abschrecken lassen wird, einen Atomkrieg zu riskieren, statt den Status quo aufzugeben. Nach dieser Theorie sind Verhandlungen schädlich, bis sich die Krise massiv zugespitzt hat; selbst dann sind sie nur zu Propagandazwecken nützlich; und am Ende ist der eigentliche Zweck, eine Formel zu finden, um Chruschtschows Niederlage zu kaschieren. Die Probe der Entschlossenheit wird zu einem Selbstzweck statt zu einem Mittel für einen politischen Zweck.15
Die drei Männer zählten anschließend die Punkte auf, die Acheson ihrer Meinung nach übersehen hatte:
»Was unternehmen wir, politisch gesehen, bis zum Ausbruch der Krise? Wenn wir stillsitzen oder uns darauf beschränken, sowjetische Behauptungen zu widerlegen«, heißt es in dem Memorandum, würden die USA es zulassen, dass Chruschtschow die Initiative behielt und Kennedy in der Defensive blieb. Er würde nach außen hin »unbeweglich« und »unvernünftig« wirken.
»Das [Acheson-] Memorandum lässt keine Beziehung zwischen den empfohlenen militärischen Maßnahmen und den größeren politischen Zielen erkennen. « Mit bewusst drastischen Worten weisen die Verfasser darauf hin, dass Acheson »außer dem gegenwärtigen Zugangsverfahren kein politisches Ziel [erwähnt], für das wir die Welt in Schutt und Asche zu legen gewillt wären«. Deshalb argumentieren sie: »Es ist unerlässlich, das Anliegen herauszuarbeiten, für das wir bereit sind, den Atomkrieg auszulösen. «
»Das Memorandum geht nur auf eine Eventualität ein – die Unterbrechung des militärischen Zugangs nach Westberlin durch die Kommunisten.« Dabei gebe es in Wirklichkeit »eine ganze Skala von Behinderungen, und eine totale Blockade könnte darunter eine der am wenigsten wahrscheinlichen sein«.
»Das Memorandum geht aus von unserer Bereitschaft, den Atomkrieg zu beginnen. Aber diese Möglichkeit ist nicht definiert.« Die drei Männer rieten Kennedy, der sich, wie sie wussten, wegen der Kriegsoptionen bereits den Kopf zerbrach: »Bevor man von Ihnen verlangt, die Entscheidung für den Atomkrieg zu treffen, haben Sie ein Recht zu wissen, was der Atomkrieg konkret bedeutet. Das Pentagon sollte eine Analyse der möglichen Grade und Auswirkungen eines Atomkriegs anfertigen, die gleichzeitig die möglichen Abstufungen unseres atomaren Gegenschlags berücksichtigt.« Die Denkschrift kritisierte Acheson, weil er sich »fast ausschließlich dem Problem des militärischen Zugangs« zu Berlin widmete. Dabei machte der militärische Verkehr nur 5 Prozent des gesamten Verkehrs aus, 95 Prozent hingegen bestünden aus Lieferungen an die Zivilbevölkerung. Das Memorandum wies darauf hin, dass die DDR diesen zivilen Verkehr ohnehin bereits vollständig kontrolliere, den sie erstaunlich bereitwillig erleichtert habe. Überdies sei der zivile Verkehr unverzichtbar für das Ziel der Vereinigten Staaten, die Freiheit Westberlins zu erhalten.
Schließlich argumentierte das Memorandum, Acheson habe Empfindlichkeiten innerhalb der NATO ignoriert. »Was geschieht, wenn unsere Verbündeten nicht mitmachen?« Es sei unwahrscheinlich, dass die Bündnispartner Achesons Idee, Truppen über die Autobahn zu entsenden, um eine Blockade durch eine Bodentruppe zu brechen, unterstützen würden. De Gaulle habe sich bereits dagegen ausgesprochen. »Wie steht es mit den Vereinten Nationen? Ganz gleich, was geschieht: Die Frage wird vor die UNO kommen. In jedem Fall müssen wir eine überzeugende Position für die UNO haben.«
Ein derart wichtiges Dokument wurde wohl selten so schnell konzipiert. Schlesinger tippte fleißig, um mit dem Gedankengang seiner brillanten Mitverschwörer Schritt zu halten. Stets die Uhr im Blick, verfasste er einen Abschnitt mit der Überschrift »Beiläufige Gedanken zu nicht ausgeloteten Alternativen«. Im Telegrammstil wurden hier die Fragen aufgezählt, die der Präsident über jene hinaus erörtern sollte, die Acheson geliefert hatte.
Vor allem wollten die Männer dafür sorgen, dass sämtliche Fragen und Alternativen »systematisch ans Licht gebracht und eingehend geprüft wurden«, ehe man voreilig mit Achesons Plan fortfuhr. Das nicht signierte Memorandum Schlesingers ließ durchblicken, dass der Präsident sich überlegen sollte, Achesons Text ganz aus dem Verkehr zu ziehen. Die Gefahr, dass Achesons Gedanken durchsickerten, argumentierten die Verfasser, sei größer als die Gefahr, die mit einer ausführlichen Diskussion im engeren Kreis verbunden sei.
Ohne zu wissen, dass Chruschtschow seinen Kurs in der Berlin-Frage bereits beschlossen hatte, führten Regierungsvertreter in Washington hinter den Kulissen einen regelrechten Krieg gegen Dean Acheson. Obwohl das Memorandum mit heißer Nadel gestrickt worden war, war es gründlich und enthielt sogar den Vorschlag, neue Personen in den Prozess einzubeziehen, um den Einfluss Achesons abzuschwächen. Unter anderen wurden Averell Harriman und Adlai Stevenson ins Spiel gebracht.
Das war die Rache der so genannten SLOBs, der »Weicheier« in der Berlin-Frage.
Schlesingers Memorandum schloss mit dem Vorschlag, einen der Autoren in den Prozess einzubinden. »Insbesondere sollte Henry Kissinger ins Zentrum der Berlin-Planung geholt werden«, hieß es. Es sollte einer der ersten Auftritte für einen Mann werden, der sich im Laufe der nächsten Jahre zu einem der einflussreichsten außenpolitischen Berater entwickeln sollte.
Um dieselbe Zeit bekam Kennedy auch von Verteidigungsminister McNamara und Sicherheitsberater Bundy Zweifel an der bestehenden Atomkriegsplanung bezüglich Berlin zu hören. In seiner eigenen Denkschrift im Vorfeld des Treffens in Hyannis Port beschwerte sich Bundy über die »gefährliche Starrheit des strategischen Kriegsplans«. Der Plan ließ dem Präsidenten kaum eine Wahl zwischen einem Angriff mit allen Mitteln auf die Sowjetunion und überhaupt keiner Reaktion. Bundy schlug vor, dass McNamara den Kriegsplan überarbeitete.16
WEISSES HAUS,
WASHINGTON, D.C.
FREITAG, 7. JULI 1961
Henry Kissinger fuhr in seiner Funktion als Berater des Weißen Hauses nur an ein oder zwei Tagen pro Woche von seiner Stelle an der Harvard University nach Washington, doch das genügte vollauf, um ihn ins Zentrum der Auseinandersetzung um Kennedys Ansicht in der Berlin-Frage zu katapultieren. Der ehrgeizige junge Professor hätte mit Freude auch in Vollzeit für den Präsidenten gearbeitet, aber das wurde von seinem ehemaligen Dekan und derzeitigen Vorgesetzten, dem Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy, verhindert. 17
Obwohl Kissinger es meisterlich verstand, sich bei Vorgesetzten lieb Kind zu machen, war Bundy dagegen resistenter als die meisten. Genauso wie der Präsident hielt Bundy Kissinger zwar für einen brillanten Kopf, aber auch für anstrengend. Bundy ahmte Kissingers langatmige Tiraden mit deutschem Akzent sowie das dazugehörige Augenrollen des Präsidenten nach. Kissinger beklagte sich seinerseits, dass Bundy seine beachtlichen geistigen Fähigkeiten in den »Dienst von Ideen [gestellt habe], die eher modisch als gehaltvoll waren«. Kissingers Biograf Walter Isaacson gelangte zu dem Schluss, dass ihre Differenzen auf die Herkunft und den Stil zurückzuführen waren – der distinguierte Bostoner aus der Oberschicht, der sich zu dem ungestümen deutschen Juden herabließ.18
Diese Nähe zum Zentrum der amerikanischen Macht war dennoch eine neue und aufregende Erfahrung für Kissinger sowie eine erste Einführung in die Grabenkämpfe im Weißen Haus, die einen so großen Teil seines außergewöhnlichen Lebens ausmachen sollten. Der mit den Vornamen Heinrich Alfred 1923 im bayerischen Fürth geborene Kissinger war mit seiner Familie vor der Verfolgung durch die Nazis geflohen und im Alter von fünfzehn Jahren nach New York gelangt. Nunmehr stand er dem Oberbefehlshaber der USA mit Rat und Tat zur Seite. Bundy hatte sich zwar alle Mühe gegeben, ihn von Kennedy fernzuhalten, aber jetzt verschaffte ihm ein anderer Harvard-Professor, nämlich Arthur Schlesinger, Zugang zum Präsidenten und setzte ihn gegen Acheson ein.
Kissinger, gut dreißig Jahre jünger als Acheson, hatte weder dessen politische Erfahrung noch dessen Zugang zum Oval Office, aber sein zweiunddreißigseitiges »Memorandum für den Präsidenten« zum Thema Berlin war ein tollkühner Versuch, den ehemaligen Außenminister auszubooten. Es landete, unmittelbar bevor Kennedy nach Hyannis Port aufbrach, um dort seine eigene Haltung zu Berlin auszuarbeiten, auf dem Schreibtisch des Präsidenten. Kissinger war zwar ein viel stärkerer Hardliner gegenüber Moskau als Schlesinger, doch er hielt es für geradezu verwegen, wenn der Präsident Achesons völlige Ablehnung der Diplomatie als gangbaren Weg übernähme.
Der Harvard-Professor hatte Angst, dass Kennedys Mitarbeiter oder gar der Präsident selbst so naiv wären, mit Chruschtschows Idee einer »Freien Stadt« zu liebäugeln, derzufolge Westberlin unter UN-Verwaltung gestellt werden sollte. Darüber hinaus machte sich Kissinger Sorgen wegen Kennedys Verachtung für den großen Adenauer und wegen der Anschauung des Präsidenten, dass die langfristige Verpflichtung des Westens zu einer deutschen Wiedervereinigung über freie Wahlen wirklichkeitsfremd sei und deshalb verhandelbar sein müsste. Kennedy war sich, fürchtete Kissinger, nicht ausreichend darüber im Klaren, dass eine Nachlässigkeit in der Berlin-Frage eine Krise für die atlantische Allianz heraufbeschwören könnte, die den amerikanischen Sicherheitsinteressen weit stärker schaden könnte, als jeder Kuhhandel mit Moskau rechtfertigen würde.
Also brachte Kissinger seine Warnung an Kennedy unmissverständlich zum Ausdruck:
Zuallererst müssen wir klären, was auf dem Spiel steht. Das Schicksal Berlins ist der Prüfstein für die Zukunft der nordatlantischen Gemeinschaft. Eine Niederlage in Berlin, also eine Verschlechterung der Möglichkeit Berlins, in Freiheit zu leben, würde unweigerlich die Bundesrepublik entmutigen. Die peinlich eingehaltene Westorientierung würde als ein Fiasko angesehen werden. Alle anderen NATO-Mitgliedstaaten wären gezwungen, die entsprechenden Schlussfolgerungen aus einer solchen Demonstration der Ohnmacht des Westens zu ziehen. Für andere Teile der Welt würde das unwiderstehliche Wesen der kommunistischen Bewegung noch unterstrichen werden. Nach den kommunistischen Siegen der letzten fünf Jahre würde dies selbst den Neutralitätsfanatikern eine eindeutige Lektion erteilen. Westliche Garantien, die in ihrer Bedeutung ohnehin bereits abgewertet wurden, würden in der Zukunft kaum noch etwas bedeuten. Die Verwirklichung des kommunistischen Vorschlags, Berlin zu einer »Freien Stadt« zu machen, könnte durchaus die entscheidende Wende im Kampf der Freiheit gegen die Tyrannei herbeiführen. Jede Überlegung zum politischen Kurs muss von der Prämisse ausgehen, dass der Westen sich eine Niederlage in Berlin schlicht nicht erlauben kann.19
Mit Blick auf die Wiedervereinigung warnte Kissinger den US-Präsidenten, dass eine Aufgabe der traditionellen amerikanischen Unterstützung die Westdeutschen demoralisieren würde und sie an ihrem Platz im Westen zweifeln ließe. Gleichzeitig würde dieser Schritt die Sowjets ermuntern, ihren Druck auf Berlin zu erhöhen, weil sie zu dem Schluss gelangen würden, dass Kennedy bereits »Schadensbegrenzung betreibe«. Stattdessen regte Kissinger an, dass Kennedys Antwort auf Chruschtschows Verschärfung der Berlin-Krise »mit Blick auf die deutsche Vereinigung offensiv und nicht defensiv sein sollte. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, auf dem Prinzip freier Wahlen zu bestehen, und auch vor den Vereinten Nationen diesen Standpunkt vertreten.« Er warnte Kennedy, dass er die Moral der Westberliner keineswegs für selbstverständlich halten dürfe, wie die US-Politiker es seit Beginn der Berlin-Krise im November 1959 getan hätten. »Wir sollten ihnen eine deutliche Demonstration unserer Zuversicht zukommen lassen, um ihre Hoffnung und Courage zu stärken«, schrieb er.
Es bereitete Kissinger noch mehr Kopfzerbrechen, dass Kennedy über keinen glaubwürdigen militärischen Einsatzplan für eine Berlin-Krise verfügte. In jedem konventionellen Konflikt würden die Vereinigten Staaten, so argumentierte er, von der sowjetischen Überlegenheit einfach überrollt, und er zweifelte, dass Kennedy jemals einen Atomkrieg um Berlins Freiheit beginnen würde. Seine Denkschrift fasste sämtliche Ideen in einer klareren, strategischeren Form zusammen als alle Dokumente, die bislang dem Weißen Haus vorgelegt worden waren.
Eine von Bundy geschriebene Notiz auf dem Deckblatt von Kissingers Memo lautete: »Er und [die Mitarbeiter des Weißen Hauses Henry] Owen und [Carl] Kaysen und ich sind uns alle einig, dass der derzeitige strategische Kriegsplan gefährlich starr ist und Ihnen, wenn man ohne Ergänzung daran festhält, kaum eine andere Möglichkeit lässt, als sich dem Augenblick der thermonuklearen Wahrheit zu stellen. Im Wesentlichen sieht der derzeitige Plan vor, alles, was wir haben, in einem einzigen Schlag abzufeuern, und er ist so angelegt, dass er jeden flexibleren Kurs erheblich erschwert.«
Kissinger riet Kennedy, dass sein einziger Kurs in den bevorstehenden kritischen Tagen, falls die Sowjets bei ihrer aggressiven Haltung bezüglich Berlin seit dem Wiener Gipfel blieben, darin bestehen müsse, dem risikoscheuen Chruschtschow jede unilaterale sowjetische Aktion als zu riskant erscheinen zu lassen. »Mit anderen Worten, wir müssen bereit sein, uns einem Showdown zu stellen«, sagte er. Kissinger schob die Argumente einiger Regierungsmitarbeiter beiseite, dass Kennedy in Berlin Zugeständnisse machen sollte, um Chruschtschow bei seinen innenpolitischen Auseinandersetzungen mit den gefährlicheren Hardlinern im Vorfeld des XXII. Parteitags im Oktober zu unterstützen. »Chruschtschows innenpolitische Stellung ist sein, nicht unser Problem«, sagte er und fügte hinzu, dass nur ein starker Chruschtschow versöhnlich auftreten könne – aber damit könne Kennedy nicht rechnen.
Am meisten Kopfzerbrechen bereitete Kissinger der augenscheinliche Kurs Kennedys, in der Berlin-Frage nichts zu unternehmen und den nächsten sowjetischen Zug abzuwarten, was laut Kissinger ein sehr riskantes Vorgehen sei. »Was uns als wachsames Abwarten erscheinen mag, könnte [Chruschtschow] als Unsicherheit auslegen«, schrieb Kissinger. Geradezu prophetisch ließ er durchblicken, dass ein solcher Ansatz Moskau dazu verleiten würde, eine Krise im Augenblick der »größten Schwierigkeiten« für die Vereinigten Staaten auszulösen, was eine Situation heraufbeschwören würde, in der die Welt an Kennedys Entschlossenheit zweifeln würde.
In einer Notiz für Schlesinger erklärte Kissinger später: »Ich befinde mich in der Position eines Mannes neben einem Fahrer, der direkt auf einen Abgrund zurast, und werde darum gebeten, dafür zu sorgen, dass der Benzintank voll ist und der Öldruck ausreicht.« Der Umstand, dass er sich am Rand der Entscheidungsfindung befand, frustrierte Kissinger. Er fürchtete schon, dass das Weiße Haus unter Kennedy ihn nur für das Brainstorming brauchte, nicht als Mann, dessen Rat auch Beachtung fand. Im Oktober trat er dann zurück, nachdem er zu dem Schluss gelangt war, dass seine Ideen nicht ernst genommen wurden.20
HYANNIS PORT,
MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 8. JULI 1961
US-Präsident Kennedy war unzufrieden.21
Es war nicht folgenschwer, im Fall von Laos oder sogar Kuba etwas zu vermasseln. Keines der beiden war wirklich bedeutend für die USA oder ihren Platz in der Geschichte. Aber nun ging es um Berlin – die Hauptarena für die entscheidende Auseinandersetzung der Welt! John F. Kennedy rieb das seinen Beratern immer wieder unter die Nase, wenn er seine Bestürzung darüber zum Ausdruck brachte, dass sie immer noch auf das von Chruschtschow in Wien übergebene Aide-Mémoire antworten mussten, während Moskau unterdessen munter weiter vorpreschte – dabei war seit dem Gipfel mehr als ein Monat vergangen.22 Die Meldung aus der Sowjetunion an jenem Morgen war schlecht. Chruschtschow hatte angekündigt, Pläne für einen Abbau der sowjetischen Armee um 1,2 Millionen Mann zu streichen und stattdessen das Verteidigungsbudget um ein Drittel auf 12,4 Milliarden Rubel aufzustocken, eine Erhöhung von umgerechnet rund 3,4 Milliarden Dollar. In einer Rede vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademien erklärte Chruschtschow, dass ein neuer Weltkrieg um Berlin keineswegs unvermeidlich sei, dennoch riet er den Soldaten seines Landes, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.
Die sowjetischen Soldaten jubelten begeistert.
Chruschtschow sagte ihnen, seine Maßnahmen seien eine Reaktion auf Meldungen, dass US-Präsident Kennedy eine Aufstockung des Verteidigungshaushalts um weitere 3,5 Milliarden Dollar beantragen werde. Damit rückte der Sowjetführer von der hartnäckigen Forderung ab, die allgemeinen wirtschaftlichen Investitionen dem Militärhaushalt voranzustellen und die Zahl der Raketen auf Kosten der Truppenzahlen zu erhöhen. »Das sind notgedrungene Maßnahmen, Genossen«, sagte er. »Die Umstände veranlassen uns dazu, da wir die Interessen der Sicherheit des Sowjetvolkes nicht ignorieren dürfen.«23
Kennedy schäumte vor Wut, weil die Zeitschrift Newsweek Details aus der streng geheimen Eventualfallplanung des Pentagons bezüglich Berlin veröffentlicht hatte, auf die sich Chruschtschow bei seiner Antwort offenbar stützte. Kennedy war über dieses Leck so aufgebracht, dass er das FBI anwies, die undichte Stelle umgehend zu finden.24
Chruschtschow hatte auf den Newsweek-Artikel geantwortet, als handle es sich um eine Erklärung der Politik Kennedys. Da ihm klar war, dass London das schwächste Glied der Alliierten in Sachen Berlin war, hatte Chruschtschow den britischen Botschafter Frank Roberts zu einer Ballettaufführung der berühmten britischen Ballerina Margot Fonteyn im Bolschoi-Theater in seine Loge bestellt. Er hielt ihm während einer Pause eine regelrechte Standpauke. Verächtlich bezeichnete Chruschtschow den britischen Widerstand gegen die sowjetischen Ziele in Berlin als vergeblich. Er sagte zu Roberts, dass sechs Wasserstoffbomben »völlig ausreichen« würden, um die britischen Inseln zu zerstören, dass neun Frankreich auslöschen würden und dass der Kreml mit hundertfacher Überlegenheit auf jede neue Division antworten könne, die der Westen auftreiben würde. In dem Bewusstsein, dass er Premierminister Macmillan nach dem Mund redete, sagte der Parteichef: »Aber warum sollten zweihundert Millionen Menschen für zwei Millionen Berliner in den Tod gehen?«25
In Hyannis Port tadelte Kennedy Außenminister Rusk, der im üblichen Geschäftsanzug auf dem Heck der Marlin, Kennedys 15 Meter langer Motorjacht, saß, weil er es versäumt hatte, eine Antwort auf Chruschtschows Berlin-Ultimatum vorzulegen. Während der Präsident vor Wut schäumte, fuhr die First Lady Wasserski im Meer, und Robert McNamara und General Maxwell Taylor leisteten Kennedys Freunden Charles Spalding und seiner Frau Gesellschaft bei Hotdogs und Fischsuppe.
Auf Rusks Einwand, der Text habe sich verzögert, weil man ihn mit den Alliierten abstimmen musste, platzte Kennedy los, dass keiner der Alliierten, sondern der US-Präsident die Hauptverantwortung für Berlin trage. Von Schlesingers Denkschrift inspiriert, wies er Rusk an, ihm innerhalb von zehn Tagen einen Plan für Verhandlungen bezüglich Berlin vorzulegen.26 Anschließend wandte sich der Präsident an Chip Bohlen, einen ehemaligen Botschafter in Moskau: »Chip, was ist denn nur los in eurem verdammten Ministerium? Ich bekomme nie eine schnelle Antwort, ganz gleich, was ich sie frage.«27
Martin Hillenbrand, der Leiter des Deutschland-Ressorts im US-Außenministerium, behauptete später, ein Entwurf für die Antwort auf das sowjetische Aide-Mémoire sei in Wirklichkeit unverzüglich verfasst worden. Zehn Tage später habe das Außenministerium jedoch festgestellt, dass er im Weißen Haus unauffindbar war. Also forderte der Sonderberater des Präsidenten Ralph Dungan einen zweiten Entwurf an. Der Mitarbeiter des Weißen Hauses schloss das Papier in seinen Safe ein, fuhr jedoch anschließend zwei Wochen in Urlaub, ohne die Kombination für den Safe zu hinterlassen. Zur selben Zeit taten sich auch die NATO-Bündnispartner schwer mit einer angemessenen Antwort.28
Während die verschiedenen Regierungsmitarbeiter sich gegenseitig die Schuld zuschoben, verlangte der aufgebrachte Kennedy, dass das Pentagon ihm einen Plan für einen nicht atomaren Widerstand im Fall eines Konflikts um Berlin ausarbeitete. Er sollte so aussagekräftig sein, erklärte Kennedy, dass ein sowjetischer Vormarsch verhindert werde, der Präsident Zeit für ein Gespräch mit Chruschtschow gewinne und ein übereilter Rückgriff auf Kernwaffen vermieden werde. »Ich will dieses verdammte Papier in zehn Tagen«, sagte Kennedy.29
Der US-Präsident forderte seine Berater auf, ihm abgesehen von der derzeitigen Wahl zwischen »Holocaust oder Erniedrigung« neue Optionen zu bieten.
LI NCOLN-SCH LAFZIMMER,
WASHINGTON, D.C.
DIENSTAG, 25. JULl 1961
Am späten Nachmittag zog sich John F. Kennedy in sein Schlafzimmer zurück, um die Rede durchzulesen, die er am selben Abend um 22 Uhr vor einem landesweiten Fernsehpublikum halten wollte. Zum ersten Mal nutzte er zu diesem Zweck das Oval Office, deshalb hatten den ganzen Tag über Techniker Kabel und Drähte verlegt.
Kennedy wusste genau, wie viel inzwischen auf dem Spiel stand. Im eigenen Land musste er den zunehmenden Eindruck einer außenpolitischen Schwäche korrigieren, die ihn politisch angreifbar machte. Nach den Fehlern in Kuba und Wien musste er darüber hinaus Chruschtschow überzeugen, dass er bereit war, Westberlin um jeden Preis zu verteidigen. Sein Problem war: Chruschtschow glaubte inzwischen nicht mehr, dass Kennedy um Berlin kämpfen würde, wie der sowjetische Botschafter Menschikow in Washington jedem bereitwillig erzählte. Gleichzeitig wollte Kennedy jedoch Chruschtschow zu verstehen geben, dass er für eine vernünftige Kompromisslösung offen war.
Ein heißes Bad sollte die ständigen Rückenschmerzen lindern. Anschließend nahm Kennedy, wie so oft, das Abendessen allein von einem Tablett ein. Während des Essens rief er seine Sekretärin Evelyn Lincoln an und sagte: »Würden Sie das bitte notieren. Ich möchte es der Rede hinzufügen, die ich heute Abend halten werde.«30 Dann fing er an zu diktieren:
Ich möchte gern mit einigen persönlichen Worten schließen. Als ich für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten kandidierte, wusste ich, dass dieses Land vor schweren Aufgaben stand, aber ich konnte nicht ermessen – noch konnte irgendjemand sonst erkennen, der nicht die Bürde dieses Amtes trägt –, wie groß und konstant diese Lasten sein würden. Ende der Vierzigerjahre stützten sich die Vereinigten Staaten bei ihrer Sicherheit auf die Tatsache, dass sie allein über die Atombombe und die Mittel, sie einzusetzen, verfügten. Selbst Anfang der Fünfzigerjahre, als die Sowjetunion anfing, eine eigene thermonukleare Kapazität aufzubauen, hatten wir noch einen eindeutigen Vorsprung bei den Trägersystemen, doch in den jüngsten Jahren hat die Sowjetunion einen eigenen Vorrat an Kernwaffen aufgebaut und auch die Fähigkeit entwickelt, mit Flugzeugen und Raketen Bomben gegen unser Land selbst einzusetzen.31
Evelyn Lincoln stenografierte fleißig mit, während Kennedy weiterdiktierte. Dabei flogen ihm die idealen Worte regelrecht zu:
Das heißt, dass es, wenn die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion jemals in eine Auseinandersetzung verwickelt werden, in der diese Raketen eingesetzt werden, die Vernichtung sowohl unseres Volkes als auch unseres Landes bedeuten kann.
Das eigentlich Bedrohliche daran ist die Tatsache, dass die Sowjetunion in aggressivster Weise versucht, ihre Macht zu behaupten, und das bringt sie in jenen Gegenden wie Berlin, wo wir langjährige Verpflichtungen eingegangen sind, in Kollision mit uns. Dreimal zu meinen Lebzeiten waren unser Land und Europa in größere Kriege verwickelt. In allen diesen Fällen waren schwere Fehlkalkulationen auf beiden Seiten hinsichtlich der Absichten der anderen Seite der Anlass zu riesigen Zerstörungen. Heute, im thermonuklearen Zeitalter, würde jede Fehlkalkulation auf einer Seite hinsichtlich der Absichten der anderen Seite in wenigen Stunden mehr Vernichtung über uns bringen als alle Kriege in der Geschichte der Menschheit zusammen.
Da sie sich des Ernstes der Worte des Präsidenten bewusst war, konzentrierte sich Evelyn Lincoln darauf, keinen Fehler zu machen. Sie spürte den historischen Augenblick und hörte den Schmerz in der Stimme des Mannes, der seine Last trug – ein Wort, das er in der Rede mehrmals und Tag für Tag immer häufiger gebrauchte.
So werde ich als Präsident und als Oberbefehlshaber — da wir Amerikaner gegenwärtig eine schwere Zeit durchmachen – diese Verantwortung, die mir unsere Verfassung auferlegt, in den kommenden dreieinhalb Jahren tragen. Aber ich bin sicher, dass wir alle – ohne Rücksicht auf unseren Beruf — unser Bestes für unser Land und unsere Sache tun werden. Denn wir alle wollen, dass unsere Kinder in einem Lande, in dem der Friede herrscht, und in einer Welt, in der die Freiheit fortbesteht, aufwachsen. Ich weiß, dass wir zuweilen ungeduldig werden. Es gelüstet uns nach einer irgendwie sofortigen Aktion, die den uns drohenden Gefahren ein Ende bereitet. Aber ich muss Ihnen sagen, dass es keine schnelle und leichte Lösung gibt. Die Kommunisten haben die Kontrolle über eine Milliarde Menschen, und sie wissen, dass — falls wir fallen sollten – der Erfolg ihnen unmittelbar zufallen muss. Wir müssen uns auf lange Frist vorbereiten, auf Tage, die — wenn wir mutig und standhaft sind – uns das bringen können, was wir uns alle erwünschen. Für diese Tage und Wochen bitte ich um Ihre Hilfe und Ihren Rat. Ich bitte um Ihre Vorschläge, wenn Sie der Ansicht sind, dass wir etwas besser machen könnten. Wir alle, das weiß ich, lieben unser Land und werden unser Bestes tun, um ihm zu dienen. Um meine Aufgaben und Verantwortungen als Präsident in diesen kommenden Monaten erfüllen zu können, brauche ich Ihren guten Willen und Ihre Unterstützung und vor allem aber Ihr Gebet.
Evelyn Lincoln konnte sich nicht erinnern, dass der Präsident jemals nur wenige Stunden vor dem Termin einer Rede noch so viel neuen Text hinzugefügt hätte.
Kennedy sagte zu seiner Sekretärin: »Würden Sie das bitte für mich tippen und mir geben, wenn ich rüberkomme?«32
Der Präsident ging um 21:30 Uhr ins Oval Office, um die Höhe des Stuhls hinter seinem Schreibtisch und die Beleuchtung zu testen. Er fragte Evelyn Lincoln, ob er sich sein Diktat noch einmal durchsehen könne, und nahm es anschließend in den Kabinettssaal mit. Er setzte sich hin, redigierte und kürzte hier und da von Hand, straffte den Text, nahm aber nicht die eigene Beklemmung heraus. Als es an der Zeit war, vor die Kamera zu treten, kam er in Lincolns Büro und bat sie um eine Bürste. Er benutzte ihren Waschraum, um sich zu vergewissern, dass seine Frisur akkurat saß.
Trotz dieser Vorkehrung wurde die Rede von einem schwitzenden und angespannten Präsidenten in einem überheizten Büroraum gehalten. Um die Tonqualität zu verbessern, hatten die Techniker die Klimaanlage ausgeschaltet, obwohl an diesem Tag eine Rekordtemperatur von über 34 Grad Celsius herrschte. Der Aufenthalt im Büro wurde durch die Lichter von sieben Fernsehkameras und die Körperwärme von rund sechzig Personen, die sich darin drängten, um den historischen Augenblick mitzuerleben, noch unangenehmer.
Kennedy ging für einen Moment nach draußen, um sich das Gesicht und die Lippen abzuwischen, und kehrte nur wenige Sekunden vor Beginn seiner Ansprache an ein nationales und globales Publikum zurück. Unter Scheinwerfern, die das Lesen der eben erst geänderten Textstellen erschwerten, übersprang er hier und da einige Zeilen und trug andere nicht so flüssig wie sonst vor. Aber das fiel den wenigsten Zuhörern auf. Seine aufwühlenden, entschlossenen Worte überdeckten die ganze Reihe von Kompromissen der letzten Tage, die den Acheson-Plan erheblich abgeschwächt hatten.
Der Präsident hatte Abstand davon genommen, den nationalen Notstand auszurufen, wie Acheson gefordert hatte, und sich gegen eine sofortige Mobilmachung der Truppen entschieden. Er hatte auch die Aufstockung der Verteidigungsausgaben reduziert. In den siebzehn Tagen zwischen dem Treffen in Hyannis Port und dem Tag der Rede hatten die »Weicheier« den Ansatz Achesons verwässert, während sich der gesamte Apparat der US-Außenpolitik fast ausschließlich mit Berlin befasst hatte, einschließlich zweier wichtiger Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats am 13. und 19. Juli.
Am 13. Juli hatte Außenminister Rusk im Kabinettssaal Achesons eigene Worte benutzt, um dessen Ansatz abzuschwächen. Er zitierte einen Teil aus dem Papier seines Freundes, in dem dieser dafür plädierte, die ersten Schritte so zurückhaltend wie möglich zu wählen. »Wir sollten nach Möglichkeit Aktionen vermeiden, die für vernünftige militärische Zwecke nicht erforderlich sind und nur als provozierend angesehen werden«, sagte er.
Mit der Rückendeckung von Vizepräsident Johnson hatte Acheson gekontert: Er sei der Meinung, dass die Vereinigten Staaten, falls sie, wie sein Freund Rusk vorschlug, die Einberufung der Reserven bis zuletzt aufschöben, »Chruschtschows Beurteilung der Krise nicht stärker beeinflussen würden, als wenn wir Bomben abwerfen, nachdem er die Angelegenheit bereits bis an die äußerste Grenze getrieben hat«.33
Bundy hatte den Anwesenden im Raum vier Alternativen präsentiert: 1. Mit größtmöglicher Geschwindigkeit eine substanzielle Verstärkung der US-Truppen vorantreiben; 2. sämtliche Maßnahmen fortführen, für die nicht die Erklärung des Notstands erforderlich sei; 3. den nationalen Notstand ausrufen und sämtliche Vorbereitungen fortführen, bis auf die Einberufung der Reservisten und Nationalgarde; 4. vorläufig jede größere, militärische Aufrüstung vermeiden, mit der Begründung, hier handle es sich eher um eine Krise der politischen Einheit und Willensstärke als der militärischen Notwendigkeit. 34
Der US-Präsident hörte zu, während seine höchsten Berater die verschiedenen Optionen diskutierten. Aber er sollte erst unmittelbar vor der Fernsehansprache selbst Hand anlegen. In einer Sitzung der kleineren »Lenkungsgruppe« des Nationalen Sicherheitsrats hatte er gesagt, dass ihn nur zwei Dinge interessierten: »Unsere Präsenz in Berlin, und unser Zugang zu Berlin.«35
Acheson war über den, wie er meinte, Kurswechsel in der Politik im Juli so frustriert, dass er vor einer kleinen Arbeitsgruppe zum Thema Berlin erklärte: »Meine Herren, Sie werden sich damit abfinden müssen. Dieses Land ist ohne Führung.«36
Auf der zweiten, entscheidenden Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am 19. Juli um 16 Uhr wurde der Acheson-Plan nach einem Wortwechsel zwischen Acheson und Verteidigungsminister McNamara stillschweigend begraben. Acheson verlangte, die Gruppe solle definitiv beschließen, den nationalen Notstand auszurufen und mit der Einberufung der Reservisten spätestens im September zu beginnen. NcNamara zog es vor, sich vorerst nicht festzulegen, machte aber deutlich, dass Kennedy später den Notstand ausrufen und größere Bodenreserven einziehen könne, »sofern die Lage es erfordere«.
Acheson blieb bei seiner Meinung und argumentierte, McNamaras Kurs sei weder energisch noch konkret genug.
Kennedy hatte die Diskussion offengehalten, bis Acheson allmählich klarwurde, dass der Oberbefehlshaber nicht den Mut hatte, die totale Mobilmachung einzuleiten. Am Ende stimmte Acheson McNamaras Vorschlag zu. Der Verteidigungsminister bekam folglich den gewünschten flexibleren Fahrplan, damit er »nicht eine große Reservetruppe ohne Auftrag zur Verfügung hatte«. Für den Fall, dass sich die Krise verschärfen sollte, war jedoch eine rasche Verlegung vorgesehen.37
Botschafter Thompson nahm nicht an der Sitzung teil, trug aber mit Telegrammen aus Moskau zur Entscheidung bei. Er argumentierte, dass Kennedy die Sowjets stärker beeindrucken würde, wenn er die Alliierten gemeinsam zu beträchtlichen militärischen Schritten bewegen könne, als wenn er sie durch allzu weitgehende Maßnahmen spaltete. Nach Thompsons Logik würde eine langfristige Stärkung der Bereitschaft eine größere Wirkung erzielen als dramatische und Publicity heischende Gesten. Kennedys Geheimdienstberater befanden ebenfalls, dass ein allzu starker öffentlicher Auftritt Chruschtschow lediglich zu einem noch härteren Kurs verleiten würde. Zudem würde sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass er seinerseits militärische Gegenmaßnahmen ergriff.38
Am Ende rief der Präsident in seiner Rede vom 25. Juli nicht den nationalen Notstand aus, sondern erklärte, dass er im Kongress die Genehmigung beantragen werde, im Fall einer Berlin-Blockade sofort die Zahl der Einberufungen zu verdreifachen, die Reserven einzuziehen und wirtschaftliche Sanktionen gegen Länder des Warschauer Pakts zu verhängen. Kennedy hatte schon in einer Sitzung des Sicherheitsrats gesagt, die Ausrufung des nationalen Notstands sei »eine Alarmglocke, die man nur einmal läuten kann«, und der von Acheson befürwortete Kurs werde die Sowjets nicht von der Entschlossenheit der USA, sondern von ihrer »Panik« überzeugen.39
Acheson hatte für die Ausrufung des Notstands plädiert, weil dieser Schritt sowohl den Sowjets als auch amerikanischen Widersachern den Ernst der Lage vor Augen geführt hätte. Zugleich hätte es dem Präsidenten ermöglicht, eine Million Reservisten einzuziehen und den Militärdienst zu verlängern.
Kennedy wollte jedoch auf keinen Fall überreagieren, nicht zuletzt weil er das Vertrauen der Alliierten zu seiner Führung wiederaufbauen wollte, nachdem er die Operation in der Schweinebucht so verpfuscht hatte. Er ging außerdem davon aus, dass ihm eine lange Reihe von Auseinandersetzungen mit den Sowjets bevorstand, und hatte deshalb Bedenken wegen einer voreiligen Eskalation, um sich einer Angelegenheit zu widmen, die sich möglicherweise als »eine falsche Klimax« in der Konfrontation erweisen könnte. Er wollte nicht sein ganzes Pulver verschießen.
Also forderte Kennedy 3,454 Milliarden Dollar zusätzliche Ausgaben für die Streitkräfte, fast exakt die Summe, die Chruschtschow angekündigt hatte, allerdings weniger als die 4,3 Milliarden, die Acheson ursprünglich angestrebt hatte. Die Erhöhung hatte dennoch eine Steigerung der Rüstungsausgaben unter Kennedy um insgesamt 6 Milliarden Dollar zur Folge. Er wollte die genehmigte Stärke der US Army von 875 000 auf eine Million Mann aufstocken. Die Vereinigten Staaten würden die Möglichkeit einer Luftbrücke für Berlin vorbereiten sowie Vorkehrungen treffen, um bis zum Ablauf der Frist Chruschtschows für die Unterzeichnung eines Friedensvertrags im Dezember sechs weitere Divisionen nach Europa zu verlegen.
Wohl am erstaunlichsten, jedoch von den Medien völlig unbeachtet, war der Umstand, dass Kennedy in der Rede siebzehnmal von Westberlin sprach. Er blieb also bei der üblichen Verwendung des Zusatzes »West«. Kennedy wiederholte im Grunde seine Wiener Botschaft an Chruschtschow, dass die Sowjets mit dem Ostteil der Stadt tun und lassen konnten, was sie wollten, solange sie nicht Hand an den westlichen Teil legten.
Nur einen Tag vorher hatte sich beim Mittagessen ein führender Vertreter der US Information Agency, James O’Donnell, bei Kennedys Redenschreiber Ted Sorensen beschwert, weil in einer Endfassung der Rede Westberlin so sehr hervorgehoben wurde. O’Donnells Meinung zählte durchaus, weil er ein Freund der Familie Kennedy und ein alter Soldat in Berlin war, der bei Kriegsende als erster Nichtsowjet den Führerbunker inspiziert hatte. Er hatte ein Buch über Hitlers letzte Tage geschrieben und anschließend die Berlin-Blockade selbst als Korrespondent von Newsweek erlebt. Er genoss ein so hohes Ansehen, dass er im Vorjahr für den Präsidentschaftskandidaten Kennedy ein Memo über das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin geschrieben hatte.
Sorensen hatte O’Donnell stolz den Entwurf der Rede vom 25. Juli gezeigt und argumentiert, dass sie selbst »Hardlinern« wie ihm gefallen dürfte. Aber je genauer O’Donnell die Rede prüfte, umso bestürzter war er über die unilateralen Zugeständnisse, die sie enthielt. Es war die Rede von der Bereitschaft Kennedys, »Störfaktoren« in Westberlin zu beseitigen, während gleichzeitig erklärt wurde, dass »die Freiheit der Stadt nicht zur Verhandlung« stehe. Laut Ulbricht zählten zu jenen »Störfaktoren« die quicklebendigen und freien Medien Westberlins, der amerikanische Rundfunksender RIAS, die Freizügigkeit der westlichen Militär- und Geheimdienstbehörden sowie, am wichtigsten, die Möglichkeit der Ostdeutschen, die offene Grenze zu überqueren und Zuflucht zu suchen.
Ein anderer Absatz erkannte »das historische Interesse der Sowjetunion an ihrer Sicherheit in Mittel- und Osteuropa nach einer Reihe verheerender Invasionen [an], und wir glauben, dass sich Vereinbarungen erzielen lassen, die helfen können, diese Interessen zu berücksichtigen, und Sicherheit und Freiheit in diesem Gebiet möglich machen werden«.
Was mochte Kennedy damit wohl meinen, fragte sich O’Donnell, der nicht wusste, dass der Absatz sich auf eine Formulierung stützte, die Kennedy im privaten Gespräch in Wien benutzt hatte. Kaufte er Moskau womöglich die Klagen über den wiedererwachenden deutschen Militarismus ab? Trat er Länder wie Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn vielleicht für immer an die Sowjets ab?
Aber nichts beunruhigte O’Donnell mehr als die wiederholten Verweise auf die Sicherheit ausschließlich Westberlins. Das konnte nur eine bewusste Botschaft sein, die den Sowjets, in O’Donnells Augen, in Ostberlin freie Hand gab, obwohl die Stadt genau genommen noch unter dem Vier-Mächte-Status stand.40
Kennedy sagte den Amerikanern in seiner Rede: »Die unmittelbare Bedrohung für die freien Menschen befindet sich in Westberlin.« Er verwendete für die Amerikaner als visuelle Lehrhilfe eine Karte, die Westberlin als eine weiße Insel in einem Meer aus kommunistischem Schwarz zeigte. Mit Kennedys Worten:
Denn Westberlin – in seiner exponierten Lage 110 Meilen inmitten Ostdeutschlands, umgeben von sowjetischen Truppen und dicht an den sowjetischen Versorgungslinien — spielt eine vielgestaltige Rolle. Es ist mehr als ein Schaufenster der Freiheit, ein Symbol, eine Insel der Freiheit inmitten der kommunistischen Flut. Es ist noch weit mehr als ein Bindeglied zur freien Welt, ein Leuchtfeuer der Hoffnung hinter dem Eisernen Vorhang und ein Schlupfloch für die Flüchtlinge.
Westberlin ist all das. Aber darüber hinaus ist es jetzt – mehr denn je zuvor – zu dem großen Prüfstein für den Mut und die Willensstärke des Westens geworden, zu einem Brennpunkt, in dem unsere feierlichen, durch all die Jahre bis 1945 zurückreichenden Verpflichtungen jetzt mit den sowjetischen Ambitionen in grundsätzlicher Gegenüberstellung zusammentreffen.
Die Vereinigten Staaten sind dort und Großbritannien und Frankreich ebenfalls, da ist ferner die Bürgschaft der NATO — und die Bevölkerung Berlins selbst. Es ist in diesem Sinne genauso sicher wie wir alle – denn wir können seine Sicherheit nicht von unserer eigenen trennen […], und wir haben unser Wort gegeben, dass wir jeden Angriff auf diese Stadt als einen gegen uns alle gerichteten Angriff betrachten werden.41
Kennedy kam am Ende der einunddreißigminütigen Ansprache noch einmal auf Westberlin zurück:
Das feierliche Gelöbnis, das jeder von uns Westberlin in Zeiten des Friedens gegeben hat, wird nicht in Zeiten der Gefahr gebrochen werden. Wenn wir unsere Verpflichtungen gegenüber Berlin nicht erfüllen, wo werden wir dann später stehen? Wenn wir hier unserem Wort nicht treu sind, dann wird alles, was wir hinsichtlich der kollektiven Sicherheit, die auf diesen Worten beruht, erreicht haben, nichts bedeuten – und wenn es einen Weg gibt, der vor allen anderen zum Krieg hinführt, dann ist es der Weg der Schwäche und Uneinigkeit.
Sorensen war ganz aufgebracht, dass O’Donnell die Bedeutung der emotionsgeladenen Verpflichtung, Berlin zu verteidigen, unterschätzte. Mit Blick auf die Missachtung des »gefangenen« Ostberlin und allgemein der Osteuropäer argumentierte Sorensen, dass die Rede lediglich die Realität anerkenne. Die Russen schalteten und walteten in ihrem Sektor ohnehin nach Belieben. Die Amerikaner würden schon einen militärischen Aufmarsch, um zwei Millionen Westberliner zu verteidigen, nur widerwillig hinnehmen, es wäre jedoch zu viel verlangt, von den Amerikanern zu erwarten, dass sie ihr Leben für die eine Million Ostberliner riskierten, die auf der falschen Seite der Geschichte gefangen wären.
O’Donnell schlug eine ganz einfache Lösung vor: Der Präsident brauchte doch nur das Wort »West« an den meisten Stellen zu streichen, wo es vor dem Wort »Berlin« auftauchte. Nach einer Stunde Diskussion protestierte Sorensen: »Hören Sie zu, ich kann mit dem Text dieser Rede […] nicht weiter Schindluder treiben. Sie hat die Mühlen von sechs Regierungsinstanzen durchlaufen. Seit zehn Tagen gehen Kopien hin und her. Das ist die Endfassung. Das ist die politische Linie. Das ist sie.«
Mit diesem Wort endete das Mittagessen.42
Sorensen hatte ähnliche Proteste von anderer Seite innerhalb der Regierung ebenfalls zurückgewiesen. In den Augen der sogenannten Berlin-Mafia, der Gruppe hoher Regierungsmitarbeiter, die seit Jahren mit Argusaugen jedes Komma und Semikolon des Patts in Berlin verfolgten, beging der Präsident eine Ketzerei, insbesondere indem er den Sowjets zu verstehen gab, dass sie die Vier-Mächte-Abkommen getrost ignorieren und in ihrem Teil der Stadt nach Belieben schalten und walten konnten.
»Es herrschte eine ›O-mein-Gott‹-Stimmung, als man die Worte zu Gesicht bekam«, sagte der in Österreich geborene Karl Mautner, der in der Nachrichten- und Ermittlungsabteilung des Außenministeriums arbeitete, nachdem man ihn nach Berlin an die amerikanische Botschaft versetzt hatte. Mautner, der im Zweiten Weltkrieg mit der 82. Luftlandedivision in der Normandie und in der Ardennenschlacht gekämpft hatte, war empört über Kennedys Kurswechsel. »Wir wussten sofort, was das hieß. […] Wir untergruben unsere eigene Position.«43
Fünf Tage nach der Rede mussten die Sowjets noch stärker den Eindruck bekommen, dass man ganz bewusst die Betonung auf den Westteil Berlins gelegt hatte. Senator William Fulbright erklärte nämlich am 30. Juli in der sonntäglichen ABC-Talkshow »Issues and Answers« (Fragen und Antworten), dass die Sowjets ohne weiteres die Spannungen in der Berlin-Krise abbauen könnten, indem sie das Schlupfloch Westberlin den Flüchtlingen verschlossen. »Die Wahrheit ist, denke ich, dass die Russen alle Macht haben, es auf jeden Fall zu schließen«, sagte Fulbright. »Nächste Woche, wenn sie beschließen würden, die Grenze zu schließen, könnten sie das tun, ohne einen Vertrag zu verletzen. Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenze nicht schon längst geschlossen haben, denn ich meine, sie haben jedes Recht dazu.«44
Fulbrights Interpretation der bestehenden Verträge war falsch, und er korrigierte sich am 4. August in einer Stellungnahme vor dem Senat, in der er erklärte, dass die Bewegungsfreiheit in ganz Berlin von den Nachkriegsverträgen garantiert werde und dass sein Fernsehinterview »einen unglücklichen und falschen Eindruck« erweckt habe. Davon abgesehen bestritt Kennedy Fulbrights Äußerung niemals, und McGeorge Bundy berichtete dem Präsidenten über den Fernsehauftritt, indem er ihm »eine Auswahl von Kommentaren aus Bonn und Berlin [weiterleitete], darunter auch einen Verweis auf die hilfreiche Wirkung der Äußerungen Senator Fulbrights«.
In Wirklichkeit waren die Westdeutschen tief verzweifelt über die Äußerungen, während die Ostdeutschen von Fulbrights Vorschlag hellauf begeistert waren. Der Westberliner Tagesspiegel beklagte sich, dass die Bemerkung des Senators potenziell ebenso feindliche Aktionen provozieren könnte wie Achesons Worte seinerzeit unmittelbar vor dem Korea-Krieg, als er erklärt hatte, dass sich Südkorea außerhalb des amerikanischen Verteidigungskreises befinde. Das kommunistische Parteiorgan Neues Deutschland nannte Fulbrights Idee eine »realistische Auffassung«.45
Anfang August stellte Kennedy bei einem Spaziergang durch den Säulengang beim Rosengarten mit Walt Rostow, dem Wirtschaftsexperten im Stab Bundys, Mutmaßungen an, was wohl als Nächstes in Berlin passieren werde. »Ostdeutschland gleitet Chruschtschow allmählich aus der Hand«, sagte er, »und das kann er nicht zulassen. Wenn Ostdeutschland erst einmal weg ist, passiert das Gleiche mit Polen und ganz Osteuropa. Er muss etwas unternehmen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Vielleicht baut er eine Mauer. Und wir werden nichts dagegen unternehmen können. Ich kann das Bündnis auf die Verteidigung Westberlins einschwören, aber ich kann nichts tun, um Ostberlin offen zu halten.«46
MOS KAU
DONNERSTAG, 3. AUGUST 1961
An einem drückend heißen Morgen in Moskau fuhr Ulbricht in einer Limousine mit geschlossenen und verhängten Fenstern zu seinem Treffen mit Chruschtschow. Ulbricht hatte seine Abreise aus Berlin zu einer Dringlichkeitssitzung des Warschauer Pakts am selben Tag nicht angekündigt, und wenn möglich wollte er in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden.47
Moskau schien geradezu heiter verglichen mit dem, was Ulbricht im eigenen Land erlebte. Touristengruppen liefen hinter Führern über den Roten Platz. Die ersten Sightseeingboote fuhren die Moskwa aufwärts, vorbei an Männern in Kajaks, die ihre Morgengymnastik machten. Riesige Schwimmbäder öffneten in Parkanlagen ihre Tore. Da gerade Schulferien waren, wimmelte die Stadt nur so von Eltern mit Kindern.
Chruschtschow und Ulbricht trafen sich, um die letzten Details für die Grenzschließung auszuarbeiten, ehe sie die Mitglieder des Warschauer Pakts um ihre Zustimmung zu dem Plan baten. Ulbricht wollte ferner, dass seine Verbündeten wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen in Betracht zogen, falls der Westen mit Sanktionen antworten sollte.
Die beiden Männer hatten im vergangenen Monat ständig die Vorbereitungen ihrer Sicherheitsdienste und Streitkräfte überwacht, sodass es nicht nötig war, jedes Detail erneut zu besprechen. Chruschtschow erklärte, dass sie gemeinsam »einen eisernen Ring um Berlin legen würden. […] Unsere Kräfte müssen diesen Ring bilden, aber Ihre Truppen müssen ihn überwachen.« Die Sowjets schickten zusätzlich viertausend Soldaten nach Berlin, während die beiden Männer miteinander sprachen. Chruschtschow sagte Ulbricht, dass er auch Panzer an der Grenze zur Bundesrepublik auffahren werde, hinter den Stellungen der ostdeutschen Soldaten.48
Der Zweck ihres jetzigen Treffen war es, den Zeitplan endgültig festzulegen. Chruschtschow erklärte, er wolle einen Friedensvertrag mit Ulbricht erst nach der Grenzschließung unterzeichnen. Außerdem wollte er nicht zulassen, dass Ulbricht Schritte gegen die Zufahrtswege oder Flugrouten nach Westberlin unternahm. Ulbricht pflichtete ihm bei, dass der Friedensvertrag inzwischen zweitrangig sei, auch wenn er immer noch mit Moskau einen Vertrag schließen wolle, der den Kriegszustand beende. Vorrang hätten vielmehr ein Stopp des Flüchtlingsstroms und die Rettung seines Landes. Ulbricht sagte dem Sowjetführer, in nur zwei Wochen sei er bereit, jeden Verkehr zwischen Ost- und Westberlin zu unterbinden.
»Wann wäre der beste Zeitpunkt für die Aktion?«, wollte Chruschtschow wissen. »Machen Sie es, wann es Ihnen passt. Wir können jederzeit zur Tat schreiten.«49
Da ihm das Flüchtlingsproblem unter den Nägeln brannte und die Gefahr bestand, dass die Pläne durchsickerten, wollte Ulbricht möglichst rasch handeln. Er schlug die Nacht zwischen Samstag, dem 12. August, und Sonntag, dem 13. August, vor.
Nach der Bemerkung, dass der Dreizehnte im Westen gemeinhin als ein Unglückstag gelte, meinte Chruschtschow im Scherz, dass er »für uns und das ganze sozialistische Lager tatsächlich ein sehr glücklicher Tag sein wird«.50
Chruschtschow, der in den Dreißigerjahren unter anderem auch für den Ausbau der Moskauer Metro verantwortlich gewesen war, wollte mehr über die logistischen Details hören: Was Ulbricht denn mit den Straßen vorhabe, die er auf der detaillierten Karte gesehen habe und in denen eine Seite in Ostberlin und die andere im Westteil liege?
»In den Häusern, die Ausgänge nach Westen haben, werden die [Ausgänge] vermauert«, sagte Ulbricht. »An anderen Stellen werden Stacheldrahthindernisse errichtet. Der Stacheldraht ist bereits angeliefert. Das kann alles sehr schnell geschehen.«51
Der sowjetische Parteichef lehnte Ulbrichts Bitte ab, eine dringliche Wirtschaftskonferenz einzuberufen, um die notwendige Unterstützung für die ostdeutsche Wirtschaft vorzubereiten. Chruschtschow fürchtete, dass schon die Ansetzung eines solchen Treffens dem Westen einen Hinweis auf ihre Pläne geben und der Flüchtlingsstrom infolgedessen noch stärker anschwellen könnte. Ulbricht blieb nichts anderes übrig, als sich selbst nach Kräften vorzubereiten.
Außerdem stellte der Kremlchef klar, dass sämtliche Operationen auf ostdeutschem Territorium ausgeführt werden mussten, »aber keinen Millimeter« auf dem Gebiet Westberlins. Jedes Signal Kennedys an Chruschtschow, angefangen beim Wiener Gipfel über die Rede vom 25. Juli bis hin zu Fulbrights Fernsehinterview, hatte durchblicken lassen, dass er auf der sicheren Seite war, solange alle sowjetischen und ostdeutschen Aktionen auf das Territorium des sowjetischen Blocks beschränkt blieben und in keiner Weise die Zugangsrechte der Alliierten nach Berlin beeinträchtigten. Tatsächlich hatte das letzte Gespräch mit Botschafter Thompson ihn überzeugt, dass Kennedy und Adenauer das Ergebnis womöglich sogar begrüßen würden. Zwei Tage zuvor hatte er zu Ulbricht bei einem Treffen gesagt:
Sobald die Grenze geschlossen ist, werden die Amerikaner und die Westdeutschen regelrecht froh sein. Thompson sagte mir, dass diese Flucht den Westdeutschen erhebliche Schwierigkeiten bereite. Wenn wir also diese Kontrollen einführen, dann werden alle zufrieden sein. Und abgesehen davon werden sie Ihre Macht spüren.52
Ohne ausdrücklich von einer Mauer in Berlin zu sprechen, forderte Chruschtschow die Gruppe des Warschauer Pakts auf, einer völligen Schließung der Grenze zuzustimmen, einschließlich der zwischen dem ost- und westdeutschen Territorium existierenden. »Wir schlagen vor, dass die Staaten des Warschauer Pakts im Interesse der Unterbindung der subversiven Tätigkeit zustimmen, Kontrollen entlang der DDR-Grenzen einzuführen, einschließlich der Grenzen in Berlin, vergleichbar mit den bestehenden entlang der Staatsgrenzen der Westmächte.«
Auf der anschließenden dreitägigen Sitzung des Warschauer Pakts bekam Ulbricht einen großen Teil von dem, was er wollte, aber nicht alles. Seine sozialistischen Nachbarn akzeptierten die Grenzschließung einhellig und stimmten einer Verlegung ihrer Truppen zu, um das sowjetische Militär zu unterstützen. Was Ulbrichts Verbündete allerdings nicht zusagen wollten, war – zu Chruschtschows großer Bestürzung – eine wirtschaftliche Absicherung. Ein kommunistischer Parteichef nach dem anderen, von Władysław Gomułka aus Polen, Antonín Novotný aus der Tschechoslowakei bis hin zu János Kádár aus Ungarn, äußerte Bedenken, dass der Westen möglicherweise gegen den ganzen Block wirtschaftliche Sanktionen verhängen könnte. Und alle verwiesen auf die eigenen begrenzten Ressourcen. Gomułka wollte sogar, dass Ulbricht überlegte, wie er ihm helfen könne, falls es zu einem westlichen Boykott des gesamten Blocks kommen sollte, indem Waren umgeleitet wurden, die normalerweise in den Westen verkauft wurden. Er machte sich Sorgen, wie anfällig Polen für jeden Rückschlag wegen Berlin war, weil das Land so hoch verschuldet war und ein so großes Handelsvolumen mit dem Westen hatte.
Novotný warnte Ulbricht, dass er bei Lebensmitteln nicht auf ihn zählen könne, weil sein Land große Probleme mit der landwirtschaftlichen Produktion habe. Da die Tschechoslowakei einen größeren Anteil ihres Handels als jedes andere Land des Warschauer Pakts mit dem Westen abwickelte, fürchtete er, dass sein Land im Nachspiel einer Aktion in Berlin am ärgsten leiden würde. Kádár beschwerte sich darüber, dass die potenziellen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Schließung der ostdeutschen Grenze nicht früher mit den sowjetischen Verbündeten diskutiert worden seien, insbesondere weil sein Land zu fast einem Drittel seiner Volkswirtschaft vom Handel mit dem Westen abhängig sei – und ein Viertel dieses Volumens betreffe die Bundesrepublik.
Chruschtschow schäumte vor Wut:
Ich bin der Meinung, wir müssen der DDR helfen. Lasst uns, Genossen, dies besser, tiefer und sorgfältiger untersuchen. […] Jetzt werden wir, Genossen, alle der DDR helfen. Ich werde nicht sagen, wer von euch am meisten helfen wird. Alle müssen mithelfen und müssen noch mehr helfen. Sehen wir es doch einmal so: Wenn wir jetzt nicht unsere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der DDR lenken und keine Opfer bringen, dann können sie sich nicht halten; sie haben nicht die nötige innere Stärke.
»Was würde es heißen, wenn die DDR aufgelöst würde?«, wollte Chruschtschow von den Parteisekretären wissen, die ihm gegenübersaßen. Ob es ihnen lieber sei, wenn das westdeutsche Heer vor ihrer Haustür stehe? Durch die Stärkung der Position Ostdeutschlands »festigen wir unsere Position«, sagte er, frustriert über die mangelnde Solidarität, die in seinem Block herrschte. In einem Bündnis, in dem sich die meisten Mitglieder vom Westen kaum bedroht fühlten, aber wirtschaftlich zunehmend von ihm abhängig waren, hatten Chruschtschows Argumente keine große Überzeugungskraft.
Als die anderen kommunistischen Parteichefs Chruschtschow fragten, warum er sich keine großen Sorgen wegen einer militärischen Antwort der USA mache, sagte der Sowjetführer ihnen, der Westen habe bislang längst nicht so resolut auf seinen wachsenden Druck und seine Drohgebärden reagiert, wie er befürchtet habe. Die Vereinigten Staaten hätten sich, so Chruschtschow, mit Blick auf Berlin »als nachgiebiger erwiesen als angenommen«. Er räumte ein, dass der Gegner »gewiss noch sein wahres Gesicht zeigen könne, aber wir können bereits jetzt sagen, dass wir mehr Druck erwarteten, doch der bislang stärkste Einschüchterungsversuch ist Kennedys Rede gewesen«.
Chruschtschow sagte seinen Verbündeten, dass die Vereinigten Staaten in seinen Augen »kaum regiert« würden und dass der US-Senat ihn an das mittelalterliche russische Fürstentum Nowgorod erinnere, wo die Bojaren »schrien, brüllten und sich gegenseitig an den Bärten zogen; auf diese Weise entschieden sie, wer recht hatte«.
Er sprach geradezu nostalgisch von der Zeit, als John Foster Dulles noch US-Außenminister war, der zwar ein Antikommunist gewesen sei, aber »mehr Stabilität« in der sowjetisch-amerikanischen Beziehung garantiert habe. In Bezug auf Kennedy sagte Chruschtschow, er habe »Mitleid mit ihm. […] Er ist ein viel zu großes Leichtgewicht sowohl für die Republikaner als auch für die Demokraten. « Chruschtschow war zuversichtlich, dass sein schwacher und unentschlossener Widersacher nicht auf nennenswerte Weise reagieren werde.53
Ulbricht reiste zurück, als der Countdown bis zum wichtigsten Tag seines Lebens – und seines Landes – begann. Aber zuerst stand ihm noch ein letztes Scharmützel mit dem ostdeutschen Proletariat bevor.
Ulbricht und Kurt Wismach geraten aneinander
KABELWERK OBERSPREE,
OSTBERLIN
DONNERSTAG, 10. AUGUST 1961
Obwohl die Operation in weniger als achtundvierzig Stunden beginnen sollte, hielt Walter Ulbricht einen Routinetermin ein: eine Begegnung mit Arbeitern des Kabelwerks Oberspree im südlichen Teil Ostberlins. Rund tausendfünfhundert Personen versammelten sich in einer riesigen Halle, alle in Overalls und Holzschuhen, die sie vor Stromschlägen und geschmolzenem Metall schützten. Manche kletterten an den Streben der Kräne hoch, um einen besseren Blick zu haben; andere saßen auf vier Meter hohen Kabeltrommeln.
Der SED-Chef berichtete, dass er erst kürzlich aus Moskau zurückgekehrt sei, und sagte der Menge, es sei zwingend notwendig, unverzüglich einen Friedensvertrag zwischen der DDR und dem ruhmreichen Genossen und Verbündeten, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, zu unterzeichnen. Mit kämpferischer Stimme erklärte er sinngemäß: Niemand kann den Sozialismus aufhalten. Nicht einmal jene, die den Sklavenhändlern in die Hände gefallen sind. Er sagte, der Flüchtlingsstrom, den er »Menschenhandel und Menschenraub« nannte, koste die ostdeutsche Wirtschaft jährlich zweieinhalb Milliarden Mark. »Jeder Bürger unseres Staates wird mir zustimmen, dass wir solchen Zuständen ein Ende setzen müssen.«
Kurt Wismach, der anfangs auf Ulbricht den Eindruck eines einfachen Arbeiters machte, kochte innerlich, während er sich das übliche heuchlerische Gerede der Kommunisten anhörte. Von einem tückischen Gefühl der Stärke durchströmt, weil er hoch über Ulbricht auf einer Kabeltrommel saß, fing er an, nach jeder Äußerung Ulbrichts spöttisch und demonstrativ lange Beifall zu klatschen. Es hatte beinahe den Anschein, als könne nichts Wismach daran hindern, zu klatschen und in die Stille der Halle hineinzurufen.
»Und wenn ich auch der Einzige bin: frei wählen!«, schrie er.
Ulbricht sah zu dem Arbeiter auf und schoss zurück: »Moment mal, Genosse, das wollen wir gleich mal klären!«
Wismach ließ sich von dem Parteichef, den Millionen Menschen so sehr fürchteten, nicht einschüchtern: »Frei wählen, dann werden wir ja sehen, was dabei herauskommt.«
Da brüllte Ulbricht ihn an und wandte sich anschließend an die ganze Versammlung . »Frei wählen! Was wollen Sie denn frei wählen? Das bestimmt die Arbeiterklasse und das Volk!«
Aber inzwischen sprach Wismach mit dem Mut eines Mannes, der bereits zu weit gegangen war, um klein beizugeben. »Weißt du denn, was das Volk denkt?«, schrie er. Er merkte sofort, dass die meisten Kollegen vor Schreck erstarrten. Niemand stand ihm bei.
Ulbricht fuchtelte mit den Armen und brüllte, dass die deutschen freien Wahlen der Zwanziger- und Dreißigerjahre dem Land nur Hitler und den Zweiten Weltkrieg beschert hätten. Ob Wismach und die Zuhörer denn noch einmal diesen Weg gehen wollten?
Nein, nein«, rief eine Minderheit loyaler Parteianhänger in der Menge. Bei jeder weiteren Widerlegung seitens Ulbrichts und seiner Aufforderung an die Menge, ihn zu unterstützen, feuerte die Gruppe den SED-Chef mit ihren Zurufen stärker an.
Andere Arbeiter, die möglicherweise Wismachs Meinung teilten – vermutlich die Mehrheit —, schwiegen. Ihnen war klar, dass ihnen andernfalls dieselbe Strafe drohte, die ihren vorlauten Kollegen mit Sicherheit erwartete.
Der einsame Zwischenrufer glaube, er zeige besonderen Mut, geiferte Ulbricht gehässig. Er solle doch den Mut beweisen, den deutschen Militarismus zu bekämpfen!
Die Parteigenossen jubelten erneut.
»Wer immer freie Wahlen unterstützt, unterstützt auch Hitlers Generäle!«, rief ein knallroter Ulbricht.
Die Menge klatschte ein letztes Mal Beifall, während Ulbricht aus der Halle stürmte.
Am nächsten Tag fragten Parteifunktionäre Wismach unter anderem nach einer möglichen Zugehörigkeit zu westlichen Menschenhandels- oder Spionageorganisationen. Er wurde gezwungen, einen Widerruf seines Ausbruchs zu unterschreiben, und musste sich mit einer Lohnkürzung und Zurückstufung einverstanden erklären, die er lediglich durch harte Arbeit und »politisches Bewusstsein« wieder rückgängig machen konnte.
Wismach flüchtete kurz danach mit Frau und Kind aus Ostberlin. Er war einer der Letzten, die ohne größere Schwierigkeiten die Grenze passierten.54